24
»Rebecca?«
»Zach!«
War er wirklich überrascht, sie hier zu finden? Oder hatte er sie hier eingeschlossen? Rebecca hätte so gerne seine Augen hinter der Sonnenbrille gesehen.
Sie hatte mit allem Möglichen gerechnet: dem Ziegenhirten, der Plin, irgendeinem wahnsinnigen Alten. Sogar Maurice. Aber Zach? Zach war so offensichtlich durchgedreht mit seinem ganzen Agentenspleen, dass sie kein einziges Mal an ihn gedacht hatte. Aber jetzt erinnerte sie sich an das, was Maurice gesagt hatte: Zach war früher Patient in der Anstalt gewesen, und als Einziger hatte er nicht von hier weggewollt. War das die Ausbildung gewesen, von der er immer sprach? Hier? Hier im dritten Stock?
Sie beschloss, keine plötzlichen Bewegungen zu machen. Statt auf die Tür zu, ging sie ein paar Schritte von der Tür weg, Richtung Fenster, und drehte Zach den Rücken zu. Es war das Anstrengendste, was sie je in ihrem Leben getan hatte.
»Ein schöner Ausblick!« Wie ruhig ihre Stimme klang! Rebecca fühlte auf einmal, wie verzweifelt sie war.
Zach nickte und trat neben sie ans Fenster.
»Das war mein Zimmer. Früher, als ich noch in der Ausbildung war. Mein erstes Zimmer. Ich komme manchmal hierher zurück. Bist du auch in der Ausbildung, Rebecca?«
»Nein«, sagte Rebecca und hoffte, dass es die richtige Antwort war.
»Gut.« Zach nickte zufrieden. »Die Ausbildung ist hart. Du solltest nicht hier sein, Rebecca. Hast du den Wolf an der Decke gesehen?«
Rebecca sah, wie draußen der Horizont rosig wurde.
»Es ist nur ein Bild«, sagte Zach beruhigend. »Egal, was Eric sagt. Viele Dinge, die man sieht, sind nur Bilder. Wichtig ist, die Dinge hinter den Bildern zu sehen, hat der Alte gesagt. Das macht einen guten Agenten aus.«
Rebecca hielt es nicht mehr aus. »Kann ich... gehen?«, fragte sie und war geschockt davon, wie sehr ihre Stimme zitterte.
»Natürlich«, sagte Zach. »Wenn du nicht in der Ausbildung bist, ist das kein Problem. Du solltest sogar gehen.« Er lächelte. Ein echtes Zach-Lächeln.
Rebecca verstand auf einmal, dass Zach weiterhin nur Zach war.
Kein Wolf Kein Monster.
Ein freundlicher Kerl, der in einer Geschichte lebte. Einer Agentengeschichte. Schräg und komisch, aber auch klug und mutig und rührend. Er hatte sie nicht hier eingeschlossen. Er hatte sie nur gefunden. Rebecca hatte auf einmal sehr viel Respekt vor Zach. Für jemanden, der viel Zeit im dritten Stock verbracht hatte, war er geradezu erschreckend stabil.
Das brachte sie auf einen Gedanken.
»War noch jemand hier in der Ausbildung?«, fragte sie. »Nach dir? In diesem Zimmer? Jemand von hier?«
Zach nickte. »Der Alte hat immer gesagt, dass er der Beste war. Sein interessantester Fall. Wahrscheinlich waren wir alle ein wenig eifersüchtig.«
»Wer?«
»Der Sohn des früheren Schlossbesitzers. Alter Adel, hat der Alte gesagt, und... anfällig. Er hatte damals versucht, sich umzubringen, wegen irgendeiner Dummheit mit Drogen, und dann kam er hierher in Behandlung. Wie gerufen, sagte der Alte.«
»Eric?«, fragte Rebecca.
Zach nickte.
»Wir sollten gehen. Ich bring dich zurück, ja?«
Zach hielt ihr höflich die Tür auf, und Rebecca stürzte nach draußen. Der dunkle staubige Gang, in den sie trat, war einer der schönsten Orte, die sie je gesehen hatte.
»Da entlang?« Sie musste sich beeilen. Da unten waren ihre Schafe und ihre Mutter, und sie wussten von nichts.
