14

 

»Schneller!«, blökte Zora.

»Ich kann nicht mehr!«, stöhnte Heide.

Maude sagte gar nichts, aber sie blieb kaum noch zum Wittern stehen. Daran konnte man sehen, wie müde sie war.

Und Madouc war - wie durch ein Wunder - schon seit einiger Zeit nicht mehr gehopst.

Sie waren der Nase des Turmschildes gefolgt, immer die Straße entlang, bis Madouc behauptet hatte, in der Ferne zwischen den Bäumen etwas zu sehen - vielleicht das Schloss, aber bestimmt ein Gebäude, und Maude hatte behauptet, Ziegen zu riechen. Zora und Heide hatten nichts gesehen und gerochen, trotzdem hatten sie alle gemeinsam beschlossen, die Sache zu erkunden.

Doch dann war das Gebäude auf einmal wieder verschwunden gewesen, Maude hatte nichts mehr gerochen, und ein heftiger Schneeschauer hatte all ihre Spuren verwischt. Seither ging es kreuz und quer durch den Wald, und mittlerweile waren sie sogar zu müde, um sich zu fürchten.

»Spuren!«, meckerte Madouc plötzlich aufgeregt.

Tatsächlich! Dort vorne war jemand durch den Wald gegangen. Mehrere klare Spuren zogen sich vor ihnen durch den Schnee, einen Hang hinauf.

Maude beroch die Spuren sorgfältig. Endlich gab es wieder etwas zu wittern!

»Eine Ziege!«, sagte sie. »Und drei Schafe! Schafe ...« Sie sog tief die Luft ein. »Schafe unserer Herde!«

Heide blökte triumphierend. Wenn noch mehr Herdenmitglieder im Wald unterwegs waren, konnte man sich bald zu einer großen Herde zusammenschließen, und dann würde alles halb so schlimm sein!

»Wer?«, blökte Heide aufgeregt. Sie hoffte sehr, dass Othello bei den Schafen war - oder notfalls Sir Ritchfield.

Maude schnüffelte noch einmal.

»Zora!«, sagte sie. »Heide! Und... und ein fremdes Schaf.«

»Das sind wir!«, seufzte Zora. »Das fremde Schaf bist du!«

»Bin ich nicht!«, blökte Maude empört.

Sie zogen weiter, voran Zora, dann Heide und Madouc und Maude in einigem Abstand, beleidigt, weil Zora sie ein fremdes Schaf genannt hatte.

Auf einmal spürte Zora einen Tritt. Sie sah sich um: nichts, nur Heide hinter ihr, zu müde zum Traben und sicher zu müde, um zu kicken. Da, wieder! Ein Tritt in ihren Bauch. Im nächsten Moment wusste Zora, woher der Tritt kam: er kam von innen! Ein guter, kräftiger Tritt. Der Erste. Zora war stolz auf ihr Lamm.

Sie blieb stehen und dachte. Ihr Lamm wollte ihr etwas sagen. Zora blickte sich um. Der Schnee war schon wieder dabei, sich mit einem nächtlichen Blau vollzusaugen, der Wald stand schwarz, und in den Schatten sammelte sich Kälte. Ihr Lamm hatte Recht. Sie mussten etwas fressen, bevor die Dunkelheit kam. Sie brauchten Rast und einen windgeschützten Ort für die Nacht.

 

»>Und wenn schon<, sagte der Alte.

>Aber wenn etwas real ist, dann ist es doch immer da!<

> Bist du dir sicher?<, fragte der alte Mann und putzte sich geräuschvoll die Nase.«

 

Rebecca sah nachdenklich von dem komischen Buch auf. Auch die Schafe waren nachdenklich. Der Garou war nicht immer da. Manchmal verschwand er in seinem Menschen. War er trotzdem echt? Rebecca putzte sich geräuschvoll die Nase. Die Schäferwagentür ging ein Stück weit auf und schubste Rebeccas Rücken. »Aua!«, sagte Rebecca.

