21

 

Der nächste Tag war ein großer Tag. Man konnte es wittern. Groß und seltsam. Die Sonne schien nicht. Es schneite nicht. Der Wind blies. Der Himmel war wie das scheckige Fell eines Wolfhundes, dunkel, unruhig und gezaust. Aufregung lag in der Luft, Krähen kreisten über dem Wald. Ein schwarzes Huhn hatte sich auf die Weide verirrt und rannte mit panischem Blick zwischen den Schafen auf und ab.

Die Schafe waren früh auf den Beinen und probten.

Lane war Lane, und Mopple war der Garou. Die anderen gaben gute Ratschläge.

Lane musste lernen, vor dem Garou wegzulaufen.

Mopple musste versuchen, Lane zu fangen.

Bisher hatten beide noch keine großen Erfolge erzielt. Mopple trabte halbherzig auf Lane zu, Lane hinkte ein paar Schritte, und wenn sie sah, dass Mopple ihr nicht folgte, blieb sie wieder stehen.

Mopple erschrak vor dem schwarzen Huhn.

»So geht es nicht!«, seufzte Othello. »Du bist der Garou! Du musst sie jagen! Wie soll sie richtig weglaufen, wenn du sie nicht richtig jagst?«

»Jagen?« Mopple schielte sehnsüchtig nach unten, wo unter einer Schneeschicht das Wintergras darauf wartete, abgeweidet zu werden.

»Jagen, fangen und fressen«, erklärte Othello.

Mopple sah Othello angewidert an. »Ich will sie ja gar nicht fressen«, sagte er.

»Doch. Du willst! Du bist der Wolf«

»Ich will nicht.« Mopple blieb stur.

»Du willst sie fressen wie Gras!«

»Wie Gras?«, fragte Mopple interessiert.

»Stell dir vor, da ist gar nicht Lane, sondern ein Büschel Gras!«

»Sommergras?«

»Sommergras und Süßkraut zusammen! Aber es hat Augen, um dich zu sehen, und Beine, um wegzulaufen. Und es will nicht gefressen werden.«

»Das hilft ihm gar nichts«, sagte Mopple entschieden. »Wenn es Sommergras ist, kriege ich es! Ich warte im Schatten, ich warte ganz still, wie ein Strauch, wie ein Stein, mit stillem Atem. Ich warte und gucke wie ein Vogel, mit scharfen blanken Augen. Ich sehe nur das Gras und höre nur das Gras und denke nur das Gras, und dann kommt ein Moment, der richtige Moment, und ich renne los...«

Ehe sich die Schafe versahen, war Mopple unter der Eiche hervorgeprescht und biss Lane kräftig ins Hinterteil.

Lane blökte vor Schmerz und Überraschung und keilte nach Mopple.

Mopple rupfte.

Lane rannte los.

Die Ziegen feixten.

Und am Weidezaun lehnte der Häher und starrte mit mildem Interesse zu ihnen hinüber.

Die Schafe standen ertappt in der Gegend herum.

Der Häher öffnete das Weidetor. Er sah anders aus als sonst. Grüner. Grüner Hut und grüner Mantel. Grüne Stiefel. Einen Moment lang standen die Schafe starr vor Entsetzen, dann flüchteten sie möglichst unauffällig in den entlegensten Winkel der Weide und beobachteten von dort, wie der Häher an die Schäferwagentür klopfte.

Er hielt etwas hinter seinem Rücken versteckt.

Vidocq im Schäferwagen wuffte, und der Häher trat überrascht einige Schritte zurück.

Rebecca steckte den Kopf aus der Tür und lächelte.

»Ich habe eine Überraschung für dich!«, sagte der Häher und zog ein längliches Paket hinter seinem Rücken hervor. »Eigentlich zwei!«

»Uii!«, quietschte Rebecca. »Komm rein!«

»Lieber nicht«, sagte der Häher mit einem nervösen Blick auf die Tür.

»Okay«, sagte Rebecca. »Ich komm raus. Einen Moment noch!«

Die Schafe standen auf der Weide herum und wussten nicht weiter. So war es nicht gedacht gewesen. Der Häher sollte nicht Rebecca überraschen, sondern geifernd hinter Lane herjagen, bis zur alten Eiche. Und dann sollte er in die Luft fliegen.