»Kann ich dich etwas fragen?«, fragte Rebecca, als sie eine steile Wendeltreppe hinabstiegen, langsam, weil sich ihr der Kopf drehte. Ihr Kopf tat weh. Irgendjemand musste ihr auf den Kopf gehauen haben.
»Natürlich, Rebecca.«
»Was war vorher? Vor deiner Ausbildung?«
Ein verlorener Ausdruck trat in Zachs Augen. »Vorher? Ich weiß nicht. Man sagt, ich kam aus einer guten Familie.«
Zach sah Rebecca Hilfe suchend an.
Die Schafe waren früh auf den Beinen - fast vor dem ersten Licht. Sie hatten wenig geschlafen. Der Mond hatte sie nicht schlafen lassen. Der Mond - und das Heulen. Jetzt war alles still.
Das Schloss, der Hof, der Schäferwagen. Die grünen Männer waren längst verschwunden, von Mama war nichts zu sehen. Trotzdem war schon Futter im Trog, nicht das übliche Kraftfutter, aber schmackhaftes Getreide - vielleicht einen Hauch zu bitter.
Die Schafe kauten verschlafen darauf herum, bis plötzlich Madouc zu ihnen in den Trog sprang und nach ihren Nasen kickte.
»Fresst das nicht! Fresst das bloß nicht!«, meckerte sie. Die Schafe sahen die kleine Ziege empört an. »Warum denn nicht?«, blökte Heide.
»Das ist unser Trog«, sagte Maude, die morgens meistens schlechte Laune hatte. »Verschwinde!«
»Aber es riecht wie das Pulver!«, meckerte Madouc. »In der Hütte! Mit den Ratten! Schlafende Ratten! Schlafende Rehe! Schlafende Schafe! Das Werwolfspulver - versteht ihr nicht?«
»Es riecht ein bisschen bitter«, gab Maude zu.
Lane blickte hinunter auf Madouc, die noch immer den leuchtenden Hut trug. Den Hut, der sie beide gerettet hatte. »Ich glaube ihr!«, sagte sie.
Die Schafe hörten auf zu fressen, und Madouc erzählte von der Hütte im Wald, von dem Futter auf dem Tisch und von dem Pulver, von den Ratten und dem bitteren Geruch.
»Ich bin mir ganz sicher, dass das der Grund war, warum die Ratten geschlafen haben. Und warum Mopple ein schlafendes Reh gesehen hat. So jagt er. Er ist kein echter Wolf Er ist zu langsam. Deswegen kann er Rehe nur fangen, wenn sie schlafen. Er gibt ihnen Futter mit Pulver, das sie schlafen lässt. Und dann verletzt er sie, damit sie nicht mehr so schnell laufen können. Er hat versucht, mich zu verletzen. Und erst dann kann er sie jagen! Und dann jagt er sie!«
Die Schafe ließen vom Futtertrog ab. Sie fühlten sich - ein wenig benommen, vielleicht.
»Aber wir sind keine Rehe!«, sagte Cordelia. »Heißt das, er jagt jetzt uns?«
Niemand antwortete.
»Aber die Menschen!«, blökte Cloud. »Mama. Die Menschen im Schloss. Sie werden auf uns aufpassen, nicht wahr? Irgendjemand!«
»Ich glaube, wir müssen jetzt auf uns selbst aufpassen«, sagte Othello leise.
»Heißt das: er kommt?«, fragte Ramses.
»Er kommt!«, sagte Maple.
Ramses nickte stumm, und auf einmal sah er nicht nur jung und ängstlich aus, sondern irgendwie auch entschlossen. »Wann?«, fragte Zora.
»Sobald es hell ist«, sagte Maple. »Wenn er etwas sehen kann.«
»Wir sollten uns verstecken!«, blökte Mopple und versuchte, sich dünner zu machen. »Wo?«, fragte Heide.
»Hinter dem Heuschuppen!«, sagte Ramses. »Hinter dem Schäferwagen! Hinter der Futterkammer - wie vor dem Schießeisen!«
»Er wird uns wittern«, sagte Maude mutlos.
»Nein«, sagte Zora. »Nein, das wird er nicht.«
Die Schafe sahen sie erstaunt an.
