16
Lane nieste. Ritchfield scharrte. Cordelia schnupperte, Ramses kaute nervös. Cloud durchstöberte das Stroh. Das Winterlamm stand im Schatten unter der Heuraufe, etwas abseits von den anderen, sehr wach und sehr still. Das schweigsamste Schaf der Herde warf einen langen Schatten. Zu viel Mondlicht floss durch das leere Fenster über ihren Köpfen und zeichnete ein bleiches Viereck um Miss Maple.
Kein Schaf schlief mehr. Draußen war es zu still. Viel zu still. Diese Stille konnte sogar Sir Ritchfield hören. Die Stille war durch Ritzen und Fugen gekrochen und hatte sie aufgeweckt, eines nach dem anderen. Der Schuppen kam ihnen auf einmal sehr dünnwandig vor.
Dann, als hätten sie daraufgewartet, kroch ein Geräusch um den Heuschuppen: ein Knirschen und Schleifen und Atmen. Ein Geräusch wie in Maples Traum.
»Glaubt ihr, das ist...«, hauchte Cordelia.
Lane, Cloud und Ramses nickten.
»Erst haben sie Rebecca weggelockt, und jetzt...«, flüsterte Lane.
Das Knirschen näherte sich langsam der Heuschuppentür.
»Wir rennen ihn um!«, flüsterte Ramses. »Sofort! An der Tür! Alle zusammen!«
Es war gar keine so schlechte Idee. Vor allem war es die einzige Idee.
Die Schafe ballten sich stumm und entschlossen hinter der Tür zusammen, alle, auch Willow und das schweigsamste Schaf. Sogar das Winterlamm.
Ehe sich Ramses versah, stand er in der Mitte einer zum Angriff entschlossenen Herde.
»Wirklich?«, flüsterte er. »Glaubt ihr? Was, wenn...? Wann?«
»Jetzt!«, blökte Cloud und schüttelte verwegen ihre Wolle.
Sir Ritchfield verstand nicht viel von der ganzen Aufregung, aber er verstand genug vom Herdendasein, um sich mit den anderen zusammenzuballen und mit den anderen loszuspringen. Wenn alle etwas taten, war es gut! Eine Berührung an seiner Flanke verriet ihm, dass Melmoth neben ihm war, stark und schön und grau, die Hörner zum Angriff gesenkt. Auch Ritchfield senkte die Hörner. Etwas in ihm sang.
Cloud vor ihm bremste, und Ritchfield wurde vom Schaf hinter sich auf ihren wolligen Rücken geschoben. Es war ihm etwas peinlich. Alle Schafe blökten, so laut, dass er sie gut hören konnte. Hinter ihm blökten sie »Angriff« und »Alle zusammen!« und »Heu!« und was ihnen sonst noch Ermutigendes einfiel, aber vor ihm blökten sie »Oh!« und »Ach!« und »Ach so!«.
Dann waren sie alle still und sagten gar nichts mehr. Das fremde Schaf stand in der Tür des Heuschuppens. Im Mondlicht sah es noch größer aus, noch ungeschorener und steinartiger - und sehr weise.
»Aube!«, blökte es freundlich, dann trabte es an ihnen vorbei und begann, in einer gemütlichen Ecke des Heuschuppens zu dösen. Normalerweise wäre ihnen der strenge Geruch des Fremden auf die Nerven gegangen, aber heute kam er ihnen beruhigend vor. Es war ein bisschen so, als ob das Mondschaf sie beschützen würde. Die Schafe zogen sich erleichtert von der Tür zurück und entspannten sich - bis erneut ein Knirschen und Knacken um den Heuschuppen zog.
»Angriff!«, blökte Ramses wieder. Die anderen ballten sich in bewährter Manier am Heuschuppeneingang zusammen. Der fremde Widder hatte die Augen wieder geöffnet und sah ihnen mit sanftem Amüsement zu.
»Wolle!«, blökte Cloud. Die anderen blökten »Heu!« und »Herde!«, »Futter!« und »Gras!« und »Lamm!« und andere gute Dinge.