 

»Wunderschön«, sagte Rebecca, als sie das Paket des Hähers nach langem »Ach!« und »Oh!« endlich geöffnet hatte und etwas Rotes zum Vorschein gekommen war. »Danke, Maurice!«

»Das ist ja wohl das Mindeste, nach der unschönen Sache mit deiner Kleidung.«

»Und so weiche Wolle«, sagte Rebecca.

»Kaschmir«, korrigierte der Häher. »Kaschmir stammt von Ziegen. Weicher als jede Wolle!«

»Pah!«, blökte Cloud oben am Hang verächtlich.

Die Schafe guckten feindselig hinunter auf den Häher und das rote Ziegendings.

»Wir müssen ihn loswerden!«, murmelte Heide. Es war nicht klar, ob sie den Häher oder den Ziegenmantel meinte.

»Eine tolle Überraschung jedenfalls!«, sagte Rebecca unten am Schäferwagen. »Ich zieh ihn gleich an!«

»Oh«, sagte der Häher. »Das ist erst der erste Teil. Komm, wir machen einen Spaziergang, ja?«

»Jetzt?«, fragte Rebecca.

»Jetzt!«, sagte der Häher.

»Jetzt!«, blökte Maple aufgeregt. »Versteht ihr? Es passiert jetzt! Er lockt sie von Vidocq weg! Sie gehen in den Wald und - haps! Weiß und rot!« Maple konnte es genau vor sich sehen - zu genau.

»Wir müssen hinterher!«, blökte sie. »Mit Lane und der Ziege und dem Springdings! Wir müssen ihn erwischen, bevor er sie erwischt!«

»Wir können den Baum nicht mitnehmen!«, wandte Maude ein.

»Ach was! Wir nehmen einen anderen Baum!«, schnaubte Maple ungeduldig. »Im Wald wimmelt es von Bäumen! Wir müssen nur den richtigen finden, und Lane muss ihn hinlocken, und Mopple muss sich alles merken! Schnell! Sie gehen! Jetzt!«

 

Wenig später trabte eine entschlossene kleine Schafsexpedition auf den Spuren Rebeccas und des Hähers in den Wald hinein. Vorneweg Maude mit ihrem guten Geruchssinn. Maude musste Fährten wittern - und Gefahren. Als Nächste kam Lane, das Lockschaf. Madouc, die auf einen Baum klettern sollte. Heathcliff, einen Springsatz vorsichtig zwischen den Lippen. Othello, der Leitwidder, um sie im Notfall zu verteidigen. Und als Letzter, zitternd und leise protestblökend, Mopple the Whale. Mopple war wieder ihr Gedächtnisschaf. Er hatte sich Maples Plan gemerkt, jede Einzelheit, und er würde ihnen helfen, nach erfüllter Mission wieder aus dem Wald herauszufinden. Seit Mopple die Landkarte gefressen hatte, kannte er sich besonders gut mit Wegen aus.

 

Der Ungeschorene stand lange am Weidezaun und sah der Schafsexpedition nach. Er beriet sich mit Päquerette, Gris und vor allem mit Aube. Schließlich kamen sie zu einem Entschluss. Der fremde Widder verließ die Weide und trabte hinter den anderen Schafen her, in den Wald hinein.

 

Kurz nachdem die Schafsexpedition verschwunden war, kam der Ziegenhirt durch das Hoftor. Die Ziegen meckerten, aber der Hirt hatte diesmal keinen Futtersack dabei. Nur seinen knorrigen Stock. Er stand am Rande der Weide und sog tief Luft ein, so als würde er wittern. Wittern und warten. Dann packte er seinen Stock und zog los - hinein in den Wald.

 

Auf der anderen Seite des Schlosses machten sich die beiden Spaziergänger zum Spazieren bereit, Metalldinge in ihren Taschen und Silberkugeln in den Metalldingen. Es versprach ein besonderer Spaziergang zu werden.

 

Es war nicht besonders schwierig, Rebecca und dem Häher zu folgen. Die beiden gingen langsam, nebeneinander, und Rebecca leuchtete rot zwischen den Stämmen hervor. Sie hielten sich abseits der Wege. Der Häher kannte den Wald gut. Die Schafe trabten und verharrten, äugten und witterten, und sie suchten einen Baum, auf den Madouc klettern konnte. Bisher sah es nicht besonders gut aus.