»Er war hinter mir her«, erklärte Zora, »und ich bin gerannt, und immer wieder war er hinter mir her. Und dann bin ich stehen geblieben, und er kam nicht. Kam einfach nicht. Er hat mich nicht gefunden! Er hat mich nicht gefunden, weil er mich nicht wittern konnte. Nur hören und sehen, wenn ich mich bewege. Er ist kein echter Wolf. Er kann uns nicht riechen!«
Miss Maple nickte. »Wir können es versuchen. Wenn er uns nicht sieht, geht er vielleicht wieder.« »Und wenn er uns sieht?«, fragte Heide. »Dann ... dann locke ich ihn weg!«, sagte Othello.
Das Grau des Himmels wurde allmählich heller, und Othello trabte zur Wasserstelle, um mit einem kalten Trunk die Müdigkeit zu verscheuchen. Nebel kroch über den Boden. Das Schloss war still wie ein Stein. Genau genommen war es nur ein Stein. Ein hohler Stein. Nichts anderes.
Othello wollte gerade seine Nase ins Wasser tauchen, als ihm das Schaf vom Grunde entgegenblickte. Es sah entschlossen aus. Und stark. Viel stärker, als Othello sich fühlte. Er stellte sich vor, wie es wäre, mit dem Schaf vom Grunde Plätze zu tauschen. Das Schaf vom Grunde konnte die Herde gegen den Garou verteidigen, während er hier unter dem Wasser stehen würde, ganz still, ganz sicher. Es war nur ein Gedanke, und trotzdem...
Konnte das Schaf vom Grunde überhaupt aus dem Wasser steigen? Konnten Schatten sich selbstständig machen? War der Garou vielleicht so etwas wie ein herrenloser Schatten? Ein Wesen, das vom Grunde emporgestiegen war und seinen Menschen gefressen hatte? Oder saß der Mensch noch immer irgendwo unter dem Wasserspiegel und traute sich nicht mehr heraus? Othello war sich sicher, dass die Menschen einen Menschen vom Grunde hatten und dass sie ihn nicht immer so richtig verstehen konnten.
Der schwarze Widder blickte hinunter in das dunkle Wässer, und auf einmal war Melmoth neben dem Schaf vom Grunde aufgetaucht. Melmoth, sein Lehrer. Das Schaf, von dem Othello die wichtigsten Dinge in seinem Leben gelernt hatte. Wind und Freiheit. Kämpfen und Nicht-Kämpfen, an den richtigen Stellen. Melmoth schwieg und sah ihn nur an, doch Othello verstand, was er ihm sagen wollte. Keine Worte. Eher ein Gefühl für das, was wichtig war. Das Gefühl half, und Othello fühlte sich wacher.
Othello nickte Melmoth zu, und Melmoth nickte zurück. Dann tauchte Othello entschlossen seine Nase ins Wasser und trank. Das Schaf vom Grunde verschwamm, und Othello fühlte sich besser. Er sah sich um. Neben ihm stand Sir Ritchfield, einen weichen, lämmerhaften Ausdruck in den Augen. Othello verstand, dass auch er Melmoth gesehen hatte.
»Er fehlt mir!«, sagte Sir Ritchfield.
Othello nickte. »Er fehlt mir auch.«
»Eine Herde ist wie ein ... wie ein Lamm«, sagte Sir Ritchfield. »Man muss sie beschützen. Egal, was kommt. Man muss sie beschützen, weil sie da ist.«
Othello schwieg.
»Er hätte sie beschützt.«
»Ich weiß.«
»Der Abend beginnt, wenn die Nachtigall singt...«
Othello blickte zu Ritchfield herüber. Obwohl der alte Widder noch neben ihm stand, wusste Othello, dass er in Wahrheit längst davongetrabt war auf die duftende Nachtwiese seiner Jugend. Othello beneidete ihn fast. Er selbst war noch immer hier, knietief im Schnee, während der Garou irgendwo dort im Morgengrauen auf sie lauerte.
Es war wieder ein bisschen heller geworden. Die Schafe verschwanden hinter dem Heuschuppen, hinter der Futterkammer und hinter dem Schäferwagen, wo sie nicht zu sehen sein würden, wenn der Garou vom Schloss kam. Hoffentlich kam der Garou vom Schloss!
Heathcliff versteckte sich nicht sofort wie die anderen, sondern trabte zögernd zu Othello hinüber. Nebel stieg aus dem Bach, und der Horizont wurde hell. Die Welt war so schön.