Heathcliff blökte »George!«.
Ritchfield blökte »Sommer!«.
Miss Maple in der ersten Reihe blökte »Stopp!«.
»Ihr seid noch wach?«, fragte Othello in der Tür des Heuschuppens, schwarz und mondlichtschwer, Eis im Fell und ein Glitzern in den Augen.
Später, als der Mond schon etwas voller geworden war, standen die Schafe noch immer hellwach im Stroh und staunten stumm über das, was Othello ihnen erzählt hatte. Zersplitternde Aste und Spaziergänger, die keine waren, zwei Rebeccas, Tiere mit Augen aus Glas, das Schaf vom Grunde, ein barfüßiger Geist und der Häher, der ins Wasser gepisst hatte.
»Er ist verrückt«, murmelte Cordelia und schauderte.
»Er ist der Garou!«, blökte Lane. »Er muss es sein!«
»Der Garou! Der Garou!«, blökten die Schafe. Lane hatte Recht! Ins Wasser pissen - das war genauso wie Rehe reißen und sie nicht zu fressen. Falsch und krank.
»Er hat viele Gesichter«, sagte Othello. »Er macht Gesichter!«
Er sah wieder den Häher vor der Wand aus Gesichtern, die er schön fand. Aber der Häher hatte nicht Recht: ein neues Gesicht war eben nicht ein neues Leben. Ein neues Gesicht war nur ein neues Versteck.
»Der Garou! Der Garou!«, blökten die Schafe weiter, halb aus Grusel, halb aus Erleichterung, dass sie endlich wussten, wie der Garou aussah. Und dass er ein bisschen hinkte.
»Er ist nicht der Garou!«, sagte Miss Maple. »Er kann nicht der Garou sein!«
»Der Garou!«, blökten die Schafe stur weiter. Immer, wenn sie etwas verstanden hatten, kam Maple und brachte die Sachen wieder durcheinander.
»Er kann nicht der Garou sein!«, wiederholte Maple hartnäckig.
»Warum denn nicht?«, blökte Ramses gereizt.
»Wegen dem Silber! Er hat Rebecca eine Karte aus Silber gegeben, erinnert ihr euch? Wenn er der Garou ist, warum hat er ihr dann ein Silber gegeben? Wenn er der Garou wäre, hätte er Angst vor dem Silber.«
»Vielleicht stimmt das mit dem Silber gar nicht«, sagte Lane. »Vielleicht spinnt die kleine Ziege ja!«
»Die kleine Ziege spinnt!«, blökten Ramses, Cloud und Cordelia im Chor.
»Aber Mopple hat sich daran erinnert!«, sagte Maple.
Das Blöken verstummte. Ziegen hin oder her - wenn sich Mopple an etwas erinnerte, dann stimmte es. Und irgendwie machte die Tatsache, dass Mopple nicht zurückgekehrt war, seine Erinnerungen noch wichtiger.
»Wenn der Häher nicht der Garou ist, dann ist er etwas anderes!«, sagte Othello. »Er hat Angst vor der Polizei. Er wollte keine Schafe im Schloss.«
Einige Schafe blökten empört.
»Und trotzdem hat er uns nicht verjagt. Er wollte nicht, dass Rebecca uns sieht und zurück zur Weide bringt. Er wollte, dass Rebecca irgendetwas nicht sieht. Etwas Wichtiges. Etwas, das passiert ist. Ist etwas passiert?«
Die Schafe überlegten.
»Das Auto!«, blökte Cordelia. »Das Auto ist passiert!« »Und Tess...«, murmelte Lane leise.
Sie erzählten Othello von dem heimlichen Auto und dem unheimlichen Mann im Turm. Dem Mann, den niemand hatte kommen sehen. Nur sie.
»Gibt es wirklich Blumen im Schloss?«, fragte Cordelia.