Unruhe lag in der Luft, und die Vögel waren zu still. Irgendwo bellten Hunde.

»Hast du schon mal bei einer Treibjagd mitgemacht?«, fragte der Häher.

Von Rebecca hörten die Schafe nichts. Aber vielleicht war ihre Antwort nur sehr leise.

»Es ist eigentlich ganz einfach«, erklärte der Häher. »Es gibt die Jäger und die Treiber. Die Treiber gehen in einer Kette durchs Gelände, mit oder ohne Hunde, schlagen gegen Bäume, machen Krach und scheuchen das Wild auf. Treiben es vor sich her. Und die Jäger stehen auf der anderen Seite und warten.«

»Und wie wissen die Jäger, auf was sie schießen dürfen?«, fragte Rebecca. »Ich meine: wieso treffen sie nicht die Treiber?«

»Oh, das kommt schon vor.« Der Häher lachte leise. »Nein, aber im Ernst, es ist ganz ungefährlich. Die Treiber haben alle Signalfarben an: gelb, orange, rot. Wenn man so eine Farbe sieht, schießt man nicht. Apropos...«

Der Häher machte etwas mit seinem Hut, und auf einmal sahen die Schafe einen orangefarbenen Flecken zwischen den Bäumen aufleuchten.

Rebecca kicherte. »Schick! Aber ein bisschen riskant finde ich das trotzdem.«

»Ungefährlich«, sagte der Häher. »Vollkommen ungefährlich. Hier entlang.«

Rebecca und der Häher waren nun doch auf einen Weg getroffen, einen Hohlweg, der einem kleinen Bach folgte. Links war Böschung, und rechts war Böschung, und von oben ragten Bäume über den Weg wie mahnende Finger. Die Schafe sahen den beiden nach. Nichts und niemand hätte sie dazu bewegen können, diesen Weg zu betreten.

Ein Tunnel. Eine Falle. Ein Hinterhalt. Hier gab es keine freie Sicht - und kein Entkommen.

Die Schafe trabten also oben an der Böschung entlang durchs Unterholz und spähten von dort hinunter auf den Weg, wo zwischen den schräg geneigten Stämmen immer wieder Rot und Orange aufblitzte.

»Auf so einen Stamm könnte ich klettern!«, sagte Madouc plötzlich.

Kurz darauf hatten die Schafe einen Plan.

»Was ist mit Rebecca?«, fragte Othello. »Rebecca soll nicht in die Luft fliegen!«

Die Schafe sahen sich an. Sie konnten nur hoffen, dass der Garou schneller rennen konnte als Rebecca. Viel schneller. Aber nicht so schnell wie Lane.

»Sie gehen den Hohlweg!«, sagte der kleine Spaziergänger. »Sieht so aus, als hätten wir mehr Glück als Verstand!« Der große Spaziergänger grunzte.

»Kein Kunststück für dich, ich weiß«, murmelte der kleine Spaziergänger. »Komm!«

 

»Ein Fuchs!«, dachte Rebecca.

Sie war stehen geblieben, um sich die Schuhe zu binden - alte abgewetzte Wanderstiefel, die so gar nicht zu dem feinen Kaschmirmantel passten. Aber warm waren sie.

Und dann sah sie ihn, beinahe auf Augenhöhe, rot im Gebüsch. Eine spitze Schnauze, schon etwas grau, und tiefe, gelbe Fuchsaugen. Auf der Weide hatte Rebecca nichts für Füchse übrig - aber hier im Wald kam er ihr sehr schön vor.

Rebecca warf einen Blick auf Maurice, der vor ihr den Weg entlangspazierte, vertieft in einen Monolog über die Jagd vor Erfindung der Feuerwaffen, und wahrscheinlich noch gar nicht gemerkt hatte, dass sie stehen geblieben war. Rebecca hatte für heute genug über die Jagd gehört.

Sie drehte sich um und ging auf den Fuchs zu, vorsichtig, vorsichtig. Der Fuchs sah ihr zu, und dann, als würde er einem geheimen Protokoll folgen, drehte er sich um und rannte weg, tiefer in die Hecken, die den Weg säumten. Aber sie konnte ihn noch immer sehen.

Erst als auch Rebecca ins Gebüsch trat, verschwand der Fuchs, verschwand wie ein Zauber.

