11

 

»Er ist nicht wirklich ein Problem«, sagte Lane. »Nicht im Winter.«

Die anderen nickten.

Im Sommer wäre es eine vollkommen andere Angelegenheit gewesen. Der Gestank! Die Fliegen! Neugierige Fuchsaugen in der Dunkelheit. Aber im Winter...

Die Schafe standen in einer ungewöhnlich rosigen Morgendämmerung unter der alten Eiche und bestaunten Yves, der auf dem Bauch lag, die Beine weit gespreizt, und vor Kälte schon fast nicht mehr roch. Mit etwas Glück würde er bald unter einer Schneedecke verschwunden sein.

»Außer, sie finden ihn«, sagte Ramses. »Wenn sie ihn finden, kommen wieder Menschen mit Mützen und Schäferhunde. Und sie werden herausfinden wollen, warum er tot ist.«

Die Schafe wussten, warum Yves tot war. In der Mitte seines Rückens gab es einen roten Fleck, der noch roch, und zu diesem Fleck gehörte der Knall, der die Schafe heute mitten in der Nacht erschreckt hatte. Der Knall des Schießeisens! Aber es würde eine Weile dauern, bis die Menschen diese einfachen Zusammenhänge verstanden hatten. Und dann ...

»Sie werden Rebecca mitnehmen!«, blökte Cloud plötzlich. Das wussten sie von vielen kriminalistischen Vorlesestunden vor dem Schäferwagen. Rebecca hatte ihr Schießeisen gestern im Wald spazieren getragen, sie fand den breitschultrigen Yves »schleimig« und hatte ihn in Verdacht, im Herbst ein Stück rote Unterwäsche von ihrer Wäscheleine gestohlen zu haben. Jetzt, wo rote Sachen knapp waren, hatte sie wahrscheinlich einfach abgedrückt. Vorsichtshalber. Die Schafe verstanden Rebecca. Aber die Menschen mit Mützen würden sie nicht verstehen.

»Sie dürfen ihn nicht finden!«, blökte Cordelia. »Er muss hier weg!«

Othello senkte die Hörner und versuchte, Yves ein Stück weit zu rollen, aber Yves war widerspenstig und schon ein wenig steif und wehrte sich mit der kalten Starrsinnigkeit der Toten. Die Schafe sahen sich ratlos an. Der Tote war wirklich nicht zu übersehen, ein großer Haufen Dunkelheit auf dem morgenrosigen Weiß des Schnees.

»Wenn er wenigstens unter dem Schnee wäre«, sagte Lane. »Unter dem Schnee wäre es nicht so schlimm.«

»Wir könnten ein Loch scharren und ihn hineinschubsen«, sagte Ramses. »Vielleicht.«

Die Schafe kratzten ein wenig im Schnee, aber der Schnee war zu hart gefroren, und Yves war ganz einfach zu groß.

»Oder wir warten, bis neuer Schnee von oben kommt!« Miss Maple guckte verschmitzt in die Runde. Keine schlechte Idee! Neuer Schnee von oben kam ihnen wie eine besonders elegante Lösung des Problems vor.

»Und wann kommt neuer Schnee von oben?«, fragte Mopple nervös. Rebecca musste hierbleiben!

»Bald«, sagte Cloud und witterte in die kalte Luft. »Viel Schnee! Ich kann ihn schon riechen.«

Jetzt, wo sie es sagte, rochen die anderen es auch.

»Bald ist nicht bald genug«, blökte Lane.

Sie hatte Recht. Schon leuchteten im Schloss die ersten Lichter, und jeden Moment konnte jemand aus dem Fenster sehen und anfangen, sich über den seltsamen dunklen Knubbel unter der alten Eiche zu wundern.

Das Hoftor knarrte auf, und der Ziegenhirt trat heraus, einen großen Sack über der Schulter. Vermutlich ein Futtersack! Unter anderen Umständen hätten sich die Schafe sehr für diesen Sack interessiert, aber heute hofften sie nur, der Ziegenhirt würde damit so schnell und kurzsichtig wie möglich wieder hinter der Hofmauer verschwinden.