Othello nickte. »Blumen und Feuer. Und viel zu viele alte Dinge, die überall herumstehen. Es ist kein Ort für ein Schaf.«
»Vielleicht sollten wir das Schaf vom Grunde befreien?«, fragte Ramses, noch immer ein bisschen kühn von seinem kurzen Ausflug ins Leitwidderleben.
»Das Schaf vom Grunde kann man nicht befreien«, sagte Othello. »Man kann es nur treffen. Ich glaube, es lebt unter Wasser.«
»Wie ein Krokodil?«, fragte Heathcliff, der gut aufgepasst hatte.
Othello nickte. »Ein bisschen.«
»Und es ist ein schwarzer Widder, wie du?«, fragte Lane. Othello nickte.
Cloud räusperte sich. Es war nicht einfach, einem so erfahrenen Leitwidder zu widersprechen. Othello kannte die Welt und den Zoo und sogar Krokodile. Und trotzdem...
»Ich glaube, das Schaf vom Grunde ist weiß«, sagte sie vorsichtig, »und sehr wollig.« Cloud hatte noch nie zuvor darüber nachgedacht, aber soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie immer nur ein sehr wolliges Schaf im Wasser gesehen. Ein schwarzer vierhörniger Widder wie Othello wäre ihr aufgefallen.
»Nein«, sagte Othello. »Sicher nicht.«
»Ich... ich glaube, das Schaf vom Grunde ist klein und zottig wie ich!«, blökte das Winterlamm. »Ich heiße Heathcliff«, fügte es hinzu. »Und ich glaube, das Schaf vom Grunde heißt auch Heathcliff«
Die Schafe verdrehten die Augen. Das Schaf vom Grunde - so eine kleine, struppige Gestalt? Lächerlich!
»Das Schaf vom Grunde ist weiß und hübsch!«, blökte Cordelia.
Plötzlich wussten alle Schafe etwas über das Schaf vom Grunde und blökten wild durcheinander.
Othello schwieg überrascht. Melmoth der Graue hatte ihm vor langer Zeit das Schaf vom Grunde gezeigt, das die meisten Schafe gar nicht beachteten, und Othello war immer ein wenig stolz darauf gewesen, dass es ein schwarzer Vierhornwidder war, genau wie er. Aber auf einmal schien die Sache nicht mehr so klar zu sein.
Draußen auf der Weide platschte etwas. Es klang nicht wie der Garou, eher wie eine faule Aprikose, die vom Baum fiel. Die Schafe äugten mutig nach draußen. Die Weide sah unnatürlich hell aus im Mondlicht, und vor dem Schäferwagen im Schnee saß Mama auf ihrem Hinterteil. »Hoppla!«, sagte sie.
Sie versuchte aufzustehen, schaffte es nicht und kicherte.
»Na, dann wollen wir mal sehen«, sagte sie und zog etwas aus der Tasche. Was, das konnten die Schafe aus der Entfernung zuerst nicht so genau erkennen.
»Der Magier!«, sagte Mama. »Dieser Schnösel! Ich kann diesen Schnösel nicht ausstehen! Eines Tages ersetze ich ihn auch durch den Teufel! 75 Prozent, das soll mir mal einer nachmachen, und an allem ist der Teufel schuld!«
Anscheinend war Mama wieder mit ihren Karten beschäftigt. Die Schafe verstanden, was passierte: Humbug. Humbug draußen vor dem Schäferwagen! Endlich konnten sie zusehen!
»Der Teufel ist schuld!«, flüsterte Cordelia. »Ich glaube, wir müssen den Teufel fressen!«
Die anderen nickten.
»Drei«, sagte Lane. »Drei Teufel! Sie können nicht alle an allem schuld sein.«
»Aber jeder an ein bisschen was!«, sagte Cloud.
