9

Die Schatten der Schafe waren länger und dünner geworden, sogar Mopples, und die Stimmung war düster. Selbst Miss Maple musste zugeben, dass die Ermittlungen nicht besonders zügig vorangingen. Niemand schien sich vor dem Silberpapier zu fürchten. Nicht die beiden Wintergäste, die gemeinsam zu einem ihrer vielen Spaziergänge aufgebrochen waren, der eine groß, der andere klein, nicht Eric, der im Schlossturm wie gewohnt mit Ziegenkäse hantierte, nicht mal die dicke Fronsac. Auch der Gärtner, ihr heimlicher Wunschkandidat, war ohne ein Anzeichen von Furcht am Zaun entlangspaziert, einen kleinen Tannenbaum im Schlepptau. Der Tannenbaum landete an der Schlossmauer, auf einem Haufen mit anderen Tannenbäumen.

Eine kleine fette Wolke schob sich vor die Sonne, und die Schatten verschwanden.

»Morgen ist Frühling«, sagte Sir Ritchfield gut gelaunt. Die anderen teilten seinen Optimismus nicht.

Die Schäferwagentür knarrte wieder auf, und Malonchot kam heraus. Rebecca trat mit ihm auf die oberste Schäferwagenstufe und reichte ihm seinen braunen Hut. Sie sah blass aus.

»Au revoir!«, sagte Rebecca.

Malonchot setzte den Hut auf. »Fürchten Sie sich ein wenig vor Geistern, Mademoiselle, das ist leider alles, was ich Ihnen beim momentanen Stand der Ermittlungen raten kann.«

»Au revoir«, wiederholte Rebecca.

Malonchot machte eine Verbeugung, die ein wenig albern aussah - vielleicht nur, weil er so groß war -, drehte sich um und ging zurück Richtung Schloss.

Mama und Rebecca sahen ihm nach.

»Mehr solche Rehe«, murmelte Rebecca. »Und wahrscheinlich nicht nur Rehe, sonst würde die Polizei keinen Inspektor vorbeischicken, nicht? Aber mehr sagt er nicht.«

»Du warst also doch allein im Wald?«, sagte Mama.

»Nein.« Rebecca schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur, dass er Zach in Frieden lässt. Die suchen doch sicher einen Irren. So etwas kann doch nur ein Irrer gemacht haben. Und wenn sie erst rausfinden, was Zach so alles... selbst wenn er ein Alibi hat, liefern sie ihn wahrscheinlich irgendwo ein.«

»Was, wenn es Zach war?«, fragte Mama. »Ihr seid nicht zusammen zurückgekommen, oder?«

Rebecca seufzte. »Wir haben Yves getroffen. Na ja, nicht wirklich getroffen. Eher von weitem gesehen, mit einer Axt über der Schulter. Und auf einmal wollte ihn Zach unbedingt... beschatten, hat er gesagt. Observieren. So ist Zach, man kann ihm das nicht ausreden. Er hat sich meine Mütze übergezogen - zur Tarnung. Und auf einmal war ich allein im Wald, ohne Mütze. Ich war ein bisschen sauer, ehrlich gesagt.«

»Was, wenn er es war?«, wiederholte Mama.

»Das war nie und nimmer Zach«, sagte Rebecca. »Zach lebt hier schon seit Ewigkeiten.«

Mama schnaubte verächtlich. »Wer auch immer das war, lebt hier wahrscheinlich schon seit Ewigkeiten. Das ist nicht gerade eine Gegend, wo Fremde nicht auffallen. Und weißt du was: wenn ich hier schon seit Ewigkeiten leben würde, wäre ich auch wahnsinnig.«

Mama warf theatralisch die Arme in die Luft, dann blickte sie auf die kleine glitzernde Uhr an ihrem Handgelenk. »So spät schon? So spät schon? Ich muss mich fertig machen!«

Normalerweise machte Mama nur Rebecca fertig. Die Schafe guckten gespannt, aber Mama verschwand nur rumorend in den Tiefen des Schäferwagens.

»Und soll ich dir noch was sagen?«, rief es von dort. »Das war nie und nimmer ein Polizist!«

»Unsinn«, sagte Rebecca. »Du und deine Theorien!«

Und dann, wortlos, machte sie die Schäferwagentür wieder zu.