Der Ziegenhirt verschwand nicht. Er schlurfte rechts am Zaun entlang Richtung Ziegenweide, den Blick auf den Boden gerichtet. Eine Krähe landete in den höchsten Zweigen der alten Eiche. Schnee stäubte herab. Noch immer ging der Ziegenhirt zielstrebig am Zaun entlang. Die ersten Ziegen hatten ihn entdeckt und hopsten über die Weide auf ihn zu.

Die Krähe krächzte ein triumphierendes Krähenkrächzen. Der Ziegenhirt blickte zu den Schafen hinüber. Seine Augen waren so blau, dass sie es sogar aus der Entfernung sehen konnten.

Die Schafe standen ertappt um Yves herum und ließen die Ohren hängen.

Die Krähe krächzte lauter.

Der Ziegenhirt wandte sich ab und schlurfte weiter am Zaun entlang, seinen Sack über der Schulter. Er kippte den Inhalt des Sacks über den Ziegenzaun - Rüben und Karotten! -, dann musterte er seine fressenden Ziegen. Gründlich.Jede einzelne. Er schien nicht ganz zufrieden mit dem, was er da sah, und seine Augen wanderten weiter über die Weide. Hin und her, auf und ab.

»Er sucht Madouc«, sagte Miss Maple.

Aber der Ziegenhirt fand sie nicht. Endlich ging er wieder zurück zum Tor. Das Tor knarrte zu. Die Schafe sahen sich an.

»Er muss sehr kurzsichtig sein«, sagte Mopple. »Kurzsichtiger als ich! Oder er interessiert sich nicht für Yves.«

»Nein«, sagte Miss Maple. »Er kann nur nicht durch uns hindurchsehen. Solange wir vor Yves stehen, kann man ihn vom Schloss aus nicht sehen!«

Die Schafe beschlossen, so lange um Yves herumzustehen, bis der versprochene Schnee ihn ganz zugedeckt hatte.

Eine zweite Krähe landete in den Zweigen der alten Eiche. Dann eine dritte.

Sie versuchten, das Beste aus der Situation zu machen, und grasten ein bisschen. Aber der schattige Fleck unter dem Baum war kalt und zugig und gab kulinarisch nicht viel her. Es war hell geworden, und fette graue Wolken schubsten sich über den Himmel.

Wind kam auf.

Rebeccas Fenster erwachte. Die Schafe sahen düster hinüber zum Schäferwagen, wo Rebecca und Mama jetzt im Warmen saßen und Brot und Honig frühstückten, während sie hier draußen ihren Schießeifer büßen mussten. Die ersten Schneeflocken wehten über die Weide. Yves hatte aufgehört zu riechen.

Inzwischen hing die Krone der alten Eiche voller Krähen. Sie schnäbelten und zeterten und machten die Schafe nervös. Nur Ritchfield mochte die Krähen. Auf Yves begann sich ein leichter Flaum zu bilden - noch lange nicht genug, aber viel versprechend. Die Schafe standen entschlossen herum und warteten.

Einige Krähen tropften von der Baumkrone auf die Weide. Sie machten die Hälse lang, staksten neugierig zwischen Schafsbeinen herum und beäugten den Toten mit geschulten schwarzen Krähenaugen.

»So geht das nicht!«, schnaubte Othello. »Sobald sie anfangen, auf ihm herumzuhüpfen, hilft uns der ganze Schnee nichts!«

Othello begann, im Zickzack zwischen den Schafen hindurchzugaloppieren, auf Krähenjagd. Das war nicht einfach, denn die Krähen waren klug. Sie tauchten unter Schafsbäuchen hindurch, flatterten auf Schafsrücken und schienen sich nicht übel zu amüsieren, als Othello um ein Haar Ramses umrannte. Ramses begann, hysterisch zu blöken. Lane, Cloud, Mopple und Cordelia blökten zur Gesellschaft mit.

»Hört auf«, knurrte Othello. »Wenn ihr selbst so einen Krach...«

Weiter kam er nicht.

