ACHT
Polizeichef Brian Irons stand in einem der Gänge seines privaten Reiches und versuchte, zu Atem zu kommen, als er die Erschütterung des Gebäudes spürte. Er hörte sie auch – hörte etwas. Ein fernes Splittern, dumpf und abrupt.
Das Dach, dachte er abwesend, irgendetwas passiert auf dem Dach …
Irons machte sich nicht die Mühe, dem Gedanken bis hin zu einer Schlussfolgerung nachzugehen. Was immer auch passiert war, es konnte die Sache nicht wesentlich schlimmer machen.
Brian Irons drückte sich mit seiner gutgepolsterten Hüfte von der Wand ab und hob Beverly so sanft wie er es nur konnte hoch. Gleich würden sie am Fahrstuhl sein, dann war es nur noch ein kleines Stück bis zu seinem Büro; dort konnte er sich ausruhen, und dann –
„Und dann …“, murmelte er, „das ist die große Frage, nicht wahr? Und was dann?“
Beverly antwortete nicht. Ihre perfekten Züge blieben reglos und stumm, ihre Augen geschlossen – aber sie schien sich enger an ihn zu schmiegen, ihr schlanker Körper presste sich gegen seine Brust. Aber das entsprang sicher nur seiner Einbildung.
Beverly Harris, die Tochter des Bürgermeisters. Die junge, hinreißende Beverly, die in ihrer blonden Schönheit so oft seine schuldbeladenen Träume heimgesucht hatte. Irons schloss sie fester in die Arme, ging weiter auf den Lift zu und versuchte, sich seine Erschöpfung nicht anmerken zu lassen – für den Fall, dass sie aufwachte.
Als er den Aufzug erreichte, taten ihm Arme und Rücken weh. Er hätte sie wahrscheinlich in seinem privaten Hobbyraum lassen sollen, den er in Gedanken immer als „das Sanktuarium“ bezeichnet hatte – dort war es ruhig, und vermutlich war es einer der sichersten Bereiche des Reviers. Doch als er beschlossen hatte, zum Büro zu gehen, um sein Tagebuch und ein paar persönliche Sachen zu holen, hatte er feststellen müssen, dass er es einfach nicht über sich brachte, sie zurückzulassen. Sie sah so verletzlich aus, so unschuldig. Er hatte Harris versprochen, auf sie aufzupassen – was also, wenn sie während seiner Abwesenheit angegriffen wurde? Was, wenn er aus dem Büro zurückkam und sie einfach – weg war? Weg wie alles andere …
Die Arbeit eines Jahrzehnts. Aufbau eines Netzwerks, das Knüpfen der Verbindungen, das sorgfältige Positionieren … alles weg, einfach so.
Irons legte das Mädchen auf dem kalten Boden ab und öffnete die Aufzugtür, verzweifelt bemüht, nicht an all das zu denken, was er verloren hatte. Jetzt war Beverly das Wichtigste.
„Ich werde dich beschützen“, murmelte er – und hob sich da nicht ein Winkel ihres perfekten Mundes um eine Nuance? Wusste sie, dass sie in Sicherheit war, dass Onkel Brian sich um sie kümmerte? Als sie ein Kind gewesen war, als er die Familie Harris zum Abendessen zu besuchen pflegte, da hatte sie ihn stets so genannt: „Onkel Brian“.
Sie weiß es. Natürlich weiß sie es.
Er schleifte sie in die Liftkabine und setzte sie in der Ecke ab, blickte zärtlich auf ihr engelhaftes Gesicht hinab. Plötzlich überkam ihn eine Woge fast väterlicher Liebe, und es überraschte ihn nicht, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, Tränen des Stolzes und der Zuneigung. Seit Tagen schon war er Opfer solcher Gefühlsausbrüche – Wut, Entsetzen und auch Freude. Er war nie ein besonders emotionaler Mensch gewesen, doch er hatte gelernt, diese machtvollen Gefühle zu akzeptieren, sie sogar einigermaßen zu genießen; zumindest waren sie nicht allzu verwirrend. Es hatte auch Momente gegeben, in denen ihn eine Art seltsamer, schleichender Nebel überkam, eine gestaltlose Angst, die ihn jedes Mal zutiefst beunruhigt zurückließ … und verwirrt wie ein verlorenes Kind.