»Er funktioniert! Er funktioniert!«, jubelte Mama durch den Spalt. »Und gar kein so schlechtes Bild! So übel ist dieser Yves wohl doch nicht!«

»Na ja«, sagte Rebecca, dann: »Ich frage mich, wo der ist. Komisch, ich habe ihn seit gestern nicht mehr gesehen.«

»Ach«, sagte Mama. »Der hat seine Damen, eine hier, eine dort in den Dörfern, habe ich gehört. Irgendwo wird er schon sein.«

Rebecca lachte. »Eines muss man dir lassen - du hörst wirklich das Gras wachsen! Mir erzählt niemand so was. Und dabei verstehst du sie kaum! Wie kriegst du das alles nur aus den Leuten heraus?«

Die Schafe machten neidische Gesichter. Das Gras wachsen hören! Es musste ein sehr schönes Geräusch sein, frisch und grün und jung und raschelnd! Schöner noch als Geschichten, wenn auch nicht ganz so schön wie Blöken! Lane, Cloud und Cordelia zogen sich sofort in eine stille Ecke der Weide zurück, um dem Gras beim Wachsen zuzuhören. Aber so sehr sie auch lauschten: das Gras wuchs nicht. Dafür dröhnte aus dem Schäferwagen Musik - und quakende Stimmen.

»Gar kein schlechter Sound, was?«, sagte Mama. »Da mach ich mir heute so einen richtig gemütlichen Abend!«

»Du verstehst das doch gar nicht«, sagte Rebecca.

»Die Filme nicht«, sagte Mama. »Aber die Werbung! Die Werbung versteht jeder! Wünsche, Träume, Bilder - das ist die beste Fortbildung für mich, sage ich dir! Außerdem ist ein DVD-Player dabei. Wenn der auch funktioniert, gucken wir bald einen Werwolfsfilm, ja? Den alten, der ist gut. Kennst du den, mit dem netten jungen Mann, und dann wachsen ihm überall Haare! Gruselig!«

Die Schafe sahen sich an: sie konnten an Haaren nichts Gruseliges finden. Im Gegenteil: mit ein paar Haaren mehr konnten nette junge Männer eigentlich nur gewinnen! Das Gruselige an Menschen war eben, dass sie so wenige Haare hatten.

Rebecca stöhnte. »Meine Güte, Mama, hör endlich auf mit dem Werwolfsquatsch!«

»Du wirst schon sehen!«, sagte Mama und streckte ihren Kopf aus der Tür. »Du wirst schon ... oje, der Schnösel!«

Rebecca blickte auf. Am Weidezaun stand der Häher und winkte ihr zu, dann öffnete er das Tor und kam über die Weide auf sie zu. Rebecca winkte zurück.

Mama zog die Schäferwagentür hinter sich zu.

»Sag ihm, ich bin nicht da!«, zischelte es durch die geschlossene Tür.

»Er hat dich schon gesehen«, seufzte Rebecca. »Das ist mir egal!«

Einen Augenblick lang sah die Schäferin wütend aus, dann, als der Häher näher kam, streifte sie ein Lächeln über ihr Gesicht.

Die Schafe zogen sich ein wenig vom Schäferwagen zurück. Das Vorlesen konnten sie jetzt wohl vergessen!

Der Häher blieb ein paar Schritte vor dem Schäferwagen stehen und machte eine elegante, kleine Verbeugung.

»Entschuldigen Sie die Störung, Mademoiselle ...«

»Rebecca«, sagte Rebecca.

»Rebecca«, sagte der Häher. »Ich wollte nur fragen, ob Sie heute Abend schon eine halbe Stunde früher... Die Köchin hat morgen ihren freien Tag.«

»Natürlich«, sagte Rebecca. »Nur - leider - meine Mutter kann nicht.«

Sie lächelte.

»Oh«, sagte der Häher und sah alles andere als erfreut aus. »Wie schade! Na dann...«

»Sind Sie wirklich Schönheitschirurg?«, fragte Rebecca, als er sich gerade zum Gehen wenden wollte. »Heißt das, Sie machen reichen Damen die Nasen größer oder kleiner? Und die ... Oberweite?«

Der Häher lächelte wieder. »Nasen sind unser tägliches Brot, fürchte ich.« Die Schafe sahen sich vielsagend an. »Interessanter ist aber, Gesichter vollkommen neu zu modellieren. Gesichter, die bei Unfällen verloren gingen - oder Gesichter, die von Geburt an entstellt sind. Das ist es, worauf ich mich spezialisiert habe. Glauben Sie mir - von den Brüsten reicher Damen halte ich mich fern. Au revoir, Mademoiselle!«

»Rebecca!«, sagte Rebecca. »Au revoir!« Sie lächelte den Häher an, und dann, sobald er ihr den Rücken zugedreht hatte, sprang sie auf und verschwand mit dem Buch im Schäferwagen.