»Der Narr!«, sagte Mama unten am Schäferwagen und legte eine zweite Karte in den Schnee. »Läuft so einfach über die Klippen! Was denkt er, was er ist - ein Vogel? Glaubst du, ich hätte mir das nicht auch überlegt, ab und zu, George? Ein Schluck aus der richtigen Flasche, und sie können ihren Mist alleine machen, ha! Aber ich hatte immer genügend Liebe, die mich ans Leben gebunden hat. Liebe bindet einen ans Leben, ob man will oder nicht... und ich wollte nicht immer... bilde dir bloß nicht ein, dass ich immer gewollt hätte ... und dass du sie nicht gehabt hast, das ist... du hättest sie haben sollen .. .du hättest es verdient gehabt!«
Mama schluchzte.
Sie tastete in ihrer Kleidung nach einem Taschentuch, fand eins und schnauzte.
Dann blickte sie auf. Vor ihr stand Rebecca, schweigend, mit verschränkten Armen.
»Ganz der Vater«, sagte Mama und lächelte wieder.
»Ich glaub's nicht«, sagte Rebecca. »Ich hatte ihm doch... Komm aus dem Schnee! Wie lange sitzt du hier denn schon? Heiliger Strohsack!«
Der heilige Strohsack war ein ganz besonderer Strohsack, der von Rebecca nur bei wichtigen Gelegenheiten angerufen wurde. Die Schafe hatten ihn noch nie gesehen, aber sie konnten ihn sich sehr gut vorstellen: prall und groß und golden und duftig.
Rebecca zog Mama aus dem Schnee. Es war gar nicht so einfach. Mama schwankte nach links und nach rechts und schien die ganze Sache nicht sonderlich ernst zu nehmen.
Endlich gelang es Rebecca doch, die leise singende Mama irgendwie die Stufen hinaufzubefördern.
»Ich mach Tee!«, sagte Rebecca. »Wo ist Tess?«
»Im Himmel!«, krakeelte Mama aus dem Schäferwagen.
»Unsinn!«, sagte Rebecca, kam wieder die Stufen herunter und stieß den hohen, lockenden Vogelpfiff aus, den Tess besonders mochte. Aber Tess kam nicht.
»Tess?«, rief Rebecca. »Tess Tess Tess!«
Sie leuchtete mit einem Licht über die Weide, Richtung Hof, Richtung Schrank und Richtung Heuschuppen, und dann, endlich, leuchtete sie auch unter den Schäferwagen.
»Da bist du!«, sagte Rebecca. »Tess, Mädchen!«
Dann sagte sie eine ganze Weile lang gar nichts mehr.
Rebecca zog Tess unter dem Schäferwagen hervor, legte sie in ihren Schoß und streichelte ihr das Fell, schwarz und weiß, schwarz und blau im Mondlicht. Sie streichelte Tess eine lange Zeit.
Dann stand sie auf und ging mit der Schäferhündin im Arm die Stufen hinauf.
»Ich brauch die Nummer!«, sagte sie. »Wo ist die Nummer!« Es klang wie ein Schrei.
»Die Nummer gegen Kummer?«, fragte Mama.
»Nein«, sagte Rebecca mit erstickter Stimme. »Leider nicht! Die Nummer von diesem Inspektor! Ich ruf ihn an! Ich ruf ihn sofort an! Sie war kerngesund heute Morgen. Kerngesund! Jemand hat sie vergiftet! Ich weiß einfach, dass sie jemand vergiftet hat!«
Die Tür des Schäferwagens schlug zu.
Die Schafe standen im Eingang des Heuschuppens. Sie hatten noch nicht wirklich angefangen, Tess zu vermissen. Nachts gab es keine Tess. Tess gab es nur am Tage, mit Klappohren und heller Hundestimme und sehr viel Freude im Körper, vor allem in ihrer Schwanzspitze. Das Wunderbarste an Tess war, dass George immer ein bisschen bei ihr war. Wenn Tess sie hütete, konnten die Schafe ihn sehen, eine schemenhafte Gestalt am Rande der Weide, mit Schäferhut und Stock und einem Lächeln, das sie spüren konnten.
Morgen früh würden sie Tess ganz schrecklich vermissen.
»Ob sie wirklich vergiftet wurde?«, fragte Cordelia.