 

Die Verhandlungen waren bisher nicht besonders erfolgreich verlaufen. Sie hatten es mit Schmeicheleien versucht, mit Bitten, mit Drohungen, sogar mit einem kleinen Kick gegen die Stoßstange. Doch das große Auto schwieg verstockt.

»Es mag einfach nicht!«, sagte Maude. »Ich kann riechen, dass es nicht mag!« Maude wollte zurück auf die Weide.

Die Schafe waren nicht naiv. Sie wussten, dass Autos nicht auf die gleiche Art lebendig waren wie Schafe oder Hunde oder Menschen. Aber manchmal bewegten sie sich, und manchmal bewegten sie sich nicht. Irgendetwas musste sie dazu bringen, sich zu bewegen. Aber was?

Heide dachte an Wollensstärke und plusterte sich ein bisschen auf. »Ach was! Wir müssen ihm nur die richtigen Sachen versprechen!«

Die Schafe sahen sich an: waren Futterrüben, Kraftfutter und Übernachtungsmöglichkeiten im Heuschuppen etwa nicht die richtigen Sachen gewesen?

»Und du kannst auf unserer Weide herumfahren, so oft du willst!«, blökte Heide.

Zora und Maude machten bestürzte Gesichter. Nun ging Heide doch etwas zu weit!

Glücklicherweise zeigte das Auto auch jetzt kein Interesse.

»Seltsam«, sagte Zora. »Eigentlich sollte es sich über einen Ausflug freuen, nicht? Ihm muss doch langweilig sein, ganz allein in der Scheune.«

»Ihm ist sicher langweilig«, sagte Maude. Maude war auch langweilig.

»Vielleicht mag es Geschichten«, sagte Heide plötzlich.

Sie beschlossen, dem Auto eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte mit Autos. Schafe mochten Geschichten, in denen Schafe vorkamen - leider gab es die viel zu selten, und meistens waren die Schafe nur im Hintergrund. Sie konnten sich gut vorstellen, dass Autos Geschichten mit Autos mochten. Nur kannten die Schafe keine Geschichten mit Autos. Aber vielleicht konnte man eine der romantischen Pamela-Geschichten, die sich seit Georges Zeiten auf der Weide erzählt wurden, ein wenig anpassen?

»Auf einem entlegenen Landgut...«, begann Heide.

»Scheune!«, blökte Zora.

»In einer entlegenen Scheune lebte eine arme, aber adelige Familie von Autos. Es waren alles schöne Autos, aber das jüngste Auto war das schönste. Es, äh, hatte eine besonders schöne Farbe ...«

»Weiß!«, schlug Maude vor.

»... und war wild und freiheitsliebend.«

»... und fuhr gerne eine freundliche Herde von Schafen spazieren!«, blökte Zora. Die Geschichte sollte auch ein wenig pädagogisch sein.

»Genau!«, blökte Maude.

»Genau!«, blökte Heide.

Sie sahen das Auto erwartungsvoll an, aber falls es die Anspielung verstanden hatte, ließ es sich nichts anmerken.

»Das junge Auto lebte glücklich und zufrieden, bis eines Tages ein mysteriöser Fremder in das Dorf kam...« »Scheune!«, blökte Zora.

 

Plötzlich stand Mama wieder auf den Stufen des Schäferwagens, mit wehenden, dunklen Kleidern und einer Zigarette in der Hand. Und - kein Zweifel - sie trug ihr zweites Gesicht! Und ihre zweite Hand - oder waren es ihre dritte und vierte? Hände mit leuchtend roten Fingernägeln jedenfalls. Mamas zweites Gesicht glitzerte und glänzte, hatte rote Wangen und einen breiten roten Mund und Augen, die schwarz umrandet waren wie die Augen eines Kerry-Hill-Schafes, das die Schafe einmal bei einem Schafswettbewerb in Irland kennen gelernt hatten. Das Kerry-Hill-Schaf hatte gewonnen.

Der Wind blies Mamas Kleidung zurück, und zum ersten Mal sahen die Schafe, wie hager sie unter ihren vielen weiten Kleidungsstücken sein musste. Hager und zart. Dann blies der Wind in eine andere Richtung, und Mama sah wieder groß und imposant aus. Rebecca im Schäferwagen hustete.

»Das stinkt!«, sagte sie.

