EINS

26. September 1998

Da die Jungs draußen in Barrys Truck warteten, tat Jill ihr Möglichstes, sich zu beeilen. Es war nicht leicht, denn das Haus war seit ihrer letzten Anwesenheit gefilzt worden. Bücher und Papiere lagen über den Boden verstreut, und es war zu dunkel, um sicher um die Trümmer herumzunavigieren. Dass man ihr kleines Haus geschändet hatte, war erschütternd, wenn auch nicht allzu überraschend. Jill glaubte, dass sie wohl dankbar sein musste, im Grunde kein sentimentaler Typ zu sein und dass die Eindringlinge ihren Reisepass nicht gefunden hatten.

In der bedrückenden Dunkelheit des Schlafzimmers tastete sie blind nach sauberen Socken und Unterwäsche, stopfte sie in ihren abgetragenen Rucksack und wünschte sich, sie hätte das Licht einschalten können. Im Finstern eine Tasche zu packen, war schwieriger, als es sich anhörte das wäre es selbst dann gewesen, wenn man das Haus nicht verwüstet hätte. Aber Jill wusste, dass sie es sich nicht erlauben konnten, irgendwelche Risiken einzugehen. Es war unwahrscheinlich, dass Umbrella jedes ihrer Häuser überwachen ließ, aber falls doch jemand auf der Lauer lag, konnte Licht hinter einem der Fenster alles verraten.

Wenigstens kommst du hier weg. Das Versteckspiel hat ein Ende.

Das stimmte, immerhin. Sie waren unterwegs ins Ausland, um das Hauptquartier ihres Gegners zu stürmen und höchstwahrscheinlich dabei umgebracht zu werden.

Aber wenigstens würde sie nicht länger in Raccoon herumhängen müssen. Und nach dem, was sie in letzter Zeit in den Zeitungen gelesen hatte, war das vielleicht das Beste. Zwei Angriffe in der vergangenen Woche Chris und Barry schienen die Gefahr immer noch zu unterschätzen, und das obwohl sie wussten, was das T-Virus mit einem Menschen anrichtete. Barry vertrat die Ansicht, dass Umbrella Raccoon schon aus PR-Gründen „retten“ würde, ehe neue Opfer zu beklagen sein würden. Chris unterstützte diese Meinung, darauf bauend, dass Umbrella, sozusagen, nicht noch einmal in den eigenen „Vorgarten“ scheißen würde, wie unlängst bei der Katastrophe auf dem Spencer-Anwesen geschehen.

Doch Jill war nicht bereit, sich solchen Spekulationen hinzugeben Umbrellas bisheriges Verhalten hatte gezeigt, dass das Unternehmen nicht in der Lage war, die gefährlichen Folgen seiner Forschungen unter Kontrolle zu halten. Und nach dem, womit Rebecca und David Trapps Team es in Maine zu tun bekommen hatten

Jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken sie mussten ihren Flug erwischen. Jill schnappte sich die Taschenlampe von der Kommode und war schon fast auf dem Weg ins Wohnzimmer, als ihr einfiel, dass sie nur einen BH dabei hatte. Mürrisch wandte sie sich um, öffnete die Schubladen und begann zu wühlen. Genug Klamotten hatte sie bereits, ausgesucht aus den Sachen, die Brad zurückgelassen hatte, als er aus Raccoon geflohen war. Sie und die Jungs hatten sich für einige Wochen in seinem verlassenen Haus verschanzt, nachdem Umbrella Barrys Haus angegriffen hatte, und wenn auch nichts von Brads Sachen passend für Chris’ hochgewachsene oder Barrys gedrungene Statur war, hatte zumindest Jill sich bedienen können. Damenunterwäsche jedoch war etwas, mit dem der S. T. A. R. S.-Pilot nichts am Hut zu haben schien. Und Jill konnte sich Besseres vorstellen, als in Österreich aus dem Flugzeug steigen zu müssen, um sich mit BHs einzudecken.

„Eitelkeit, dein Name ist Körbchengröße“, murmelte sie leise und grub in dem Haufen. Sie fand das durchscheinende Stück erst beim zweiten Durchwühlen der Schublade und stopfte es in die Tasche, während sie bereits in Richtung des vorderen kleinen Zimmers des gemieteten Hauses eilte. Sie war erst zum zweiten Mal hier, seit sie untergetaucht waren, und sie hatte das Gefühl, dass sie für eine ganze Weile nicht zurückkommen würde. Auf einem der Bücherregale stand ein Bild ihres Vaters, das sie mitnehmen wollte.