»Und von wem?«, fragte Lane.
»Dem Garou!«, blökte Ramses schrill.
»Unsinn«, sagte Cloud. »Wölfe beißen. Sie vergiften nicht.«
»Vielleicht doch!«, sagte Maple plötzlich. »Vielleicht hat der Garou Angst vor Hunden! Vielleicht hat er Tess vergiftet, damit niemand mehr auf uns aufpasst!«
Es war ein beunruhigender Gedanke. Nicht alle Schafe trauten sich, ihn zu Ende zu denken, aber manche dann doch.
»Wir wissen, wer Angst vor Hunden hat!«, sagte Lane langsam.
»Der Häher! Der Häher!«, blökten Cordelia und Cloud im Chor.
»Ja«, sagte Maple. »Aber der Häher hat keine Angst vor Silber.«
Maple dachte an das Silber in den behandschuhten Händen des Hähers, und dann musste sie auf einmal an Rebeccas streichelnde Hände denken.
Hände.
Hände waren das Problem.
Die Menschen glaubten, dass sie mehr dachten als andere Wesen. Das war ein Irrtum. Auch Schafe dachten ohne Unterlass, tiefe, wollige Schafsgedanken. Aber Menschen hatten Hände, um nach ihren Gedanken zu greifen, sie festzuhalten, zu formen, sie aus der wolkigen Gedankenwelt hinüberzuzerren auf die Weide des Lebens, sie aufzuschreiben und weiterzureichen, von Kopf zu Kopf und Hand zu Hand. Der Garou war ein Gedanke, den jemand geformt hatte. Aber warum? Und wozu?
»Was ist, wenn es gar keinen Garou gibt?«
Viele Schafsaugen hefteten sich auf Maple, die wieder in ihrem Lichtfleck stand und selbst ein bisschen wie das Mondschaf aussah.
»Keinen Garou?«
Maple trat auf ihre Herde zu, aus dem Licht in den Schatten.
»Erinnert ihr euch an das, was Othello von dem Spaziergänger erzählt hat? Von dem Reh, das er bluten lassen wollte? Und an so einem dummen Ort, wo es bestimmt jemand findet! Vielleicht wollte er, dass es gefunden wird. Vielleicht wollte er, dass die Leute glauben, es gäbe einen Garou! Ich habe zuerst gedacht, dass der Garou ein Mensch ist, der Wolf spielt. Aber jetzt glaube ich, dass ein Mensch Garou spielt.«
»Warum sollte jemand Garou spielen wollen?«, fragte Lane. »Das ist ein doofes Spiel!«
»Vielleicht macht es Spaß«, sagte Heathcliff.
»Spaß!« Die anderen sahen Heathcliff böse an.
Heathcliff guckte ein bisschen verlegen. »Leitwidder spielen macht Spaß. Ziege spielen macht Spaß .Vielleicht macht Garou spielen ja auch Spaß.«
Er dachte einen Moment lang nach.
»Wenn man der Wolf ist, muss man vor dem Wolf keine Angst mehr haben, oder?«, sagte er leise.
Maple begann, konzentriert auf und ab zu traben, so wie es wahrscheinlich nur das klügste Schaf Europas und vielleicht der Welt konnte.
»Die Männer wollen, dass es so aussieht, als gäbe es einen Garou. Warum? Weil man den Garou nicht fangen kann - und die Polizei schon gar nicht! Sie erfinden eine Geschichte, und dann lassen sie es so aussehen, als wäre sie wirklich. Die Männer wollen dem Garou etwas unterschieben! Aber was - oder wen?«
»Yves?«, fragte Cloud.
»Vielleicht«, sagte Miss Maple.
Mopple wusste nicht mehr, wie er in den Wald hineingeraten war. Auf einmal war er wieder draußen vor dem Schloss gestanden, und ein Steintier hatte ihn erschreckt, flackernd und lebendig im Mondlicht. Und jetzt? Bäume, viel zu viele. Bäume und ein fernes Heulen. Und zwischen den Bäumen lag etwas Dunkles im Schnee und atmete.