»Schlecht!«, blökte Willow, das zweitschweigsamste Schaf der Herde in einem ungewöhnlichen Anfall von Gesprächigkeit, und die Schafe hatten das Gefühl, dass sie nicht nur das plötzliche Ende des Vorlesens meinte.

»Es ist nicht wirklich ihre Schuld«, sagte Cloud. »Sie ist ein bisschen wie ein Lamm. Neugierig. Jeder Schmetterling lenkt sie ab, und sie vergisst die wichtigen Sachen. Wie Geschichten.«

Cloud war ein erfahrenes Mutterschaf. In diesen Dingen kannte sie sich aus.

»Schmetterlinge?«, blökte Sir Ritchfield begeistert. Ritchfield war auch ein bisschen wie ein Lamm. Er mochte Schmetterlinge. Die Schafe senkten die Köpfe. Es war nicht sicher, ob Sir Ritchfield noch einmal Schmetterlinge sehen würde.

 

»Riechst du ihn?«, flüsterte Amaltee ehrfürchtig.

Die drei Ziegen hatten sich hinter eine Regentonne zurückgezogen und witterten.

»Ja!«, Mopple ächzte. Ein penetranter Ziegengestank zog auf einmal um das hübsche Haus und seine kleine Herde aus Ställen, Hüttchen und Schuppen. Ein Geruch, anders als der aller anderen Ziegen, die Mopple bisher gewittert hatte: älter. Voller. Reifer.

»Er ist wirklich hier«, sagte Circe leise. Zum ersten Mal sah sie besorgt aus - und kleinlaut. Mopple witterte wieder.

»Es kommt von da hinten«, sagte er. Dort stand, etwas entfernt von den anderen Gebäuden, eine kleine, windschiefe Holzhütte - und stank. Die Hütte sah sinister aus.

»Ich warte hier!«, sagte Mopple und rückte tiefer in die Schatten hinter der Regentonne.

»Kommt nicht in Frage!«, sagte Amaltee.

»Glaubst du, wir haben dich zum Vergnügen mitgenommen?«, fragte Circe.

»Nein!«, meckerte Amaltee.

»Nicht, dass es kein Vergnügen gewesen wäre«, tröstete Kalliope. »Aber du bist hier, um dir etwas zu merken.«

»Und den anderen Wollenden zu erzählen«, sagte Circe.

»Dir werden sie glauben!«, meckerte Amaltee. »Du bist ihr Gedächtnisschaf!«

Mopple seufzte, dachte an Zoras trittsichere Hufe und trabte schicksalsergeben hinter den Ziegen her.

Dann standen sie vor einer halboffenen Tür, der Gestank war fast unerträglich, und die Ziegen zauderten. »Und jetzt?«, blökte Mopple.

»Leise!«, zischelten die Ziegen. »Sonst hört er uns!«

»Wie wollt ihr ihn denn etwas fragen, ohne dass er uns hört?«, flüsterte Mopple zurück.

»Ich weiß noch nicht«, flüsterte Amaltee. »Ich weiß auch nicht, warum die Tür offen ist. Die Tür sollte zu sein.«

»Das ist gut«, sagte Mopple. »Wir können einfach hineingehen und ihn fragen.«

»Und er kann einfach heraus«, sagte Circe.

Mopple überlegte einen Augenblick. Es wurde langsam dämmrig, und im Dunkeln wollte er dem Wolfhund von vorhin ganz bestimmt nicht begegnen.

»Ich guck nach!«, sagte er. Mopple hielt die Luft an und streckte seinen Kopf durch die Türöffnung. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an das Dämmerdunkel gewöhnt hatten. Mopple zog den Kopf wieder zurück.