Auf einmal war die Luft um sie herum weiß. Weiß und schneidend. Das Schloss und der Schäferwagen verschwanden. Alles verschwand.

 

Ritchfield stand mitten im Nichts und wunderte sich. Gerade eben hatte er noch... Aber jetzt! Wo war alles? Und warum war es so weiß? Ritchfield mochte Weiß. Weiß wie ein Schmetterling, weiß wie Milch, weiß wie ein Lamm, weiß wie eine Herde... Wo war seine Herde? Irgendwo! Ritchfield spähte mit seinen guten Augen entschlossen durch das Weiß. Und dann sah er - das Grau! Endlich! Weit weg zuerst, und im ersten Augenblick dachte er, er hätte es sich nur eingebildet, aber dann wurde es größer und anmutiger, größer und klarer und immer grauer. Gehörnt. Ritchfield wurde warm und ruhig. Er konnte Dinge hören, die er schon lange nicht mehr gehört hatte: das Pfeifen des Windes, das Knistern der Flocken. Hufe im Schnee.

Melmoth blieb in einiger Entfernung stehen und blickte zu Ritchfield herüber. Ritchfield stand nur da, jung und glücklich, und fühlte sich ganz. Er wollte lostraben, auf seinen Zwilling zu, wie früher. Noch nicht! Melmoth hob die Hörner und sah ihn ernst an. Auch Ritchfield hob die Hörner ein bisschen höher und...

»Da ist Ritchfield!«, blökte jemand.

Der alte Leitwidder blinzelte Schnee aus den Augen, und als er damit fertig war, war Melmoth verschwunden. Ritchfield war nicht allzu besorgt darüber. Melmoth würde zurückkommen. Melmoth würde immer zurückkommen.

Auf einmal schien wieder die Sonne.

 

Yves war nun gründlich versteckt, das musste man ihnen lassen. Die Schafe hatten Mühe, sich selbst gegenseitig im Schnee wiederzufinden. Nach und nach versammelten sie sich mehr oder weniger vollzählig auf der windabgewandten Seite des Heuschuppens, wo der Schnee nicht ganz so tief war, und sahen sich um. Alles war verschwunden, alles: der Zaun, der Futtertrog, sogar die Ziegen - immerhin! Der Schäferwagen: ein weißer, flaumiger Pilz. Der Bach: eine eisig plätschernde Schlangenspur durch das Nichts. Die ganze Sache war maßlos übertrieben.

Sie waren ein wenig wütend auf Miss Maple, die ihnen mit ihrem Vorschlag den ganzen Schnee eingebrockt hatte. Und sie waren wütend auf Yves - warum hatte er nicht einfach die Finger von Rebeccas Unterwäsche lassen können? Auf Rebecca waren sie auch wütend.

Die Stimmung war schlecht.

Eis glitzerte in der Sonne. Die Schafe sahen missmutig zu, wie die Ziegen nach und nach wieder aus dem Schnee auftauchten, hüpften und sprangen, mit glänzenden Augen und glänzendem Fell, so als wäre überhaupt nichts passiert. Warum auch nicht? Sie hatten keine schießwütige Schäferin, die man vor der Polizei beschützen musste.

Und dann, plötzlich, bewegte sich noch etwas im Schnee, etwas auf ihrer Seite der Weide, beunruhigend nah. Der Schnee wölbte sich und brach, und ein Kopf tauchte auf, der Kopf des ungeschorenen Widders. Jetzt, wo man wegen des vielen Schnees kaum sehen konnte, dass er ungeschoren war, sah er eigentlich wie ein ganz gewöhnliches Schaf aus. Zum ersten Mal fiel ihnen auf, wie braun die Augen des Fremden waren - und wie wach.

»Tourbe!«, blökte er gut gelaunt. »Aube! Gris! Marcassin!«

Der Ungeschorene watete an den Schafen vorbei, durch den Schnee Richtung Weidezaun, ohne ein einziges Mal in ihre Richtung zu blicken. Trotzdem hatten die Schafe das Gefühl, dass er sich freute, wieder da zu sein. Und sie - sehr, sehr vorsichtig - freuten sich auch.