Es dauerte einen Moment, bis Mopple verstand, dass das Reh nur schlief, schlank und heil und mondbeschienen. Trotzdem stimmte etwas nicht. Kein Schaf würde so schlafen, lang gestreckt und hilflos am Boden, und ein wildes Waldtier wie ein Reh ganz gewiss nicht.
Etwas raschelte zwischen den Bäumen, und Mopple fuhr herum.
»Zora?«, fragte er.
Mopple wurde warm in der Brust. Da stand tatsächlich Zora, mit ihren schönen Hörnern und ihrem schwarzen Gesicht und großen weiten Augen.Vielleicht war sie in den Wald gekommen, um ihn zu suchen!
Mopple wollte gerade glücklich aus seinem Gebüsch hervortraben, als Zora entsetzt herumfuhr, strauchelte, sich wieder aufrappelte und in wilder Flucht davonstürzte.
Im gleichen Moment brach schräg hinter Mopple etwas Großes aus dem Dickicht und jagte mit weiten Sprüngen hinter Zora her.
Zora rannte.
Hatte sie wirklich gerade Mopple gesehen? Mopple, der dick und rund und freundlich war und so kurzsichtig, dass er nachts die Sterne nicht sehen konnte? Mopple the Whale im Dann dachte Zora nicht mehr zurück, nur voran, in Windeseile.
Zuerst tat es gar nicht weh. Nur ein plötzliches Wegsacken ihres Hufes beim Herumwirbeln und ein seltsamer Winkel, doch schon nach ein paar Sprüngen merkte Zora, dass mit ihrem Bein etwas nicht stimmte. Bei jedem Schritt gab es unter ihrem Gewicht ein wenig nach, und ein kleiner Schmerz stach tief in ihren Huf. Alles war auf einmal sehr laut, dann sehr leise. Die Bäume rückten dichter um sie zusammen, wisperten und verschwammen vor ihren Augen. Zora hörte Galopp, direkt auf sie zu, und es dauerte eine Weile, bis sie verstand, dass es ihr eigenes Herz war, das da galoppierte.
Zora blieb an einer Wurzel hängen, strauchelte und stürzte. Sie rappelte sich mühsam hoch und wollte weiterhinken, sinnlos durchs Dickicht, immer weiter, nur weg von den bodenlosen Schatten unter den Bäumen, den samtigen, kaum hörbaren Schritten und dem langen, lauernden Schweigen dazwischen. Sie würde sich wieder verheddern, sie würde wieder fallen, und sie würde - hoffentlich - wieder aufstehen.
Dann, auf einmal, hörte Zora unter ihrem hämmernden Herzen einen anderen Herzschlag, leise wie ein Gedanke, aber bestimmt. Ruhig. Regelmäßig. Unbeirrt wie ein Schaf, das mit sicheren Schritten am Abgrund entlangläuft, dem Leben entgegen.
Warte, sagte der Herzschlag. Atme. Wittere. Wir sind zwei. Zora atmete. Ein Ast knackte, nicht weit von ihr. Zora wartete. Nahm einen weiteren, tiefen Atemzug. Sie waren zwei.
Wald?
Deswegen mussten sie entkommen. Sie, Zora, musste für sie beide entkommen. Die Panik floss aus ihren Hufen und versickerte im kalten Waldboden. Auch der Schmerz verschwand. Der Wolf war hinter ihr her, der Garou, und Zora würde mehr als nur vier panische Beine brauchen, um ihm zu entkommen. Sie würde ihre Nase brauchen, ihre Augen und Ohren, ihren Kopf, ihr Herz und wenn nötig eben auch ihre Hörner. Denn sie waren zwei.
Zora lauschte. Das Knacken hatte aufgehört. Irgendwo in der Nähe stand der Garou, und auch er lauschte - auf ein Schaf, das halb verrückt vor Angst durchs Dickicht brach. Zora wich einige vorsichtige Schritte zurück, tiefer in die Schatten. Sie witterte. Warum witterte der Garou nicht? Er musste sich doch nur einfach an ihre unmissverständlich panische Geruchsspur halten.