Rebecca seufzte und trat zurück auf den Weg.

Aber da war kein Maurice mehr.

 

Der Häher rannte hinter dem Schaf her - er wusste selbst nicht so genau, warum. Wahrscheinlich, weil Schafe nicht in den Wald gehören. Weil es hinkte und hilflos aussah. Und weil er Rebecca eine Freude machen wollte. Rebecca würde sich wundern, wenn er mit einem von ihren Schafen zurückkehrte! Vielleicht würde sie ihm dann endlich glauben, dass er mit dem Tod des Hundes nichts zu tun hatte.

Doch plötzlich strauchelte das Schaf, stolperte und fiel. Im nächsten Moment stand es auch schon wieder, aber es rannte nicht mehr. Es wand sich und zappelte. Der Mund des Hähers war auf einmal sehr trocken. Sein Herz schlug schnell. Über ihm bewegte sich etwas. Etwas stimmte nicht. Das Schaf kämpfte verzweifelt, aber es konnte seinen Fuß nicht befreien. Er wollte einen beruhigenden Laut von sich geben, aber alles, was aus seinem Mund zu kommen schien, war ein kehliges Knurren.

 

Von oben sah der Garou komisch aus, ein orangefarbener, leuchtender Punkt, umgeben von einem grünen Rand, und unten zwei Füße, die aus dem Grün herausragten wie kurze, nutzlose Flügel.

»Jetzt!«, blökte Heathcliff.

Madouc öffnete vorsichtig die Lippen und ließ den Springsatz los.

Der Springsatz fiel und fiel und landete direkt vor dem Häher im Schnee. Pflock!

Maude, Othello, Heathcliff und Mopple oben auf der Böschung hielten den Atem an und warteten, aber nichts flog in die Luft. Nicht der Schnee, nicht der Häher, nicht einmal das Springdings selbst. Der Häher klopfte sich Schnee von seinem grünen Mantel und wollte gerade einen weiteren Schritt auf Lane zumachen, die wie verrückt an ihrer Drahtschlinge zerrte, als doch noch etwas durch die Luft flog.

Madouc.

Sie landete auf den Schultern des Hähers, und der Häher plumpste in den Schnee wie ein Futtersack.

Madouc rappelte sich wieder auf und meckerte triumphierend. Dann war sie auf einmal still und lauschte. Ihr war, als hätte sie gerade eben im Sprung das Niesen eines Metalldings gehört.

»Ein Schießeisen!«, blökte Maude oben auf der Böschung, und Madouc hörte Rascheln und Galopp. Die Schafe rannten, wie sie damals auf der Weide vor dem Schießeisen weggerannt waren. Madouc überlegte, ob sie auch wegrennen sollte.

 

»Hast du das gesehen?«, fragte der dicke Spaziergänger. »Von oben. Einfach so! Was zum Teufel ist das?«

»Ein Schaf, glaube ich«, sagte der Kleine.

»Eine Ziege«, korrigierte der Dicke. »Was fressen die eigentlich? Ich knall sie ab!«

»Mit Silberkugeln? Bist du verrückt? Hast du ihn wenigstens erwischt?«

»Er... er ist umgefallen, gerade als ich abgedrückt habe. Ich glaube, er bewegt sich noch«, gab der Dicke zu. »Aber nicht mehr lange!«

Er legte wieder zum Schuss an. Wundervoller Schalldämpfer

Jetzt rannte auch die Ziege davon. Sie trug etwas im Maul. »Na großartig!«, knurrte der Kleine. »Mach schon!« »Keine Bewegung!«, sagte auf einmal eine Stimme hinter ihnen.

Eine eiskalte Stimme. Eisig, ruhig und schneidend. Ein bisschen wie die Stimme des Bosses. »Lasst die Waffen fallen!«, sagte die Stimme. »Hände hinter den Kopf!«

Ehe die beiden nachdenken konnten, lagen die Pistolen der Spaziergänger im Schnee. Dem Dicken machte das Sorgen. Es war nicht gut für die Waffen dort unten, so nass und kalt.

Vorsichtig, die Hände am Hinterkopf, drehten sie sich um. Sie hatten noch nie in ihrem Leben die Hände so an den Kopf halten müssen. »Hände hoch!«, ja, aber die Hände am Hinterkopf kannten sie sonst nur aus Filmen.