Schluss damit. Jetzt gibt es nichts mehr, was noch schiefgehen könnte – Beverly ist bei mir, und wenn ich erst meine Sachen geholt habe, können wir uns im Sanktuarium verstecken und uns etwas ausruhen. Sie braucht Zeit, um sich zu erholen, und ich kann … kann alles auf die Reihe bringen. Ja, das ist es: Die Dinge müssen auf die Reihe gebracht werden.
Irons blinzelte die bereits vergessenen Tränen fort, als der metallene Käfig in die Höhe fuhr, zog seine Waffe und warf den Clip aus, um nachzuzählen, wie viel Schuss noch übrig waren. Seine Privaträumlichkeiten waren sicher, aber das Büro war etwas anderes – er wollte vorbereitet sein.
Der Aufzug kam zum Halten, und Irons hielt die Tür mit einem Bein auf, bevor er das Mädchen vor Anstrengung ächzend hochhob. Er trug die Ohnmächtige wie ein schlafendes Kind. Ihr kühler, weicher Leib ruhte schlaff in seinen Armen, ihr Kopf rollte nach hinten und baumelte hin und her, während er lief. Er hatte sie ungeschickt aufgehoben, ihr weißes Kleid war hochgerutscht und entblößte die feste, cremige Haut ihrer Schenkel. Irons zwang sich wegzusehen und konzentrierte sich auf die Schalttafeln, mittels derer sich die Wand zu seinem Büro öffnen ließ. Was er bei anderen Gelegenheiten auch für harmlosen Fantasien nachgehangen haben mochte, jetzt war er für sie verantwortlich – er war ihr Beschützer, ihr Ritter in glänzender Rüstung …
Den vorstehenden Knopf konnte er mit dem Knie drücken. Die Wand glitt auf und gab den Blick frei auf sein nobel ausstaffiertes und – dem Himmel sei Dank – leeres Büro; nur die stumpfen, gläsernen Blicke seiner Tiertrophäen begrüßten ihn.
Der massive Schreibtisch aus Walnussholz, den er aus Italien importiert hatte, stand direkt vor ihm. Seine Kräfte ließen nach. Beverly war eine zierliche Frau, aber er war nicht mehr so in Form wie früher. Schnell legte er sie auf den Schreibtisch, wobei er mit dem Ellbogen einen Becher mit Stiften zu Boden stieß.
„So!“ Er atmete tief aus und lächelte auf sie hinab. Sie lächelte nicht zurück, aber er spürte, dass sie bald aufwachen würde. Er fasste unter den Schreibtisch und drückte den Knopf für die Wandsteuerung. Hinter ihnen glitt das Paneel zu.
Als er sie gefunden hatte, schlafend neben Officer Scott, hatte er zunächst eine tiefe Sorge in sich gefühlt: George Scott war tot gewesen, über und über mit Wunden bedeckt, und angesichts des roten Fleckes auf Beverlys Bauch hatte Irons schon befürchtet, sie sei ebenfalls nicht mehr am Leben. Doch während er sie zum Sanktuarium geschleppt hatte, in seinen sicheren Hort, hatte sie ihm etwas zugeflüstert – dass es ihr nicht gut gehe, dass sie verletzt sei, dass sie nach Hause wolle …
… wirklich? Hat sie das wirklich getan?
Irons runzelte die Stirn. Etwas befreite ihn aus dieser unsicheren Erinnerung … etwas, das er gefühlt hatte, als er sie auf seinem Hobbytisch abgelegt und ihr blutbeflecktes Kleid glattgezogen hatte, etwas, an das er sich nicht recht entsinnen konnte. Es war ihm zu dem Zeitpunkt nicht wichtig erschienen, jetzt aber, außerhalb der behaglichen Umgebung des Sanktuariums, nagte es in ihm. Erinnerte ihn daran, dass ihn diese Verwirrung überkommen hatte, als er, als er –
– als ich das kalte, gummiartige Gelee von Eingeweiden unter meinen Fingern spürte –
– er sie berührt hatte.
„Beverly?“, flüsterte er und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, als ihm plötzlich die Beine schwach wurden. Beverly bewahrte ihr Schweigen – und eine wilde Flut von Gefühlen traf Irons wie eine Sturmwelle, schlug über ihm zusammen, überspülte sein Denken mit Bildern, Erinnerungen und Wahrheiten, die er nicht akzeptieren wollte.