Zora senkte furchtlos ihre eleganten Hörner und wartete.
Erst als die ersten Strahlen fahlen Morgenlichts auf die Schafe herabtroffen, merkten sie, dass sie doch geschlafen haben mussten, tief und fest, dicht aneinandergeschmiegt, der Ungeschorene mitten unter ihnen.
»Die Sonne!«, sagte der Ungeschorene jetzt und trabte zu einem frühen goldenen Sonnenfleck im Stroh. Es war das erste Mal, dass er etwas Vernünftiges sagte. Die Schafe verstanden ihn gut. Die Sonne hatte wieder einmal die Nacht vertrieben und wärmte die Welt wie ein Mutterschaf. Es passierte jeden Tag, und dennoch war es ein großes Wunder. Vor allem im Winter.
Wie so oft ballten sie sich dicht vor dem Heuschuppen zusammen, um dem Sonnenschaf bei seinen ersten vorsichtigen Schritten über den Himmel zuzusehen.
Rebecca war schon wach - oder, ihrer Blässe nach zu urteilen, war sie noch wach -, stand an die Tür des Schäferwagens gelehnt und rauchte.
Morgennebel hing über dem kleinen Bach, und die Weide sah schön aus. Gleich nachdem Rebecca mit ihrer Zigarette fertig war, ging sie zur Futterkammer und teilte ordentlich Kraftfutter aus. Die Schafe konnten ihr Glück kaum fassen.
»Ich passe auf euch auf«, sagte Rebecca leise. »Diesmal passe ich auf«
Sie wollte gerade wieder ihren Zeigefinger ausfahren, um die Schafe zu zählen, als sich neben ihr jemand räusperte. Rebecca und die Schafe zuckten zusammen. Sie waren so mit Füttern und Gefüttert-Werden beschäftigt gewesen, dass sie den Menschen, der im Morgennebel neben Rebecca aufgetaucht war, gar nicht bemerkt hatten.
»Guten Morgen, Mademoiselle«, sagte Malonchot. »Ich bin gleich gekommen. Die Sache tut mir sehr leid.«
»Wollen Sie sie sehen?«, fragte Rebecca.
»Ich würde sie gerne mitnehmen«, sagte Malonchot. »Ich fahre sie beim Tierarzt vorbei, und dann kann der mir hoffentlich sagen, woran sie gestorben ist. Ich fürchte, ich kann unsere Forensik nicht für einen toten Hund begeistern. Der Fall ist zu alt und - wie die Kollegen meinen - zu kalt. Sie wollen nicht schon wieder für ein Tier ausrücken.«
Rebecca seufzte. »Na gut«, sagte sie dann.
»Was ich noch gerne wissen würde, ist: war sie die ganze Zeit bei Ihnen? Wer hätte Gelegenheit gehabt, ihr etwas zu geben?«, fragte Malonchot.
Rebecca nickte. »Das habe ich mich auch schon gefragt. Die Sache ist die: Mama hat sie gestern zu Madame Fronsac gebracht, als sie duschen gegangen ist. Wir duschen im Gästehaus des Schlosses, wo im Sommer die Touristen untergebracht sind. Und Madame Fronsac ist dort meistens in der Küche, und vor der Küche gibt es einen Vorraum, und dort kommt Tess hin, und da ist sie immer ganz zufrieden. War - war sie zufrieden. Aber jeder kann in diesen Vorraum, jeder. Und ich weiß, dass die Madame nicht die ganze Zeit bei ihr war. Und alles wegen der blöden Sache mit den Klamotten. Es tut mir so leid.«
Rebeccas Augen glitzerten nass.
»Und sie hätte von Fremden Futter genommen?«
»Oh ja«, seufzte Rebecca.
»Ich sehe, was ich tun kann«, sagte Malonchot.