 

Zora, Maude, Heide und Madouc hatten die Nacht an einer Bushaltestelle verbracht. Ein Häuschen hatte sie vor dem Wind und dem vielen Schnee geschützt, aber Bus war bisher noch keiner vorbeigekommen. Jetzt war es wieder hell - außerordentlich hell sogar, wegen des neuen Schnees.

Madouc streckte in regelmäßigen Abständen ihren Kopf aus dem Häuschen und witterte.

»Da lang!«, meckerte sie zuversichtlich und guckte entweder wegauf oder wegab oder geradeaus und einmal sogar nach oben. Die anderen blieben skeptisch. Nicht einmal Maude konnte unter all dem Schnee riechen, woher sie gekommen waren.

Die Schafe blinzelten nervös nach draußen. Sie wollten zurück. Sie mussten zurück. Aber wo war zurück? Wegwollen half nicht viel, solange man nirgends hinwollen konnte.

Während sie unentschlossen hinaus ins Weiß starrten, war auf der Straße eine alte Frau aufgetaucht, mit einem wollenen Tuch um den Kopf und einer Plastiktüte in der Hand. Sie ging sehr langsam und vorsichtig, und weil sie so langsam ging, bemerkten die Schafe sie erst, als sie schon ganz nah war. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als in die Schatten des Bushäuschens zurückzuweichen und zu hoffen, dass die Frau vorüberziehen würde wie eine hypnotisierte Schnecke.

Doch in der Aufregung schlug Heides Hinterhuf gegen die Blechwand des Häuschens, und Metall schepperte. Die Frau drehte den Kopf in ihre Richtung. Ihre Augen waren glasumrandet und groß wie Eulenaugen. Die Frau quakte sie an, dann schlurfte sie weiter, unendlich langsam.

»Sie sagt, wir sollen besser zu Fuß gehen«, sagte Madouc. »Bei dem Wetter kommt kein Bus. Und sonst eigentlich auch nicht.«

Leichter gesagt als getan. Trotzdem: sie mussten zurück, so schnell wie möglich! Die anderen mussten wissen, was sie gestern in dem Haus im Wald gehört hatten, bevor es zu spät war.

Nachdem Madouc mit einem kühnen Sprung bei ihnen im Auto gelandet war, waren sie noch eine Weile gerollt, immer langsamer. Dann war das Auto mit einem Seufzen stehen geblieben.

Die Schafe äugten unbehaglich nach draußen. Sie standen mitten im Wald. Das extragroße Auto war nicht nur übereifrig, es war obendrein auch noch dumm! Eine Tür klackte, und Schritte kamen näher. Die Schafe drängten sich in der dunkelsten Ecke zusammen, doch der Mensch mit den Gummistiefeln kippte nur die lose Schwanzklappe wieder nach oben. Was für ein Mensch? Die Schafe konnten nicht mehr als einen grünen Anorak mit Kapuze erkennen. Dann ging es weiter, und sie hofften, dass das Auto Verstand genug haben würde, irgendwie zum Schloss zurückzufinden.

Doch als das Auto zum zweiten Mal zum Stehen kam, waren draußen noch immer Bäume. Bäume und ein Haus.

Schritte entfernten sich, und Madouc, die sich auf der kurzen Fahrt vollkommen erholt hatte und schon begann, den Schafen mit unmotivierten Hopsern auf die Nerven zu gehen, öffnete mit der Schnauze einen Riegel an der Schweifklappe des Autos. Die Klappe klappte, und Madouc sprang nach draußen.

»Kommt mit!«, meckerte sie. »Der Mensch ist weg!«

Niemand hatte Lust, weiter in dem begriffsstutzigen Auto zu bleiben, doch sobald sie alle im Freien waren, stürzte knurrend ein großer schwarzer Hund auf sie zu, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich Hals über Kopf in die dunkle Türöffnung des Hauses zu flüchten. Der Hund bellte draußen noch ein bisschen, aber er folgte ihnen nicht. Drinnen war alles ziemlich dunkel und unübersichtlich und voller Tische und Stühle. Es gab Flaschen an der Wand und viele Krüge, die von der Decke hingen.