»Räucherstäbchen«, sagte Mama unbeeindruckt.

Jetzt rochen es die Schafe auch, sogar hier draußen auf der Weide. Einer von Mamas unergründlichen Gerüchen, zweifellos. Als würde etwas brennen. Etwas aus einem fernen Land.

»Ich halte das nicht aus!«, ächzte Rebecca. »In so einem kleinen Raum!«

»Das bringt uns zum Thema«, sagte Mama und schnipste in einem unbeobachteten Moment ihren Zigarettenstummel auf die Weide. »Meine Kunden brauchen ein bisschen... Privatsphäre.«

»Du willst, dass ich verschwinde!«, sagte Rebecca. »Aus meinem Schäferwagen!«

»So dramatisch ist es auch wieder nicht«, sagte Mama. »Geh spazieren! Du gehst doch sonst gerne spazieren!«

»Toll!«, sagte Rebecca. »Hier läuft ein mordender Irrer durch die Gegend, und ich soll spazieren gehen, damit du hier drinnen deinen Hokuspokus auffuhren kannst.«

Aber sie hatte schon ihre braune Brotmütze auf und den roten Schal um den Hals und einen grünen Anorak in der Hand. »Ich muss sowieso die Schafe versorgen.«

Mama lächelte mit ihrem großen, roten Mund.

»Dieser Hokuspokus ist die beste Möglichkeit herauszufinden, was hier los ist. Es redet ja sonst niemand mit uns. Es gibt hier ein Geheimnis, und ich werde ...«

Sie brach ab und blickte Richtung Schloss. Ein Mann stand am Weidetor. Ein Mann mit breiten Schultern und dunklen Haaren. Ein Mann, dessen Hemdskragen selbst im Winter aufgeknöpft war und dunkles Brusthaar ahnen ließ. Yves.

»Der Typ?«, fauchte Rebecca. »In meinem Schäferwagen? Der möchte doch nur herumschnüffeln.«

Mama zuckte mit den Achseln. »Kunde ist Kunde. Das Schicksal macht keine Unterschiede.«

»Das Schicksal vielleicht nicht«, sagte Rebecca. »Aber ich!«

Sie packte den Futtereimer und stapfte wortlos an Yves vorbei, der Rebecca mit vielen Zähnen angrinste. Dann blickte er hinauf zu Mama, die noch immer in der Tür des Schäferwagens stand, rauchend und wehend und dunkel, und sein Lächeln verschwand. Einen Augenblick sah es fast so aus, als hätte er Angst. Dann grinste er wieder, trat ins Dunkel des Schäferwagens, und die Tür knarrte hinter ihm ins Schloss.

 

»>Komm!<, sagte er. >Die Zukunft liegt vor uns!< Und gemeinsam ritten ...«

»Fuhren!«, blökte Zora.

»...fuhren sie in den Sonnenuntergang.«

Zora, Maude und Heide sahen das Auto erwartungsvoll an. Zugegeben, der Mittelteil war vielleicht ein bisschen konfus geworden, weil sie noch nie ein Auto ein anderes Auto in seinen starken Armen - Armen? - wegtragen gesehen hatten, und weibliche Autos, die sich als männliche Autos verkleideten, konnten sie sich auch nicht vorstellen. Wenn sie ehrlich waren, konnten sie sich nicht einmal als Männer verkleidete Menschenfrauen vorstellen - »Das muss man doch riechen! Das muss man doch riechen!«, hatte Maude geblökt, als George ihnen damals auf den Schäferwagenstufen die Geschichte das erste Mal vorgelesen hatte.

Doch eigentlich war es eine ganz ordentliche Geschichte geworden, mit grünen Wiesen und glänzenden Asphaltstraßen und einem Duell - »Unfall!«, hatte Zora geblökt - und viel Sonne und natürlich Schafen im Hintergrund.

Und tatsächlich: die Augen des Autos leuchteten plötzlich auf.

»Es macht mit!«, blökte Heide erleichtert. Wenn man es recht betrachtete, war es wirklich eine außerordentlich gute Geschichte gewesen.

»Da kommt jemand!«, blökte Maude.

Jetzt hörten es die anderen auch: Schritte in der Scheune. Schritte auf sie zu.

»Ausgerechnet jetzt!«, murmelte Heide.