»Ich weiß, warum die Tür offen ist«, sagte er dann. »Schaut!«

Drei Ziegen streckten drei Köpfe durch die Tür und guckten, oben Circe, die lang und schlaksig war, in der Mitte Kalliope und unten Amaltee, die Kleinste von ihnen. Gelbes Stroh am Boden und eine wundervolle, reiche Witterung, so dick, dass man sie beinahe sehen konnte, wie Rauch oder Nebel oder einen Schleier aus Geheimnissen und Spinnweben. Und hinter diesem Schleier stand, schlafend, den Ziegenbart bis zum Boden, ein Bock. Wie alt er war! Wie alt er sein musste! Viele Leben alt! Und die Hörner...

Die Ziegen zogen ihre Köpfe wieder zurück.

»Er passt nicht durch die Tür!«, hauchte Kalliope. »Seine Hörner passen nicht durch die Tür! Weckt ihn bloß nicht auf«

»Ihr könnt ihn nicht im Schlaf fragen!«, Mopple wurde langsam ungeduldig. Es war Heuschuppenzeit, und er wollte in den Heuschuppen!

»Der Dicke hat Recht, ihr Zicken«, sagte auf einmal eine Stimme, so leise und sanft, dass Mopple und die Ziegen einen Moment brauchten, um zu verstehen, woher sie kam. Sie äugten wieder um die Ecke. Bernie war aufgewacht und sah sie mit funkelnden, jungen Augen an.

»Warum kommt ihr nicht herein?«, sagte er. »Wir könnten alle ein bisschen Heu fressen - frisches Heu -, und die Damen können mir Fragen stellen. Ich mag Fragen! Und Zicken von so verwirrender Schönheit mag ich noch mehr!«

Die drei Ziegen kicherten verlegen.

Mopple ließ sich das Ganze nicht zweimal sagen. Schon hatte er seinen Huf über der Schwelle und war unterwegs Richtung Heu.

Sofort hörten die Ziegen mit dem Kichern auf.

»Geh nicht!«, meckerte Amaltee panisch. »Bernie greift alles an, was durch diese Tür kommt. Alles! Sogar den Wind! Sogar die Sonne!«

Mopples Huf gefror in der Luft.

»Da hat die Dame leider auch Recht, Dicker«, sagte Bernie freundlich. »Ein Jammer, denn das ist wirklich gutes Heu.«

Mopple wich einen Schritt von der geöffneten Tür zurück.

»Verrückt«, hauchte Circe ehrfürchtig. »Vollkommen.«

»Nun lauft nicht gleich weg wegen so einer Kleinigkeit«, sagte Bernie im Halbdunkel des Stalls. »Ich nehme an, die Damen können ihre Fragen auch von dort draußen stellen. Es ist nur schade ums Heu!« Er war die freundlichste Ziege, die Mopple je kennen gelernt hatte.

Circe tänzelte nervös auf der Stelle.

»Nun fragt schon!« Mopple wollte nach Hause.

»Es ist eine Frage von vor vielen, vielen Jahren«, flüsterte Amaltee.

»Mindestens fünfen«, sagte Kalliope.

Die drei jungen Ziegen schauderten angesichts der gewaltigen Zeiträume.

»Du warst noch auf der Weide«, sagte Circe. »Ganz allein auf einer Weide, weil du schon damals alles angegriffen hast.«

»Sagt Kassandra!«, sagte Amaltee.

»Ah, die Weide!«, seufzte Bernie. »Und die Zicken! Schöngehörnte, kräuterfellige, federäugige Zicken! Glaubst du, der Zaun hätte mich von den Damen ferngehalten, von ihren duftigen Rücken! Pah!« Bernies Vorderhufe woben geheimnisvolle Muster ins Stroh.

Die Augen der Ziegen leuchteten bewundernd.

»Kassandra sagt auch, dass damals im Winter eine Ziege gebar.«

»Draußen.«

»Im Schnee.«

»Aber die Geburt ging schief, und das Zicklein war tot, und die Mutterzicke blutete und blutete.«

»Ein weißes Zicklein«, sagte Amaltee.

»Eine weiße Mutterziege«, sagte Kalliope.

»Und dann kam der Garou vorbei, der junge Garou, noch unerfahren in der Jagd, und hetzte die Mutterzicke durch den Schnee«, sagte Circe.

»Er konnte nicht anders«, sagte Kalliope.

»Und alles war rot«, sagte Amaltee und schauderte.

»Und dann kamst du!«

»Über den Zaun, als wäre er nicht da!«

»Und hast den Garou verjagt!«

»Erzählt Kassandra.«

»Kassandra war da.«

»Kassandra erinnert sich.«

»Aber Kassandra war damals schon blind und hat den Garou nicht gesehen«, sagte Amaltee.