Flink huschte sie durch das im Dunkeln liegende Chaos, schirmte die Taschenlampe mit einer Hand ab und richtete den schmalen Strahl in die Ecke, in der das Regal gestanden hatte. Das Umbrella-Team hatte es umgeworfen, sich offenbar aber nicht die Mühe gemacht, die Bücher selbst in Augenschein zu nehmen. Gott allein mochte wissen, wonach sie überhaupt gesucht hatten. Wahrscheinlich nach Hinweisen darauf, wo sich die abtrünnigen S. T. A. R. S.-Mitglieder versteckt hielten. Nach dem Angriff auf Barrys Haus und der verheerend verlaufenen Mission in Caliban Cove machte sich Jill nicht länger vor, dass Umbrella sie einfach ignorieren würde.

Jill fand, wonach sie suchte, ein reißerisch aufgemachtes Taschenbuch mit dem Titel Prison Life ihr Vater hätte gelacht. Sie hob es auf, blätterte darin und hielt inne, als das Licht auf Dick Valentines schiefes Grinsen fiel. Er hatte das Foto zusammen mit einem seiner Briefe jüngeren Datums geschickt, und Jill hatte es in das Buch gesteckt, damit sie es nicht verlor. Wichtige Sachen zu verstecken war eine Angewohnheit, der sie in jungen Jahren verfallen war und eine, die sich gerade wieder einmal bezahlt machte.

Sie ließ das Buch fallen; die Notwendigkeit, sich zu beeilen, war mit einem Mal vergessen, als sie auf das Foto hinabblickte. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihr Vater war vermutlich der einzige Mann, den sie kannte, der im grellorangefarbenen Overall eines Hochsicherheitsgefängnisses gut aussah. Nur für einen Augenblick fragte sie sich, was er wohl von ihrem derzeitigen Dilemma halten würde um ein paar Ecken herum war er schließlich dafür verantwortlich, jedenfalls dafür, dass sie sich S. T. A. R. S. überhaupt angeschlossen hatte. Nachdem er in den Knast gewandert war, hatte er sie gedrängt, aus dem Geschäft auszusteigen, und sogar eingeräumt, dass es falsch von ihm gewesen sei, sie zur Diebin auszubilden

Ich wähle also einen legalen Job, arbeite für die Gesellschaft anstatt gegen sie und in Raccoon beginnt das Sterben. S. T. A. R. S. deckt eine Verschwörung zur Herstellung von Biowaffen mittels eines Virus’ auf, das Lebewesen in Monster verwandelt. Klar, dass uns niemand glaubt, und die S. T. A. R. S.-Angehörigen, die Umbrella nicht kaufen kann, werden entweder in Misskredit gebracht oder eliminiert. Also tauchen wir unter, versuchen Beweise auszugraben und tauchen mit leeren Händen wieder auf, während Umbrella weiter mit diesen gefährlichen Forschungen herumspielt und weitere anständige Menschen ermordet werden. Jetzt sind wir auf dem Weg zu einem voraussichtlichen Selbstmordkommando in Europa, um zu sehen, ob wir das Hauptquartier eines Multimilliarden-Dollar-Unternehmens infiltrieren und diese Leute davon abhalten können, den gottverdammten Planeten zu vernichten. Ich frage mich, was du davon halten würdest. Vorausgesetzt, du würdest so eine aberwitzige Geschichte überhaupt glauben was würdest du denken?

„Du wärst stolz auf mich, Dick“, flüsterte sie, sich kaum bewusst, dass sie die Worte ausgesprochen hatte und ganz und gar nicht sicher, ob sie der Wahrheit entsprachen. Ihr Vater hatte gewollt, dass sie eine weniger gefährliche Arbeit verrichtete, und verglichen mit dem, womit sie und die anderen Ex-S.T.A.R.S.-Mitglieder es momentan zu tun hatten, war Einbruch etwa so gefährlich wie Buchführung.

Nach einem langen Augenblick verstaute sie das Foto sorgsam in einer Tasche ihres Rucksacks und ließ den Blick über die zertrümmerten Überreste ihres kleinen Zuhauses schweifen, wobei sie immer noch an ihren Vater dachte und daran, was er wohl über den seltsamen Lauf sagen würde, den ihr Leben genommen hatte. Wenn alles gut ging, würde sie ihn ja vielleicht persönlich danach fragen können. Rebecca Chambers und die anderen Überlebenden der Maine-Mission hielten sich nach wie vor versteckt und arbeiteten sich, nach Unterstützung suchend, heimlich durch die S. T. A. R. S.-Organisation. Sie warteten darauf, was Jill, Chris und Barry ihnen über das Umbrella-Hauptquartier würden sagen können. Der offizielle Sitz befand sich in Österreich, obwohl sie alle annahmen, dass die eigentlichen Verantwortlichen für das T-Virus ihren eigenen geheimen Unterschlupf an einem anderen Ort hatten

… den du aber nie finden wirst, wenn du deinen Hintern nicht endlich in die Gänge kriegst. Die Jungs werden denken, du hättest dich zu einem Nickerchen hingelegt.