Die Person mit den gelben Gummistiefeln war schon am anderen Ende des Raums und schlug ihre Kapuze zurück. Streng gekämmtes Haar kam zum Vorschein, aus dem sich einige rebellisch gekräuselte Strähnen gelöst hatten: die Plin. Sie zog mit einer ungeduldigen Geste einen Stuhl hervor und setzte sich an einen Tisch. An dem Tisch saßen schon die beiden Wintergäste, der eine groß und dick, der andere klein. Die beiden Wintergäste waren die einzigen anderen Menschen im Raum, und beide tranken Bier.

Die Plin quakte aufgeregt los.

»Was sie wohl sprechen?«, sagte Madouc. »Wollt ihr nicht auch wissen, was sie sprechen?« Und schon war sie aus der Nische neben der Tür hervorgehuscht, mitten durch den Raum auf die Menschen zu, und versteckte sich unter einem der Nachbartische.

Madouc genoss es, wieder in einem Haus zu sein. Die Weide und der Wald und der Ziegenstall waren schön und gut, aber sie war in einem Haus aufgewachsen und fühlte sich im Halbdunkel zwischen nutzlosen Möbeln am wohlsten. Die kleine Ziege beroch zufrieden die Tischplatte über sich: ein vertrauter Geruch von Bier. Neben ihr unterhielten sich die Menschen.

»...habe den Lastwagen genommen«, sagte die Plin. »Mit dem ist sonst immer Yves unterwegs. Der fällt hier nicht auf.«

Der kleinere der beiden Wintergäste seufzte. Seine Füße scharrten ungeduldig über den Holzboden.

»Riskant ist es trotzdem. Was ist denn so schrecklich wichtig, Madame?«

»Mademoiselle!«, fauchte die Plin. »Wichtig? Das will ich meinen. Ich sehe heute Morgen Maurices Kalender an - keine Angst, er weiß nicht, dass ich noch den Schlüssel habe -, und morgen ist ein X eingetragen. Und wir alle wissen, was X bedeutet! Ich dachte, wir hätten ganz klar vereinbart, dass die Sache erst in zwei Wochen stattfindet, wenn ich im Urlaub bin.«

»Der Boss ist ein vielbeschäftigter Mann«, sagte der Kleine. »Und ein unberechenbarer.«

»Das ist mir egal, ich will, dass er wartet, bis ich weg bin!«

»Machen Sie doch einfach früher Urlaub«, sagte der Kleine ungeduldig. Seine Stimme klang gar nicht klein, eher wie das Grollen eines schlechtgelaunten Kettenhundes.

»Ich kann jetzt nicht meinen Urlaub verschieben, wie verdächtig sieht das denn aus? Ich ändere nie meine Pläne. Maurice würde Verdacht schöpfen.«

»Das, Madame, ist Ihr Problem!«

»Mademoiselle!«

»In Ihrem Alter!«, murmelte der Kleine. »Es ist gegen die Abmachung«, sagte die Plin bitter. »Ich habe mich an die Abmachungen gehalten, Quartier für Sie beide - und die Schafe, es war ganz schön schwierig, hier wieder Schafe hineinzubekommen nach der Sache. Ich habe mir den Mund fusselig geredet, und jetzt...«

»Und Sie haben Ihr Geld bekommen, nicht wahr?«

»Darum geht es nicht«, sagte die Plin.

Der Große hatte bisher noch kein Wort gesagt, aber sein linker Fuß tappte unermüdlich auf Holz. Tap. Tap. Tap. Jetzt hörte der Fuß plötzlich mit dem Tappen auf.

»Es geht immer um Geld«, sagte der Große mit flacher Stimme. »Seien Sie nicht kompliziert, Madame!«

»Kompliziert? So ist das also!« Mademoiselle Plin glättete sich mit der Hand die Haare.