»Aber du, Schönhörniger, du hast den Garou gesehen, vor vielen, vielen Wintern«, schmeichelte Circe.

»Wer, Weitgeweideter?«, flüsterten die drei Ziegen im Chor. »Wer war der Garou?«

»Ah«, flüsterte Bernie. »Meine Damen, meine Damen! Nicht so stürmisch! Die Jugend ist ein seltsamer Floh.«

Bernie blickte auf und blickte zur Tür hinaus, durch Mopple und die Ziegen hindurch, in weite Ferne.

»Ich erinnere mich...«, sagte er träumerisch. »Ich erinnere mich an so viel. An die Form der Wolken an diesem Tag, schöne, lange Formen wie Schilf im Wind, und an die vielen Lichter. Damals hatte das Schloss mehr Augen als heute. Ich erinnere mich, dass Calypso heiß war, mitten im Winter, was für eine Freude, und ich dachte nur an sie. Aber an das Gesicht des Garou erinnere ich mich nicht.«

Die Ohren der Ziegen sanken.

»Oh!«, hauchten sie.

»Er sah aus wie ein Mensch«, sagte Bernie. »Genau wie ein Mensch. Das hat mich gewundert, damals. Menschen sind nicht gut, aber Menschen sind anders. Zweibeiner! Wer kann sie schon unterscheiden, mit all ihren falschen Fellen?«

Bernie verstummte, und in die dämmrige Stille hinein schnitt das helle, scharfe Heulen eines Hundes. Der Wolfhund! Der Wolfhund hatte ihre Spur gefunden! Die Ziegen wirbelten herum und rannten in drei Richtungen davon, Plan B, Plan F und Plan Z. Mopple hatte keinen Plan, und er wusste nicht, welcher der dreien er folgen sollte. Er hatte das Gefühl, dass der Wolfhund nicht in Bernies Stall kommen würde - andererseits...

Der Moment des Zögerns war zu viel. Schon war zwischen den Ställen eine geifernde dunkle Masse aufgetaucht und schoss auf Mopple zu. Wenn er rannte, hatte er keine Chance. Mopple holte tief Luft, alle Luft, die in seinen runden Körper passte, und tauchte in das harzige Dunkel von Bernies Stall.

 

Othello blieb stehen. Der Wind fauchte, zu scharf und kalt, um ordentlich wittern zu können, und zu laut und heulend. Trotzdem hatte Othello das sichere Gefühl, dass jenseits der Ecke jemand stand.

Othello wartete einen Moment, um sich zu sammeln. Es war ein langer, wirrer Tag gewesen. Zuerst hatte er den Spaziergänger auf seinen Spaziergängen verfolgt. Der Spaziergänger spazierte nicht, er hastete in weiten Sprüngen durch den Schnee, kreuz und quer, bis zum Bach. Dann stieg er ins Wasser, mit seinen hohen, dunklen Stiefeln, und watete eine ganze Weile bachab. Zuerst kam das Othello wie eine besonders dumme Art der Fortbewegung vor, aber dann verstand er: der Spaziergänger wollte seine Witterung auslöschen - und seine Spuren im Schnee. Gar nicht so dumm, wie er aussah. Und während Othello vom Ufer aus dem watenden Mann im Bach folgte, hatte er immer mehr das Gefühl, dass er gar nicht so dumm war, wie er aussah. Bei weitem nicht. Der Dicke bewegte sich sparsam und genau, mit einer Eleganz, die Othello überraschte. Und spätestens, als er wieder aus dem Wasser stieg, war sich Othello sicher, dass er auch nicht wirklich dick war. Der Mann kletterte nicht etwa ans Ufer, sondern auf eine Baumwurzel und von dort aus eine Eiche hinauf, zog oben, auf einem dicken Ast hockend, seine dunklen Stiefel aus, wickelte sie in eine Tüte und versenkte sie in einem Loch im Stamm. Aus dem Loch im Stamm holte er andere Stiefel, die sehr ähnlich aussahen, Othello aber kleiner vorkamen.