Das Durchtrennen der Außenleitungen nach den ersten Angriffen … Umbrella und Birkin und die wandelnden Toten … Das Gemetzel in der Garage, als der grelle kupferige Geruch die Luft erfüllt hatte und Bürgermeister Harris bei lebendigem Leib aufgefressen worden war, schreiend bis zum Ende … Die schwindende Zahl der Lebenden in der erst langen, schrecklichen Nacht … Und die kalte, brutale Erkenntnis, die ihn wieder und wieder ereilt hatte, dass die Stadt – seine Stadt – nicht mehr existierte.
Danach – Verwirrung. Die eigenartige hysterische Freude, die über ihn gekommen war, als er begriffen hatte, dass sein Tun keine Konsequenzen haben würde. Irons entsann sich des Spieles, das er in der zweiten Nacht gespielt hatte, nachdem einige von Birkins Schoßtieren den Weg zum Revier gefunden und alle bis auf ein paar der noch verbliebenen Cops getötet hatten. Er hatte Neil Carson gefunden, der sich in der Bücherei verkrochen hatte, und ihm … nachgespürt, er hatte den Sergeant gejagt wie ein Tier.
Na und? Was zählt das jetzt noch, da mein Leben in Raccoon vorbei ist?
Alles, was noch übrig war, das Einzige, woran er noch Halt finden konnte, war das Sanktuarium – und der Teil seiner selbst, der es erschaffen hatte, jenes dunkle und ehrenwerte Herz in ihm, das er stets hatte versteckt halten müssen. Dieser Teil war jetzt frei …
Irons betrachtete die Leiche von Beverly Harris, die auf seinem Schreibtisch hingebreitet lag wie ein zarter, zerbrechlicher Traum, und er hatte das Gefühl, die Angst und die Zweifel, die sich in ihm bekriegten, könnten ihn zerreißen. Hatte er sie umgebracht? Er konnte sich nicht erinnern.
Onkel Brian. Vor zehn Jahren war ich ihr Onkel Brian. Was ist aus mir geworden?
Es war zu viel. Ohne den Blick von ihrem leblosen Gesicht zu nehmen, zog er die geladene VP70 aus dem Holster und begann, mit tauben Fingern über den Lauf zu reiben, ein sanftes Streicheln, das ihn irgendwie beruhigte. Dann richtete er die Waffe gegen sich. Als die Mündung fest gegen seinen weichen Bauch drückte, hatte er das Gefühl, dass eine Art Frieden in Reichweite läge. Sein Finger legte sich um den Abzug, und da flüsterte Beverly ihm wieder etwas zu, ihre Lippen jedoch blieben reglos, ihre süße, melodische Stimme kam von nirgendwo und überallher zugleich.
„… verlass mich nicht, Onkel Brian. Du hast gesagt, du beschützt mich und dass du dich um mich kümmerst. Denk doch nur daran, was du jetzt tun könntest, wo alle weg sind und nichts dich mehr aufzuhalten vermag …“
„Du bist tot“, flüsterte er, doch sie redete weiter, leise und beharrlich.
„… nichts, was dich davon abhalten könnte, Erfüllung zu finden, wahre Erfüllung, zum ersten Mal in deinem Leben …“
Gequält und unter Schmerzen schob Irons die Neunmillimeter ganz langsam von seinem Bauch weg. Einen Moment später legte er seine Stirn auf Beverlys Schulter und schloss die müden Augen.
Sie hatte recht, er konnte sie nicht verlassen. Er hatte es versprochen – und es war etwas dran an dem, was sie gesagt hatte über all das, was er tun könnte. Sein Hobbytisch war groß genug, um allen möglichen Tieren Platz zu bieten …
Irons seufzte. Er war nicht sicher, was er als Nächstes tun sollte – und fragte sich, warum sie so auf eine Entscheidung drängte. Sie würden sich eine Weile ausruhen, vielleicht sogar ein Nickerchen machen. Und wenn sie aufwachten, würde alles wieder klar sein.
Ja, das war es. Sie würden sich ausruhen, und dann konnte er die Dinge auf die Reihe bringen, sich der Sache annehmen; immerhin war er der Polizeichef.
Sich wieder als sein eigener Herr fühlend, glitt Brian Irons in einen leichten, unruhigen Schlaf, Beverlys kühles Fleisch wie Balsam an seiner fiebrigen Stirn.