»Hast du Angst?« Heathcliff musste es wissen.
»Das ist nicht wichtig«, sagte Othello. »Es ist meine Herde. Das ist wichtig. Ein Leitwidder wird seine Herde gegen alles verteidigen. Alles. Selbst gegen den Himmel.«
Heathcliffs Augen wurden groß. »Gegen den Himmel?«
»Ich kannte einen Widder, der seine Herde gegen den Himmel verteidigt hat.« Othellos Stimme war weich und klar. »Gegen das Gewitter. Die Herde floh in den Wald, er aber blieb auf dem Hügel und hat das Gewitter angegriffen. Er kam nicht zurück.«
Othello schwieg eine Weile. »Es ist nicht immer so wichtig, ob man Angst hat.«
Der Nebel war golden geworden, der Horizont rosa wie eine Schafsschnauze. Es war ein schöner Moment.
»Geh auf die Eiche!«, sagte Othello plötzlich. »Er wird nicht nach oben sehen. Schafe klettern nicht auf Bäume. Geh auf die Eiche, Heathcliff«
»Ich bin ein Schaf«, sagte Heathcliff entschlossen. »Ich klettere nicht auf Bäume!«
»Ich weiß«, sagte Othello. »Du wirst auch auf der Eiche ein Schaf sein.«
Aber Heathcliff ging nicht auf die Eiche. Er traute sich nicht. Alles, was er in diesem Moment wollte, war, zwischen anderen Schafen zu sein. Möglichst vielen Schafen. Einer Herde.
Und dann kam der Garou doch nicht vom Schloss, sondern aus dem Schrank. Heathcliff erinnerte sich plötzlich an den Traum, den er heute Nacht geträumt hatte. Der Traum war kein Traum gewesen, und Eric war doch nicht harmlos.
Der Garou streckte sich und sah die Schafe an, wie sie sich nutzlos von der falschen Seite hinter Heuschuppen und Schäferwagen zusammenballten. Einen Moment lang, bevor die Angst sie überschwemmte, kamen sie sich einfach nur dumm vor.
Der Garou starrte. Ein seltsamer Glanz lag in seinen Augen, wie Othello ihn von verrückten Zirkushunden kannte. Er war kein Wolf. Er war etwas ganz anderes. Othello dachte, dass die Idee, die die Menschen von einem Wolf hatten, etwas sehr viel Schlechteres sein musste als der Wolf selbst. Der Wolf damals im Zoo war schrecklich gewesen, aber gleichzeitig sehr lebendig.
Der Wolf in dem Menschen hatte etwas Räudiges, Totes. Die Schafe blinzelten benommen zum Schrank hinüber, und Othello stellte sich zwischen den Garou und seine Herde. Ein Messer blitzte auf.
Dann erinnerte sich Othello an den Plan. Weglocken. Der Schwarze scharrte die Hufe.
Es gefiel ihm nicht, in diesem Moment von seiner Herde wegzulaufen und sie ungeschützt zurückzulassen. Was, wenn es doch Mehrwölfe gab?
Kein Kampf ist besser als jeder Kampf mahnte eine Stimme aus seiner Vergangenheit. Eine graue, gute Stimme. Othello dachte an Melmoth im Wasser und rannte doch noch los.
Vielleicht wollte er nicht wirklich rennen.
Vielleicht war er zu schwarz.
Vielleicht war er zu wütend.
Jedenfalls folgte ihm der Garou nicht.
Othello drehte in weitem Bogen um und galoppierte zurück, aber es war schon fast zu spät - der Garou war schon nah vor den benommenen Schafen am Heuschuppen, und er hatte ein Messer in der Hand. Das Messer war nicht lang, aber es sah scharf und gefährlich aus - wie ein einzelner Zahn.