Die Schafe versteckten sich hinter dem Auto und sahen unter seinem Bauch hindurch zu, wie zwei gelbe Gummistiefel die Gasse zwischen den Maschinen entlangkamen und schließlich vor dem extragroßen Auto stehen blieben.

Und stehen blieben.

Und stehen blieben.

Dann setzten die Stiefel sich wieder in Bewegung – direkt auf sie zu! Die Schafe sahen sich nach besseren Versteckmöglichkeiten um. Hinter ihnen war die Scheunenwand, links versperrte eine große Säge den Weg, und von rechts kamen die Stiefel seitlich um das große Auto herum.

»Da rein!«, blökte Zora und sprang nach vorne, von einem Strohballen auf eine Werkzeugbank und von dort hinein ins hohle Hinterteil des Autos. Heide und Maude hinterher. Drinnen roch es noch genauso, wie es damals gerochen hatte, nach alter Aufregung und noch älterem Stroh.

Etwas klackte. Dann Stille.

»Wolle!«, blökte Heide.

Sie hatte Recht. In einem Haken in der Autowand hatte sich ein ordentliches Büschel weißer Wolle verfangen.

»Ritchfield!«, sagte Heide und schnüffelte. »Nein: Willow! Oder Maple? Mopple?«

Maude, das Schaf mit dem besten Geruchssinn der Herde, steckte ihre Nase in die Wolle.

»Und?«, fragte Zora. »Wer ist es?« Zora hoffte heimlich, dass es Mopples Wolle war.

»Ich weiß nicht«, sagte Maude nach einer Weile. »Niemand. Niemand, den wir kennen!«

Das extragroße Auto schauderte und setzte sich langsam in Bewegung.

 

Rebecca hatte neues Stroh in den Heuschuppen geschaufelt und neues Heu in die Raufe. Sie hatte ihnen eine ordentliche Portion Kraftfutter in den Trog gekippt und die Zäune kontrolliert. Die Schafe guckten nervös. Sie wussten, was als Nächstes kommen würde: das Zählen. Rebecca würde herausfinden, dass Maude, Heide und Zora fehlten. Doch gerade als sie den Finger zum Zählen spitz machte, ging die Schäferwagentür wieder auf, und Yves trat heraus. Rebecca wartete ab, bis er von der Weide verschwunden war, dann entspannte sie ihren Zählfinger und schlenderte betont beiläufig Richtung Schäferwagen. »Tee?«, fragte Mama.

Rebecca nickte. »Und - hast du was herausgefunden?« Die Schafe rückten neugierig näher.

Mama zündete sich eine Zigarette an. »Eigentlich... ich habe ihn nicht wirklich verstanden. Und er hat mich wahrscheinlich auch nicht verstanden.«

»Das hätte ich dir gleich sagen können«, sagte Rebecca. »Hat er wenigstens gezahlt?«

»Er, ahm, er hat kein Geld, er wird in... ähm... Naturalien bezahlen«, sagte Mama und blies Rauch in die Luft. »Warte nur ab!«

Und wirklich: ein paar Minuten später war Yves wieder auf der Weide und schleppte einen kleinen, aber scheinbar schweren Kasten zum Schäferwagen. Er stellte den Kasten auf die Schäferwagenstufen und grinste Rebecca an. Rebecca grinste eisig zurück.

Die Schafe witterten: war etwas Fressbares in dem Kasten? Aber sie rochen nur Metall und Plastik und ein bisschen Glas.

»Ein Fernseher!«, sagte Rebecca beeindruckt, als Yves zum zweiten Mal von der Weide verschwunden war. »Hast du ihm denn was Gutes prophezeit?«

»Eigentlich nicht.« Mama machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ehrlich gesagt, seine Karten sahen ziemlich miserabel aus. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so miserable Karten gesehen zu haben. Eine große Veränderung - das war noch das Beste, was ich aus den Karten lesen konnte. Aber vielleicht hat er es ja nicht verstanden.«

»Du glaubst nicht wirklich daran, oder?«, fragte Rebecca. »Daran, dass die Karten dir die Zukunft verraten? Ich meine: wie soll das denn gehen?«

Mama saugte an ihrer Zigarette. »Wenn ich es gar nicht glauben würde, wäre ich nicht gut darin. Und wenn ich es zu sehr glauben würde, wäre ich auch nicht gut darin. Es ist ein Zwischending.«

Die Schafe waren verwirrt: beim Wahrsagen schien es eben nicht darum zu gehen, was war - und schon gar nicht darum, was wahr war. Eher darum, was sonst noch so alles passieren könnte. Rebecca hatte ihre Landkarte »Wohin?« gefragt, und die Karte hatte mehr oder weniger zuverlässig geantwortet. Mama fragte ihre Karten »Was?«, und die Karten antworteten Dinge. Nicht Dinge, die passiert waren, sondern Dinge, die erst passieren würden. Mamas Karten waren eine Art Landkarte für die Zukunft!