Jill schulterte den Rucksack und sah sich ein letztes Mal im Zimmer um, bevor sie sich zur Küche und damit in Richtung der Hintertür in Bewegung setzte. Der Geruch von faulem Obst hing in der Dunkelheit, ausgehend von einer Schale mit Äpfeln und Birnen auf dem Kühlschrank, die längst zu Brei geworden waren. Obwohl sie das wusste, jagte ihr der Geruch einen Schauer über den Rücken. Sie eilte auf die geschlossene Tür zu und versuchte die plötzlichen lebhaften Erinnerungen an das, was sie auf dem Spencer-Anwesen vorgefunden hatten, abzublocken.

… bei lebendigem Leib verwesend, feuchte, welke Finger ausstreckend, Gesichter, die zu Eiter und Fäulnis schmolzen

„Jill?“

Sie konnte den überraschten Aufschrei kaum unterdrücken, als draußen vor der Tür Chris’ leise Stimme erklang. Die Tür öffnete sich, und in der Dunkelheit, die von einer fernen Straßenlaterne nur wenig aufgehellt wurde, erschien Chris’ Silhouette.

„Ja, ich bin hier“, sagte Jill und trat vor. „Sorry, dass ich so lange gebraucht habe. Umbrella hat hier alles mit ’nem Bulldozer umgepflügt.“

Selbst im kaum vorhandenen Licht konnte sie das laxe Grinsen auf seinem jungenhaften Gesicht erkennen. „Wir dachten schon, die Zombies hätten dich erwischt“, sagte Chris, und obgleich sein Tonfall locker war, konnte sie echte Sorge dahinter hören.

Jill wusste, dass er versuchte, die Anspannung zu mildern, fand aber dennoch nicht die Kraft in sich, um zurückzulächeln. Zu viele Menschen waren gestorben durch das, was Umbrella in den Wäldern direkt außerhalb der Stadt entfesselt hatte, und wenn sich der Ausbruch noch näher bei Raccoon City ereignet hätte

„Das ist nicht komisch“, meinte sie leise.

Chris’ Grinsen schwand. „Ich weiß. Bist du bereit?“

Jill nickte, obwohl sie sich nicht unbedingt bereit fühlte für das, was vor ihnen lag. Andererseits hatte sie sich auch nicht bereit gefühlt für das, was hinter ihnen lag. Binnen weniger Wochen hatte ihr Weltbild einen massiven Wandel erfahren, waren Albträume zu Alltäglichem geworden.

Rücksichtslose Firmen, verrückte Wissenschaftler, Killerviren. Und lebende Tote

„Yeah“, erwiderte sie schließlich. „Ich bin bereit.“

Gemeinsam traten sie aus dem Haus. Als Jill die Tür hinter ihnen schloss, ereilte sie plötzlich eine ebenso seltsame wie beunruhigende Gewissheit: Dass sie nie mehr einen Fuß in dieses Haus setzen dass keiner von ihnen je wieder nach Raccoon City zurückkehren würde!

Aber nicht, weil uns etwas passiert. Es wird etwas passieren, aber nicht uns.

Stirnrunzelnd, die Hand am Türknauf, zögerte sie einen Moment und versuchte, dem bizarren Gedanken irgendeinen Sinn abzugewinnen. Wenn sie die Aufklärung überlebten, wenn sie Erfolg hatten in ihrem Kampf gegen Umbrella, warum sollten sie dann nicht mehr nach Hause kommen? Sie wusste es nicht, aber das Gefühl war unangenehm stark. Etwas Schlimmes würde geschehen, etwas

„Hey, bist du okay?“

Jill schaute Chris an, sah auf seinem Gesicht dieselbe Besorgnis, die sie schon zuvor bemerkt hatte. Die vergangenen Wochen hatten dazu geführt, dass sie einander ziemlich nahe gekommen waren, wenn sie auch annahm, dass Chris ihr gerne noch ein wenig darüber hinaus näher gekommen wäre.

Ach, und du nicht?

Das Gefühl drohender Unannehmlichkeiten schwand bereits, andere Verwirrungen und Unsicherheiten traten an seine Stelle. Jill schüttelte sich innerlich, nickte Chris zu und ignorierte ihre Vorahnungen. Das Flugzeug nach New York würde nicht warten, weil sie in Selbstanalysen schwelgte oder sich um Dinge sorgte, die sie nicht steuern konnte, ob sie nur eingebildet waren oder nicht.

Dennoch, dieses Gefühl

„Machen wir, dass wir verdammt noch mal hier wegkommen“, sagte sie und meinte es auch so.

Sie traten hinaus in die Nacht und ließen das dunkle Haus hinter sich zurück, einsam und still wie eine Gruft.

S. D Perry - Resident Evil - Sammelband 02 - Der Umbrella-Faktor
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