Dann stellte sich auf einmal Ritchfield vor seine Herde, Hörner und Entschlossenheit und Stolz. Ritchfield war zu alt, um noch ernsthaft zu rennen, aber er konnte vor seiner Herde stehen, mit gesenktem Kopf und einem silbernen Stern im Gehörn, und das tat er. Der Garou blinzelte irritiert und blieb stehen. Ritchfield fühlte sich jung und schwerelos, und er konnte das Meer riechen. Er äugte zur Seite, um zu sehen, ob vielleicht Melmoth neben ihm stand. Melmoth war immer neben ihm, wenn es wichtig war. Doch Melmoth war nicht da. Der Duft des Meeres verschwand, und Ritchfield roch auf einmal nur noch Schnee. Und dann sah er Melmoth doch noch, nicht neben ihm, sondern hinter dem Garou. Er stand nur da, mächtig und grau und sehr freundlich, und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Ritchfield verstand. Er verstand ihn immer. Jetzt war nicht die richtige Zeit zu gehen. Der Weg zurück war noch nicht zu Ende.
Ritchfield trat einige Schritte nach hinten, in die Herde hinein, und Melmoth nickte ihm zu, dann verwandelte er sich in einen Wirbel Schnee und war verschwunden.
Der Garou trat noch näher. Es war der Moment vor dem Sprung, der Moment, an dem alles stillsteht.
Der Jäger. Die Beute. Die Zeit.
Und einer stand doch nicht still.
Ein Schaf sprang aus dem Schutz der Herde nach vorn, dann galoppierte es direkt an der Nase des Garou vorbei. Davon.
Um sein Leben.
Um das Leben aller Schafe.
Kein Wolf kann einem panisch fliehenden Schaf widerstehen, auch der Garou nicht.
Der Garou wirbelte herum und rannte hinter Ramses her.
Über den Hof am Graben entlang, unten glitzerndes Eis. Zwischen die Hecken. Finger in der Wolle, sie fassen … vergebens. Ecken, Hecken und wieder Hecken. Enge. Das Labyrinth!
Hufe auf Eis, Hufe auf Schnee. Wolfsstiefel auf Schnee.
Nebel. Atem. Leben. Stiefel auf Schnee.
Ramses galoppierte panisch zwischen den Hecken hindurch. Warum war er losgerannt? Warum nur? Und warum in das vertrackte Labyrinth? Warumwarumwarum?
Um die Ecke. Um die Ecke. Geradeaus. Spritzender Schnee. Folge dem linken Horn. Folge dem rechten Horn. Folge dem Geruch des Waldes. Um die Ecke.
Halt.
Ramses stemmte alle vier Hufe in den Boden, bremste vor einer grünen Wand. Die Stiefel des Wolfes waren jetzt sehr nah, und Ramses steckte in einem Gefängnis aus immergrünen Blättern und fühlte sich schwindelig. Er konnte nicht mehr atmen. Er konnte nicht mehr denken. Er senkte die Hörner. Als er den Atem des Wolfes hören konnte - einen entsetzlich ruhigen Atem -, preschte er los, ihm entgegen.
Warumwarumwarum?
Ramses und der Garou erreichten die Ecke gleichzeitig. Der Garou wich zur Seite - wie schnell er war, wie nah und schrecklich -, und sein Messer züngelte nach Ramses. Ramses rannte einfach. Rannte und rannte. Um viele Ecken. Über viel Schnee. Vorbei an den Klauen steinerner Raubtiere. Hinein in den Wald. Rennen.
Der Wind sang in seinen Ohren. Die Müdigkeit war verschwunden.
Rennen. Leben. Nichts war einfacher.
Erst als sich immer mehr Bäume in seinen Weg stellten und sein Lauf mehr dem Zickzack eines panischen Hasen glich, merkte Ramses, dass das Rennen doch nicht so einfach war.
Nicht mehr. Ein stechender Schmerz saß in einem seiner Hinterbeine und Kälte in seinen Lungen. Er blieb stehen - nur einen Augenblick - und prüfte die Luft.
Der Wald war verwirrend, ein eisiges, würziges Wirrwarr von Witterungen. Von überall her. Moos und Schnee. Tausend fremde Tiere.
Der Blutgeruch schockte Ramses. Ein böser, vertrauter Geruch.
Sein eigenes Blut.
Das Messer des Garou hatte tief in Ramses' Schenkel gebissen und rote Tropfen hervorgelockt. Rote Tropfen im Schnee.
Eine Spur hatte sich an seine Fersen geheftet. Eine lange, gierige Zunge, ein Strick, der ihn an die Augen des Wolfs band. Ein Strick, gegen den Ramses kämpfen musste. Ein Strick, der ihn schwächte und verriet.