»Das sind die Karten, die du fressen musst!«, raunte Cordelia Mopple zu.

Mopple nickte pflichtbewusst.

Dann stand schon der nächste Mensch erwartungsfroh am Weidezaun, und Rebecca verschwand mit wehendem Schal Richtung Schloss, um in der Schlossbibliothek heimlich hinter dem Rücken der Schafe ein Buch zu lesen. Die Schafe hatten sie längst durchschaut.

Der nächste Mensch war der Gärtner. Ausgerechnet der Gärtner! Der Gärtner war ihr natürlicher Feind. Er bewachte den Apfelgarten und die Brombeerhecken, die Erbsenpflanzen und den Gemüsegarten. Er bewachte alles, was schmeckte. Die Ziegen behaupteten sogar, dass er ein Haus hatte, in dem immer Sommer war, und dort zog er angeblich heimlich Salat.

Die Schafe beobachteten seinen Weg über die Weide mit Unbehagen. Alles an ihm war bleich, und nichts an ihm war hell. Er kam den Schafen wie eine Rübe vor, die in der Erde wuchs - eine ungenießbare, bleiche Rübe, und er blickte zu oft zu Boden. Sie waren froh, als er endlich mit Mamas zweitem Gesicht im Schäferwagen verschwunden war.

Die Schafe versuchten, sich zu entspannen. Othello focht mit Sir Ritchfield ein Spielduell, Lane wetzte sich an einem Pfosten, Cloud wollte, und Mopple fraß. Das Winterlamm probierte Namen aus, Linton und Hannibal und Summerfield - aber keiner der Namen passte.

 

Irgendwann kam Hortense mit den beiden Kindern durch das Hoftor. Hortense war oft mit den zwei Kindern unterwegs, obwohl es gar nicht ihre eigenen Jungmenschen waren.

Die Kinder spielten im Niemandsland zwischen Hoftor und Weide. Zuerst spielten sie Verstecken, und dann, als das langweilig wurde, weil es zwischen Weidezaun und Hoftor nur zwei Versteckmöglichkeiten gab, einen Busch und einen Brunnen, spielten sie Zach. Sie schlichen herum, untersuchten den Boden und sprachen mit ihrem Handgelenk.

Hortense fröstelte. Blickte nach links, blickte nach rechts, als würde sie auf jemanden warten.

Weder Hortense noch die Kinder fürchteten sich vor dem Silber.

Die Kinder begannen, sich mit Schneebällen zu bewerfen. Es war ein wenig unfair, weil Jean viel besser zielen konnte. Dann fand der kleine Jules einen runden Stein und steckte ihn in die Tasche.

Hortense fröstelte noch mehr, lehnte sich gegen den Zaun und schielte heimlich Richtung Schäferwagen. Ein großer dunkler Schatten erschien im Hoftor und sah ihr ein wenig beim Frösteln zu: Malonchot.

Jules kam auch an den Zaun und wollte Hortenses Hand halten. Aber Hortense machte scheuchende Bewegungen. Auf einmal hatte Jules den Stein wieder aus der Tasche geholt und schleuderte ihn auf die Schafweide. Er traf Mopple an der Flanke. Mopple blökte erschrocken und flüchtete hinter den Schäferwagen. Auch Jules sah erschrocken aus.

»Warum macht er das?«, blökte Cloud.

»Ich weiß nicht«, sagte Lane.

An Jules' überraschtem Gesicht konnte man sehen, dass er selbst nicht wusste, warum er den Stein geworfen hatte. Die Schafe zogen sich weiter vom Weidezaun zurück, ein wenig betreten. Auf Mopples Flanke saß ein kleiner Schmerz - und niemand auf der ganzen Welt wusste, warum.