Dann kletterte der Mann von der Eiche auf eine Buche auf eine andere Eiche und ließ sich endlich, fast geräuschlos, wieder in den Schnee fallen, an einer Stelle, wo schon Spuren waren, größere und kleinere, auf und ab. Tief im Wald krachte wieder ein Ast, und Othello verstand, wie mutig der Mann sein musste, um bei diesem Wetter auf Bäumen herumzuklettern.

Dann spazierte der Mann in täuschender Harmlosigkeit vor sich hin, bis er auf den kleineren Spaziergänger traf. Der Kleine fragte etwas. Der nicht wirklich Dicke quakte verlegen.

Der Kleine regte sich zischend auf.

Der Große zischte zurück.

Sie quakten eine Weile aufeinander ein, dann spazierten sie weiter, Seite an Seite, und sahen aus wie immer.

Othello war ihnen gefolgt. Das war gar nicht so einfach, denn für Menschen schienen die beiden außergewöhnlich wach und angespannt. Einmal hätten sie Othello im Schatten der Stämme fast entdeckt. Er verstand nicht wirklich, was hier passierte, aber er verstand, dass die beiden Männer gefährlich waren. Und nicht nur für Rehe.

Maple würde es verstehen - Othello musste es nur sehen.

Er folgte den Spaziergängern, die nicht wirklich Spaziergänger waren, auf breiten Spazierpfaden durch den Wald, am Rande eines kleinen Sees entlang, vorbei an einem hübschen, weißen Haus, über eine Wiese und durch eine Pforte aus Stein, bei der zwei Tiere saßen. Die Männer lachten.

Othello beäugte die Tiere vorsichtig. »Das sind Löwen«, dachte er, aber natürlich waren es nicht wirklich Löwen. Echte Löwen hatten eine Witterung wie Donner und Fell, das vor Hitze brannte. Diese hier waren von Schnee bedeckt. Othello schlüpfte durch die Pforte.

Sobald die beiden das Schloss umrundet hatten, wickelten sie sich noch tiefer in ihren Mantel aus Harmlosigkeiten, jede Bewegung eine Lüge.

Othello hatte im Zoo neben einem alten Schakal gewohnt, der sich hinkend stellte, so lange, bis die Zoospatzen unbekümmert in seinem Gehege herumhüpften und in den Fleischmahlzeiten des Schakals herumpickten. Und wenn sie zu nah kamen, schlug er zu. Die kleinen Vögel vergaßen das, jedes Mal. Auch die Männer hier verstellten sich. Es war klar, dass auch sie etwas jagten. Und nicht nur Rehe.

Der schwarze Widder folgte den beiden, bis sie in einem der größeren Hofgebäude verschwanden. Drinnen brannte ein kleines Feuer, und Essen duftete. Madame Fronsac öffnete den Männern die Tür und begrüßte sie freundlich durcheinanderquakend. Othello hatte genug gesehen. Er wusste ungefähr, wo die Weide war, und er wollte zurück und auf seine Herde aufpassen. Er musste auf sie aufpassen.

Aber jetzt stand jemand hinter einer Mauerecke und lauerte ihm auf. Othello war den ganzen Tag hinter den beiden Männern hergehuscht, und er hatte keine Lust mehr auf Versteckspiele. Der schwarze Widder senkte seine vier scharfen Hörner und galoppierte im weiten Bogen um die Ecke.

 

»Othello!«, krächzte Mopple.

 

»Mopple!«, blökte Othello und stoppte - gerade noch rechtzeitig.

 

Mopple wurden vor Erleichterung die Knie weich. Auch er hatte jemanden jenseits der Ecke gespürt und mit geschlossenen Augen auf etwas Harmloses gehofft. Die fette Tigerkatze vielleicht, oder höchstens die Fronsac. Aber Othello war noch viel besser. Er war nicht harmlos. Er war der Leitwidder, und er würde Mopple beschützen. Mopple konnte ein bisschen Beistand gut gebrauchen.

»Was tust du hier?«, fragte Othello.

»Die Ziegen... der Bock... ich weiß nicht mehr...« Mopple war mit den Nerven am Ende.

Bernie hatte sich zuerst gar nicht bewegt, und der Schäferhund war geifernd in der Tür gestanden, mit glimmenden Augen und gesträubtem Fell. Mopple hatte nur gezittert.

»Er wird nicht hereinkommen«, sagte Bernie schließlich mit einem Hauch von Bedauern.