»Ist es nicht zu früh?«, fragte sie dann. »Braucht es nicht mehr Vorbereitung?«

»Wir haben ein Reh«, sagte der Kleine. »Das haben sie auch gleich gefunden, und vielleicht kriegen wir ja morgen früh noch eins unter, und dann kommen noch die Schafe dran, und wenn ich das richtig sehe, machen sich die Leute ohnehin schon in die Hosen. Die Polizei war da und tappt im Dunkeln. Die kleine Schäferin hat alles mitbekommen. Alle glauben, der Irre ist wieder unterwegs. Was wollen wir mehr?«

»Drei«, sagte die Plin scharf. »Drei Rehe.«

»Eins«, sagte der kleine Mann. »Hätte nicht gedacht, dass es so schwer ist, die Biester zu fangen und zu präparieren, dabei haben wir Schlingen überall. Naja, das mit den Schafen wird einfacher.«

»Der Ziegenhirt hat noch andere Rehe im Wald gefunden«, sagte die Plin störrisch.

»Nun«, sagte der Kleine mit gespielter Gleichgültigkeit. »Unsere sind das nicht.« Er warf dem Großen heimlich einen bösen Blick zu. Der Große sah nicht hin.

»Was uns allerdings ein bisschen Sorgen macht, ist die alte Schachtel«, sagte der Kleine. »Ein Mensch von außen, gut, aber mit zweien wird es ein wenig...«

Er verstummte. Ein weiterer Mensch hatte den Raum betreten, ein Mann mit schmalen Augen und Schürze. Er kam nicht durch die Eingangstür, sondern seitlich aus dem Inneren des Hauses, und er trug ein Tablett.

Mademoiselle Plin lachte ein unerfreuliches Lachen. »Keine Sorge, der ist stocktaub! Da!«

Im nächsten Moment hatte sie das Bier des Großen vom Tisch gewischt, und Glas zersprang klirrend auf dem harten Holzboden. Die Schafe in ihrer Nische zuckten zusammen, aber der Schmaläugige blickte nicht einmal von seinem Tablett auf. Der große Spaziergänger guckte wütend aufsein Glas und sagte »Bravo!«.

Madouc probierte etwas von dem Bier am Boden.

»Die alte Schreckschraube ist vollkommen harmlos«, sagte die Plin betont laut. »Ich habe mir heute von ihr die Karten legen lassen. Total durchgedreht, die glaubt alles, was man ihr erzählt, solange es nur ein bisschen mystisch ist. Das wird die Erste sein, die >Werwolf< schreit.«

»Ich will ein neues Bier!«, sagte der Große.

In diesem Augenblick streckte Madouc ihren Hals auf der Jagd nach einer kleinen Bierpfütze etwas zu weit vor und berührte Mademoiselle Plin am Knie. Die Plin kreischte und schlug den kleinen Wintergast mit der flachen Hand auf die Wange. Im nächsten Moment hatte der Große ein Messer in der Hand. Madouc rannte quer durch den Raum zur Tür hinaus, die Schafe hinterher.

Zu viert waren sie vor dem schwarzen Hund bis zur Bushaltestelle geflüchtet. Madouc sang Ziegenlieder und roch seltsam. Doch später, tief in der Nacht, erzählte sie den Schafen, was sie unter dem Tisch gehört hatte. Und jetzt mussten sie zurück, um ihre Herde vor den Plänen der beiden Spaziergänger zu warnen.

»Ich glaube, es ist da!«, sagte Zora plötzlich, trat entschlossen aus dem Bushäuschen heraus und begann, sich durch den hohen Schnee die Straße hinaufzukämpfen. Heide, Maude und Madouc trabten hinterher.

 

Rebecca kam aus dem Schäferwagen, oder besser gesagt: zuerst kam sie nicht aus dem Schäferwagen, weil zu viel Schnee vor der Tür lag. Dann klappte die Tür mit einem Ruck auf, und Rebecca, die sich von innen dagegen gestemmt hatte, purzelte die Stufen hinunter und landete im Schnee.