Der ältere der beiden Jungmenschen quakte und warf einen Schneeball, aber der jüngere quakte nicht zurück, sondern sah weiter aufmerksam und ein wenig staunend die Schafe an. Er ließ sich auf alle Viere nieder, kroch herum, wühlte im Schnee und rupfte Gras. Manchmal blökte er sogar - dünn und schief und unprofessionell. Jean schien das zu gefallen. Schon war auch er auf allen Vieren und steckte wie sein kleiner Bruder die Nase in den Schnee.

»Ich glaube, sie grasen«, sagte Cordelia anerkennend.

Die Schafe sahen den Jungmenschen wohlwollend zu. Es war immer schön, Menschen bei vernünftigen Tätigkeiten zu beobachten. Schön und selten.

»Warum fressen sie das Gras nicht?«, fragte Mopple. Der wichtigste Punkt beim Grasen schien den Jungmenschen entgangen zu sein.

»Sie lernen erst«, sagte Cordelia. »Hortense sollte ihnen zeigen, wie es richtig geht.«

Aber Hortense stand nur weiter unnütz herum und fröstelte. Als Malonchot sich neben ihr gegen den Weidezaun lehnte, zuckte sie zusammen. Malonchot machte wieder eine seiner albernen kleinen Verbeugungen und begann zu quaken. Hortense quakte zurück.

»Was sie wohl sprechen?«, fragte Ramses. »Wir brauchen eine Ziege!«, blökte Miss Maple aufgeregt. »Sofort!«

Mopple wollte nicht mehr mit, aber Ritchfield und das Winterlamm begleiteten Maple wieder zum Ziegenzaun.

Die zottige Braune, die Gescheckte und eine junge Grauziege sahen ihnen neugierig entgegen.

Maple holte tief Luft.

»Sie wollen schon wieder!«, sagte die Gescheckte zur Braunen.

Die Braune nickte ernst.

»Könnt ihr verstehen, was die Menschen am Zaun sagen?«, fragte Maple.

»Bestimmt!«, meckerten die drei Ziegen im Chor.

»Und«, fragte das Winterlamm aufsässig, »was sagen sie?«

»Wir können es nicht von hier verstehen«, sagte die braune Ziege. »Sie sind zu weit weg!«

Maple scharrte ungeduldig im Schnee.

»Ich will wissen, was sie sagen!«, seufzte sie schließlich.

Die Ziegen warfen sich viel sagende Blicke zu, schüttelten die Köpfe und machten lange Ziegenbärte.

»Ich mach's!«, sagte auf einmal die junge Grauziege und war schon durch den Zaun geschlüpft.

»Verrückt!«, murmelte da die gescheckte Ziege, und die Braune nickte anerkennend.

 

Maple, das Winterlamm und die Grauziege trabten zügig über die Weide, auf die zwei Menschen zu. Ritchfield blieb am Ziegenzaun stehen und machte den Ziegen Komplimente. Die Ziegen kicherten.

»Ich heiße Amaltee«, sagte die junge Grauziege im Trab. »Und du?«

Das Winterlamm schwieg.

»Und?«, fragte Maple, als sie sich bis auf eine Steinwurfweite an Malonchot herangewagt hatten.

Amaltee legte den Kopf schief und lauschte.

»Er sagt, sie riecht wie ein Mittagsherbstapfel, heiß und reif, und es macht ihn verrückt.

Sie sagt, sie begehrt sein starkes Horn. Ihr Rücken ist nur für ihn.

Er sagt, er wird alle Duelle für sie gewinnen. Sie will nicht warten, sie begehrt ihn sofort. Im Schweinestall.«

»Wirklich?«, fragte das Winterlamm fasziniert. Im Winter? Besonders paarungswillig sahen die beiden Menschen eigentlich nicht aus.