Draußen war ein Pfiff zu hören, und der Wolfhund winselte. Dann drängte nur noch Dunkelheit durch die Türöffnung.

Der alte Ziegenbock drehte seinen Kopf hin und her und streckte den Hals.

»Ich... ich dachte, ich probiere doch ein bisschen Heu«, sagte Mopple mit dünner Stimme.

Bernie trat ein paar Schritte zurück und nahm Anlauf.

»Warum?«, krächzte Mopple.

»Ich weiß nicht«, sagte Bernie mit seiner sanften Stimme. »Es ist, wie es ist.«

Er senkte seine riesigen, weitgeschwungenen Hörner, und langsam, langsam, langsam, so dass Mopple jedes einzelne Haar in seinem Ziegenbart erkennen konnte, schnellte er auf Mopple zu. Mopple war zurückgewichen, so weit er konnte. Ein harter Aufprall, Horn auf Holz. Der Schuppen wackelte. Mopple taumelte. Er wartete auf den Schmerz, aber der Schmerz kam nicht.

»Nun mach die Augen schon wieder auf«, sagte Bernies freundliche Stimme.

Mopple blinzelte, dann kniff er die Augen schnell wieder zu. Kaum eine Nasenlänge vor ihm schwebte Bernies uraltes Ziegengesicht in der Dunkelheit. Mopple wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass etwas Schreckliches passieren würde, aber nichts passierte. Mopple machte die Augen wieder auf. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, warum nichts passierte: Bernie war mit seinen gewaltigen Hörnern stecken geblieben und klemmte nun zwischen Stallwand und Futterraufe.

»Oh!«, sagte Mopple, seltsam betroffen.

»Diese Dinge passieren«, sagte Bernie unbekümmert. »Kein Grund zur Sorge! Es gibt uns Gelegenheit, ein wenig zu plaudern.«

Bernie blickte Mopple erwartungsvoll an. Mopple fiel nichts ein.

»Du bist ein Schaf, nicht wahr?«, fragte Bernie. Mopple nickte.

»Und da sind noch andere Schafe? Und ihr wollt, stimmt's?« Wieder nickte Mopple.

»Es gibt etwas, das ihr über den Garou wissen solltet«, sagte Bernie und ruckte an seinen Hörnern, dass die Hütte wackelte. »Der Alte hatte eine Schwäche für gefährliche Tiere. Er hatte seine Hunde, und er hatte mich, und dann ... es ist nicht unwahrscheinlich, dass er auch den Garou aufgezogen hat. Ihr müsst euch fragen, wo der Alte den Garou versteckt hätte! In jemandem, der nicht weggehen wird, würde ich sagen. In jemandem, der hierbleibt.«

»Wer ist der Alte?«, fragte Mopple. Er stellte sich einen gehörnten Menschen mit einem gewaltigen Ziegenbart vor.

Bernie ruckte den Kopf hin und her. Die Futterraufe zitterte.

»Der Alte ist nicht«, sagte Bernie. »Der Alte war. Aber er hat Fallen hinterlassen. Fallen in den Köpfen. Schlingfallen und Schlagfallen. Verrückter als all seine Verrückten! Er hat mich mit Zucker gefuttert, so verrückt war er. Am besten, du gehst jetzt, bevor ich mich losreiße!«

Das ließ sich Mopple nicht zweimal sagen. Er drückte sich unbeholfen an Bernie vorbei und schlüpfte aus der Tür. Dann stand er erst einmal nur da und atmete. Wie süß die Luft war! Wie klar der Himmel! Und wie schön das Leben!

Von da an war alles Flucht: weg von den hübschen Häuschen, weg von Wolfhundwitterung und Ziegengestank, weg von der Dunkelheit des Waldes und den Stimmen der Menschen, weiter und weiter, durch harschen Schnee, der in seine Fesseln biss. Irgendwie hatte Mopple zum Schloss zurückgefunden, um das Schloss herum, bis zu der Ecke, hinter der jemand lauerte.

»Wir gehen jetzt zurück«, sagte Othello. »Sofort.«

Aber bevor sie in Richtung Hoftor aufbrechen konnten, hörten sie Schritte - und Stimmen.

Mopple und Othello postierten sich wieder hinter der Ecke, diesmal beide auf der gleichen Seite.