Die Schafe machten sich auf schlechte Stimmung gefasst, aber Rebecca lachte, klopfte sich den Schnee vom Mantel und rückte die braune Brotmütze zurecht. Sie bahnte sich einen Weg zur Futterkammer, fand den Trog wieder, schaufelte ihn frei und kippte eine wirklich großzügige Portion Kraftfutter hinein. Sie summte und hüpfte und warf probehalber einen Schneeball nach Mopple. Mopple war ein einfaches Ziel, aber trotzdem traf sie nicht. Für jemanden, der gerade Yves auf dem Gewissen hatte, hatte sie hervorragende Laune.

»Bei Tag sieht alles anders aus, nicht wahr?«, sagte sie zu den Schafen. »Ihr habt es auch nicht leicht, bei diesem Wetter. Macht euch keine Sorgen, ich passe gut auf euch auf.«

Von wegen! Sie passten auf Rebecca auf, mit Schnee und Silber und allem Drum und Dran.

»Wollt ihr Heu?«, fragte Rebecca.

Die Schafe blökten. Natürlich wollten sie Heu.

»Mama und ich sind heute Abend zum Essen eingeladen«, erklärte Rebecca den Schafen, während sie ihnen Heu in die Raufe schaufelte. »Im Schloss. Von Maurice.« Sie grinste die Schafe an. »Nobel, was?«

Heathcliff dachte nach. Darüber, ob sich der Weg zum Futtertrog lohnte oder ob er sowieso weggedrängt werden würde, so lange, bis das letzte Körnchen aus dem Trog verschwunden war. Seit dem Sturz von der Eiche dachte Heathcliff sehr genau über Wege nach.

Alles tat weh, vor allem die Rippen, der Rücken und alles dazwischen. Zwischen den Ohren tat es weh, im Vorderbein und im linken Hinterhuf. Jeder Schritt tat weh und natürlich jede Berührung. Bei dem Gedanken, sich einfach wie früher zwischen den anderen Schafen hindurchzudrängen, unter ihnen weg, Richtung Heu, wurde ihm schwarz vor den Augen.

Nicht jetzt. Er brauchte kein Heu. Er war mit weniger Milch ausgekommen als jedes andere Lamm, er konnte von matschigem Wintergras leben, so lange er wollte.

Heathcliff keilte trotzig nach hinten aus und wartete mit unbekümmertem Gesicht, bis die Schmerzen wieder abgeklungen waren. Die anderen durften nichts merken.

Niemand durfte etwas merken. Er war ein Schaf wie alle anderen, nicht schwächer, nicht langsamer. Niemand, der zurückbleiben würde, wenn die Herde vor einem Raubtier floh. Keine leichte Beute.

 

Auf dem Rückweg von der Heuraufe entdeckte Rebecca das Silber - und erschrak.

Die Schafe erschraken auch. Rebecca - der Garou?

»Na, so was«, sagte Rebecca. »Und dabei pass ich so auf.«

Sie stapfte hinüber zum Haselstrauch und zupfte das Papier vom Zweig. Zuerst waren die Schafe nur erleichtert. Die Schäferin schien sich doch nicht vor dem Silberpapier zu fürchten! Aber dann! Rebecca trug ihr Silber mit spitzen Fingern hinüber zu dem Abfalleimer, der am Weidezaun angebracht war - draußen, auf der weideabgewandten Seite. Der Deckel des Abfalleimers klappte zu, und die Schäferin klopfte sich zufrieden ihre Hände am Mantel ab.

»Nicht auszudenken, wenn ihr das gefressen hättet«, sagte sie zu den Schafen.

Die Schafe sahen Rebecca frustriert an. Natürlich hätten sie das Werwolfsilber nicht gefressen - für wie dumm hielt sie Rebecca eigentlich? Aber wie sollte es ihnen jetzt, in den Tiefen des Abfalleimers, den Garou verraten?

Sie guckten vorwurfsvoll zum Schäferwagen, wo die Schäferin - noch immer blendend gelaunt - in andere Schuhe schlüpfte, den roten Schal über die Schulter warf und dann Richtung Weidetor stapfte.