»Nein.« Amaltee machte die Unterlippe lang. »Sie haben über das Wetter gesprochen. Dass es noch mehr Schnee geben wird. Das dümmste Huhn weiß, dass es mehr Schnee geben wird. Das ist zu langweilig. Schlimm genug, dass es einmal gesagt wurde.«

Maple schnappte aufgebracht nach Luft. »Wenn du nicht sagst, was sie sagen ...«

»Ich sage, was sie hätten sagen sollen. Das ist die Freiheit des Dichters.«

Maple hatte keine Lust zu fragen, was die Freiheit des Dichters war. Sicher wieder irgendein verrücktes Ziegending. Das Winterlamm wusste auch nicht so genau, was die Freiheit des Dichters war - trotzdem war ihm auf einmal schwindelig vor Glück. Die Freiheit des Dichters war wichtig. Sie war so etwas wie ein Ort. Der Ort, wo Dinge waren, wie sie sein wollten und sollten. Namen, zum Beispiel. Und die Ziegen wussten, wo er zu finden war!

»Sie sprechen über den Hirten«, sagte Amaltee. »Darüber, dass er nicht mit der Polizei sprechen wird. Darüber, dass er nicht mehr er selbst ist, nach all dem, was er durchgemacht hat.«

Die Schafe wussten, was der Ziegenhirt durchmachte, Tag für Tag: Ziegen. Kein Wunder, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte.

Amaltee legte den Kopfschief. »Aber wenn er nicht mehr er selbst ist - wer ist er dann?«

»Der Große will wissen, wo sie schläft«, fuhr sie fort. »Im Schloss, sagt sie. Wohin ihr Fenster geht, möchte er wissen.« Die Ziege kicherte. »Ein gehendes Fenster habe ich noch nie gesehen!«

Ein verträumter Ausdruck trat in ihre Augen. »Weiter!«, blökte Miss Maple nervös.

»Ihr Fenster geht auf die Weide«, sagte die Ziege. »Geht bei euch ein Fenster auf die Weide? Bei uns nicht! Sie lügt!«

»Er fragt, ob sie etwas Ungewöhnliches gesehen hat durch ihr weidendes Fenster.

Sie sagt gar nichts. - Er sagt auch nichts. - Sie sagt noch immer nichts.«

»Ja, ja«, sagte Miss Maple. »Das hören wir auch.« »Ich höre das nicht«, sagte die Ziege. Endlich sagte Hortense doch etwas. Sehr leise. »Nicht in letzter Zeit, sagt sie«, fuhr die Ziege fort. »Aber früher.«

Hortense sprach weiter, schnell und leise. »Vor zwei Wintern hat sie hier...«

Die Ziege verstummte.

»Ja?«, fragte Miss Maple ungeduldig.

»Nichts«, sagte die Ziege. »Gar nichts.«

»Aber sie sprechen doch!«, blökte Maple.

»Ich höre nichts«, murmelte Amaltee und trottete davon, zurück zum Ziegenzaun. Hortense machte eine weite Handbewegung, über die ganze Schafweide, und schauderte und sprach und sprach, so lange, bis Jules, der seine unerfahrenen Graseversuche längst aufgegeben hatte, wieder zu ihr hinüberrannte und einen Zweig mit einem kleinen, klaren Eiszapfen mitbrachte. Hortense hörte auf zu sprechen, ging in die Hocke und umarmte Jules.

Die dicke Fronsac kam aus dem Hoftor und wartete in einiger Entfernung, bis sich Malonchot von Hortense verabschiedet hatte. Dann gingen die beiden Frauen auf den Schäferwagen zu, ohne ein Wort. Die Schafe vermuteten, dass Hortense so etwas wie die Übersetzerziege der Fronsac war. Daran konnte man sehen, dass der Fronsac die Sache wichtig war.

Als Mama die Tür des Schäferwagens öffnete, um den Gärtner heraus- und Hortense und das Walross hereinzulassen, entkamen nicht nur aromatische Rauchschwaden aus dem Schäferwagen. Die Schafe sahen auch ein Papierding, das kurz durch die Luft flatterte und dann im kalten Schnee kleben blieb.

Die Schafe setzten sich neugierig in Bewegung. Anders als die Landkarte war diese Karte nicht gemustert. Sie war kleiner, härter und glänzender und zeigte ein Bild.

»Ein Mensch, der vom Baum fällt!«, blökte Sir Ritchfield selbstbewusst. Ritchfield hatte noch immer die besten Augen der Herde, daran gab es keinen Zweifel. Im nächsten Moment war die Karte schon zwischen Mopples Zähnen verschwunden. Mopple kaute pflichtbewusst, schluckte und kaute zur Sicherheit noch mal.

Gespannt warteten die Schafe darauf, was nun passieren würde.