Er zückte eine Tafel Nussschokolade und bot sie Rebecca an. Diesmal brach sich die Schäferin ein ordentliches Stück ab.
»Ich bin auch hierhergekommen, weil ich eine Idee hatte«, sagte er. »Genau genommen zwei. So was kommt vor.«
Rebecca nickte und kaute.
Der große Inspektor drehte sein Gesicht der Sonne zu und blinzelte.
»Ich habe eine Freundin«, begann er. »Eine kluge Frau.« Rebecca hörte auf zu kauen.
»Sie ist Kunstkritikerin, mit einer Galerie in Mauriac. Wenn Sie einmal nach Mauriac kommen, sollten Sie sich die mal ansehen, Mademoiselle, wirklich sehr schön.«
Rebecca kaute weiter.
»Gestern hat sie mich überraschend besucht. Nicht wirklich überraschend, aber überraschend genug, und ich hatte gerade die Bilder von hier auf dem Tisch liegen. Tatortfotos. Von jetzt und von früher. Und sie kam herein, und das Erste, was sie sagte, war >magnifique<. Magnifique! Ich war natürlich überrascht, aber dann habe ich verstanden, dass sie gar keine Tatorte gesehen hat, nur Bilder. Und sie fand die Bilder sehr schön. Alle bis auf eines. Das Reh, das Sie gefunden haben, Mademoiselle, fand sie >null<. Und sie war sich sicher, dass es eine Fälschung ist. Nicht vom selben Künstler.«
Rebecca schluckte den letzten Bissen Schokolade hinunter und nickte.
»Seitdem habe ich verschiedene Überlegungen angestellt. Einmal glaube ich, dass Ihr Reh tatsächlich nicht vom selben >Künstler< ist. Eine Kopie. Es gab auch einige andere Sachen, über die ich mich gewundert hatte: der Fundort - so exponiert am Waldrand. Sehr untypisch. Und dieses Reh wurde mit einer Drahtschlinge gefangen. Die Originale nicht, das kann ich mit ziemlicher Sicherheit sagen. Soweit wir wissen, wurden die Originale alle zu Tode gehetzt.«
»Gehetzt?«, fragte Rebecca. »Die Rehe? Mein Gott!«
»Und dann hat meine Freundin gefragt >Wo stellt er aus?<, und ich habe gesagt >nirgends<, und im selben Moment habe ich gewusst, dass das stimmt. Das Original stellt nicht aus. Die Tatorte sind geschützt. Abgeschieden. Orte, wie sie ein Tier aussuchen würde. Bis auf die Schafherde. Ich nehme an, Sie haben von der Schafherde gehört?«
Rebecca nickte.
»Aber«, Malonchot zückte wieder die Schokoladentafel, »ich habe das Gefühl, dass der Kopist ausstellt.« »Brrrr«, sagte Rebecca.
»Ich möchte Ihnen keine Angst machen«, sagte Malonchot. »Ich erzähle Ihnen das, Mademoiselle, weil ich glaube, dass Sie und Ihre Tiere sehr attraktive Opfer sind - sowohl für das Original als auch für den Kopisten, und nun, nach der Sache mit dem Hund... Ich finde, Sie müssen wissen, dass es so etwas wie einen Fälscher gibt. Eine Gefahr von zwei Seiten.«
Rebecca nickte bleich. »Okay.«
Lane schüttelte den Kopf. »Manchmal hört man ihnen zu und versteht kein Wort. Kein einziges!«
»Hmm«, sagte Miss Maple. »Ich glaube, er hat auch herausgefunden, dass jemand Garou spielt. Und nicht nur das: er sagt, dass es zwei Garous gibt, einen echten und einen falschen. Und ich glaube, er hat Recht.«
Malonchot lächelte und küsste Rebecca die Hand.
»Ich würde Sie gerne für einen Plan gewinnen, Mademoiselle!«
Ein Sprechgerät schrillte über die Weide. Der Inspektor und die Schäferin sahen sich erwartungsvoll an. »Ist das Ihres?«, fragte Malonchot.