»Denkt ihr, ich habe die Sache mit den Klamotten vergessen?«, fragte sie. »Habe ich nicht!«

Die Schafe konnten es kaum glauben. Während sie hier Yves versteckten und den Garou jagten, hatte ihre Schäferin nichts als Klamotten im Kopf »Wir müssen das Silber wieder aus dem Eimer holen!«, blökte Mopple. Er mochte das Silber. Er hatte es gefunden und war ein bisschen stolz darauf. Außerdem hatte er schon länger einmal einen Blick in den Abfalleimer werfen wollen. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Hortense erst vor kurzem einen halben Apfel hineingeworfen, der dem kleinen Jules in den Schnee gefallen war.

Sobald Rebecca durch das Hoftor verschwunden war, trabte die Herde zum Weidezaun. Die Sache war verzwickt. Der Abfalleimer war zwar verlockend nah, aber außen am Zaun angebracht, und es gab einen schweren Deckel aus Metall. Die Schafe versuchten, sich wie die Ziegen über den Zaun zu lehnen - ohne viel Erfolg.

»So geht es nicht«, sagte Othello. »Einer von uns muss nach draußen.« Er überlegte einen Augenblick.

»Ich mach's«, sagte er dann.

Othello versuchte erst, über den Zaun zu springen, aber im tiefen Schnee war es unmöglich, vernünftig Anlauf zu nehmen.

»Ich gehe über die Ziegenweide«, sagte er schließlich.

»Und wenn die Ziegen das nicht wollen?«, blökte Heide.

»Mir ist egal, was die Ziegen wollen!«, sagte Othello und war schon unterwegs zum Ziegenzaun.

Glücklicherweise waren die Ziegen gerade wieder in eines ihrer seltsamen Rituale vertieft und viel zu beschäftigt, um überhaupt irgendetwas zu wollen. Sie standen um die Kommode herum, in einer Art Kreis, und beachteten Othello, der durch die lose Latte im Zaun geschlüpft war, kein bisschen. Ab und zu meckerte eine von ihnen. Die Sache schien wichtig zu sein. Dann wichen auf einmal die meisten Ziegen von der Kommode zurück - bis auf zwei. Diese zwei richteten sich auf die Hinterbeine auf und knallten mit ihren Hörnern zusammen.

Othello wand sich wieder durch den losen Draht und stand am Waldrand. Nun musste er die Ziegenweide von außen umrunden.

Die Schafe sahen beunruhigt zu, wie ihr Leitwidder zu einem kleinen schwarzen Punkt am anderen Ende der Ziegenweide wurde. Doch dann begann Othello wieder zu wachsen, und endlich stand er erneut in Lebensgröße bei seiner Herde - nur auf der falschen Seite des Zauns. Oder der richtigen. Je nachdem.

Othello drückte mühelos den Deckel nach oben, richtete sich auf die Hinterbeine auf und wühlte, die Vorderbeine gegen den Zaun gelehnt, im Abfalleimer. Bald tauchte er wieder auf, das Silberpapier zwischen den Zähnen. Er reichte es Maple durch den Zaun.

»Und?«, fragte Mopple the Whale. »Ist da noch was da drinnen? Ich meine, etwas Interessantes!«

»Nein«, sagte Othello. »Nichts Interessantes.«

Dann war er auch schon wieder auf dem Rückweg, entlang am Ziegenzaun.

Die Schafe trugen das Papier im Triumphzug zurück zum Haselstrauch und spießten es wieder auf den gleichen Zweig -eine Warnung an alle Werwölfe dieser Welt.

Als sie gerade damit fertig waren, knarrte das Tor wieder auf, und Paul der Ziegenhirt trat heraus, sehr dick angezogen und mit einem Strick in der Hand. Die Ziegen reckten erwartungsvoll die Hälse, aber diesmal kümmerte sich der Hirt nicht um sie, sondern ging schnurstracks Richtung Wald. Die Schafe hatten Angst, dass er Othello auf der Ziegenweide ertappen würde - aber Othello war nirgends mehr zu sehen.