»... und wie schade, dass Ihre Mama nicht kommen kann«, sagte der Häher.

»Oh«, sagte Rebecca, »sie geht sehr früh schlafen. Da kann man nichts machen. Sie schläft wie ein Stein.«

»Ich werde ihr einen guten Wein herüberschicken«, sagte der Schlossbesitzer.

»Oh nein!«, sagte Rebecca schnell. »Ich ... ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Wein ist...«

»... ein Problem?«, fragte der Schlossbesitzer.

»Nicht gut für ihre Gesundheit«, sagte Rebecca bestimmt.

»Machen Sie sich denn gar keine Sorgen?«, fragte sie dann.

»Um Ihre Mama?«, fragte der Schlossbesitzer mit schmunzelnder Stimme.

»Um die Sache mit dem Reh!«, sagte Rebecca. »Unnatürlich!«

»Ach, wissen Sie, wir haben sowieso zu viele Rehe«, sagte der Häher. »Und unnatürlich ist es streng genommen auch nicht.«

»Nicht?«, fragte Rebecca. »Warum?«

»Nun, die ersten Lebewesen waren Einzeller. Einzeller altern nicht - sie teilen sich, wieder und wieder. Einzeller sind unsterblich.« Der Häher legte eine dramatische Pause ein. Die Sache machte ihm ganz offensichtlich Spaß. »Aber natürlich sterben auch Einzeller - wenn sie von anderen Einzellern gefressen werden. Die Evolution frisst ihre Kinder. Der erste Tod war ein gewaltsamer Tod - der gewaltsame Tod ist der natürlichste Tod überhaupt.«

Rebecca sagte nichts, aber Othello und Mopple, die ihre Schäferin gut kannten, konnten hören, wie sie »toll!« dachte.

»Aber natürlich arbeite ich mit der Polizei zusammen, damit diese Geschichte schnell aufgeklärt wird«, versicherte der Häher. Etwas in der Art, wie er »Polizei« sagte, machte Othello neugierig. Vorsichtig äugte er um die Ecke.

Rebecca und der Häher waren im Licht einer Laterne stehen geblieben. Rebecca lächelte. Ihre Lippen waren sehr rot. Der Häher hatte Othello den Rücken zugedreht. Er stand zu nah an Rebecca.Viel zu nah für Othellos Geschmack.

»Er lügt!«, sagte Mopple.

Othello nickte. Der Häher wollte der Polizei nicht helfen. Kein bisschen. Der Häher wurde beim Gedanken an die Polizei nervös.

Othello schlüpfte aus dem Schatten der Mauer hervor, hinter Rebecca und dem Häher her.

»Warte!«, blökte Mopple. »Ich dachte, wir wollen zurück?«

Othello drehte sich um. »Sie ist unsere Schäferin«, sagte er. »Und er lügt.«

Mopple überlegte nur einen Augenblick. Noch einmal allein zwischen den dunklen Hofgebäuden hindurch? Nein! Lieber bei Othello! Egal wo. Mopple versuchte, nicht so genau über das »wo« nachzudenken, und trabte hinter dem Leitwidder her.

»Ist das ein Wolf, der den Mond anheult?«, fragte Rebecca am Schlosstor. »Ihr Familienwappen?«

Der Häher lachte leise. »Meine Familie hat kein Wappen. Mein Vater hat dieses Schloss gekauft. Für seine Klinik. Leider, denke ich manchmal. Andererseits ist es ein imposantes Gebäude. Nein, wenn überhaupt, ist das Erics Wappen!«

»Erics?«, sagte Rebecca.

Der Häher nickte. »Sein Vater hat meinem Vater das Schloss verkauft und nur die Hermitage behalten.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Rebecca. »Und was steht da unten?«

»>La lune n'est pas trop loin<. Der Mond ist nicht unerreichbar. Mein Vater...« Der Häher schwieg. »Ihr Vater?«, fragte Rebecca.

»Ach«, sagte der Häher. »Ich dachte nur gerade, dass mein Vater es immer anders übersetzt hat: >Der Wahnsinn ist nicht weit<. Und wie Recht er hatte! Ich hoffe, Sie mögen Fisch?«

»Mhmmm, Fisch«, sagte die Schäferin. »Sehr!«

Auch Rebecca log.