Es war so früh. Das Licht würde noch einen ganzen Wintertag auf den Boden fallen und ihn an den Garou verraten. Den Garou, der durch das Unterholz brach, nicht weit von hier.
Ramses atmete tief ein. Die Angst war überall um ihn, groß und schrecklich, schrecklicher noch als der Garou selbst. Ramses musste durch sie hindurchsehen. Hinter der Angst war etwas, das ihm helfen konnte.
Kämpfen.
Rennen allein war nicht mehr genug, nicht mit der roten Spur. Was Ramses brauchte, war ein Duellplatz, wo ein Schaf Anlauf nehmen konnte, Haken schlagen und den Himmel sehen. Ein Ort ohne Hinterhalt.
Ramses galoppierte weiter. Bäume, Bäume, Bäume. Bäume und Schnee. Manchmal hörte er Schritte hinter sich, manchmal Rascheln und Knacken. Einmal Atem. Irgendwann wurde es still, und alles, was Ramses hören konnte, war sein eigenes Herz.
Er blieb stehen und lauschte. Nichts. Der Boden unter seinen Füßen hatte sich verändert, war hohl und tückisch geworden, die Bäume hatten sich entfernt. Über ihm schwebte hell und weit ein morgengrauer Himmel. Ramses stand weiß auf der weißen Eisfläche eines Sees, mit wilden Augen und zwei Hörnern. Zum ersten Mal in seinem Leben dachte er an seine Hörner.
Die rote Spur war ihm gefolgt.
Das Eis flüsterte.
Am Rande des Sees hockte der Garou, das Messer in der Hand, und starrte ihn verzückt an.
Ramses blieb ruhig in der Mitte des Sees und witterte. Der Wolf würde ihm auf das Eis folgen, so viel war klar. Auf das glatte Eis. Der Wolf konnte nicht anders. Aber der Wolfstand noch immer auf seinen zwei ungelenken, unpraktischen Menschenbeinen. Wenn er stürzte, würde Ramses angreifen. Wenn nicht...
Die rote Spur züngelte um Ramses' Hufe. Sie lockte den Garou. Schließlich zog sie ihn hinauf auf das Eis. Kein Schaf, das seine weichen Raubtierbewegungen sah, hätte ihn so einfach für einen Menschen gehalten. Schauer strichen über Ramses' Nacken, aber er blieb stehen und senkte seine kleinen Hörner. Auf einmal hörte er... Musik vielleicht.
»Fall!«, dachte Ramses, als der Wolf in einen lockeren Trab fiel.
»Fall!«, als das Messer aufblitzte, grau und klar wie der Himmel.
Aber der Wolf fiel nicht. Der Wolf rannte, und, unendlich langsam, kam er auf Ramses zu.
Ramses' Hufe bohrten sich in das Eis.
Dann ein lauter Knall. Ein Schuss?
Eine Schar Krähen schnitt durch den Himmel.
Der Garou stand still. Er blickte nach unten, dort wo sich das blinde Eis spaltete und Dunkelheit hervorquoll.
Der Garou gab einen winselnden Laut von sich und sank auf die Knie. Das Eis lachte und brach, ein Labyrinth von Lachfalten auf der weißen Haut des Sees.
Dann geschah etwas Seltsames.
Das Messer des Garou hatte Ramses vergessen und hackte verzweifelt auf die Dunkelheit unter ihnen ein. Eis schrie und zerriss.
Der See streckte seine dunklen, hungrigen Finger nach Ramses aus, und der junge Widder vergaß den Garou, vergaß alles, sogar die Angst, und galoppierte auf das Ufer zu, so schnell er konnte. Kälte griff nach seinem linkem Hinterhuf, aber er schüttelte sie ab und rannte weiter, schneller als Kälte und Eis, so lange, bis weicher Schnee sich um seine Hufe schmiegte.
Draußen auf dem See war nichts mehr. Kein Wolf. Kein Mensch. Nur ein Loch wie ein gezahnter Rachen und die rote Spur, die sich in der Dunkelheit verlor.
Doch am Rande des Sees saß ein roter Fuchs und blickte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen zu dem Loch hinüber.
Ramses drehte dem See den Rücken zu und trabte los. Heraus aus dem Wald. Zurück auf die Weide.
Nach Hause, wo eine schläfrige Herde und eine sehr erschöpfte Rebecca am Schäferwagen auf ihn warteten.