»Die Witzfigur!«, sagte der Dicke.

Sie hatten den Typen schon öfter gesehen, immer lauernd und geschäftig mit seiner lächerlichen Sonnenbrille auf der Nase. »Unser Buchhalter«, hatte die fette Henne gesagt und seltsam gelächelt, fast ein bisschen traurig. Buchhalter! Von wegen! Der Typ stand gelassen im Schnee, in seinem komischen schwarzen Anzug. Er hielt etwas in seiner Manteltasche. Etwas, dessen Mündung vermutlich direkt auf einen von ihnen zeigte. Wahrscheinlich auf mich, dachte der Dicke.

»Leg ihn um«, sagte der Kleine zum Dicken. »Messerarbeit. Das gefällt dir doch!«

»Okay«, sagte der Dicke, aber er rührte sich nicht. Er wusste selbst nicht so genau, warum. Vielleicht, weil der Typ keine Angst hatte. Kein bisschen. Es war nicht normal. Ein bisschen nervös war man bei so einem Job doch immer.

»Klug von euch.« Der Mund unter der Sonnenbrille lächelte kalt. »Glaubt mir, so ist es gesünder. Und jetzt vorwärts, die Hände immer schön hinter dem Kopf.«

»Wer schickt dich?«, fragte der Kleine.

Der komische Typ lachte leise. »Besser für euch, wenn ihr das nicht wisst! Vorwärts jetzt! Zurück zum Schloss!«

»Ich bin mir sicher, wir können...«, sagte der Kleine.

»Still!«, befahl der Typ mit Sonnenbrille. »Kein Wort. Bewegt euch!«

Der Dicke und der Kleine bewegten sich. Was blieb ihnen auch sonst übrig? Der Typ war eindeutig ein Profi. Der wusste genau, was er tat.

 

Auf einmal war Lane ganz allein, gefangen in der tückischen Drahtschlinge. Es war schrecklich. Sie war ein Schaf, das schnellste Schaf der Herde. Sie musste rennen, rennen, rennen. Solange man rannte, war man sicher. Solange man rannte, war etwas in einem ruhig und frei. Aber Lane konnte nicht rennen. Sie war nicht mehr das schnellste Schaf der Herde. Sie war allein.

Und vielleicht würde sie bald auch kein Schaf mehr sein.

Der Garou im Schnee regte sich wieder. Lane hielt inne, zu entsetzt, um zu zappeln, und stand nur da und atmete. Der Garou setzte sich vorsichtig auf. Er sah sich um, sah Lane an, ohne sich großartig für sie zu interessieren, ohne sich überhaupt für etwas zu interessieren, und betastete abwesend seinen Kopf und seine Schultern. Etwas Blut lief ihm aus der Nase. Der Anblick des Blutes erschreckte Lane. Der Garou berührte die Nase, und ein bisschen Blut blieb an seiner Hand. Er starrte die Hand lange an, dann versuchte er aufzustehen, unbeholfen, als ob er seine Beine nicht kennen würde. Wie ein Lamm, dachte Lane.

Endlich stand der Garou und sah lange auf Lane hinunter. Lane stand ganz still. Der Garou blickte im Schnee herum und suchte etwas - aber er suchte nicht Lane.

Dann ging der Häher den Weg zurück, den er gekommen war, vorsichtig und schwankend, ohne sich noch einmal nach Lane umzusehen.

Lane stand da und sah ihm nach. Stand und stand, zu verängstigt, um zu blöken.

Stand und witterte und atmete.

Und die Zeit verging.

Obwohl es noch kaum Nachmittag war, begann der Wald schon, das Licht zu verschlucken.

Auf einmal fühlte Lane, dass sie nicht mehr alleine war.

Hinter ihr, ein Stück entfernt in der Mitte des Hohlwegs, stand der Ziegenhirt.

Sogar hier im Wald konnte man sehen, dass seine Augen blau waren.

Der Ziegenhirt ging langsam auf Lane zu, so langsam, dass Lane kaum Angst hatte. Erst als er so nah war, dass er sie hatte berühren können, machte ihr Herz einen Sprung. Und noch einen. Trab. Galopp. Lane stand da und zitterte, aber ihr Herz jagte in langen Sprüngen durch den Schnee. Schneller und schneller. Lane war das schnellste Schaf der Herde. Ihr Herz wusste das.