EINUNDZWANZIG
Leon blieb stehen, um seinen Schultergurt zu richten, und so ging Ada voran und sann darüber nach, wie verblüffend sicher die ersten paar Tunnel gewesen waren. Wenn ihre Erinnerung sie nicht trog, endete dieser Gang direkt neben dem Kontrollraum der Kläranlage; dahinter befand sich die U-Bahn zur Fabrik, und danach kam dann der Maschinenaufzug in die unterirdische Anlage. Es würde wahrscheinlich schlimmer werden, je näher sie den Labors kamen, aber so problemlos der Trip bislang verlaufen war, fühlte Ada sich optimistisch.
Leon war unangenehm still gewesen, seit sie die Kanalisation betreten hatten. Er sprach nur das Allernötigste – „Pass auf, wo du hintrittst“, „Warte mal kurz“, „In welche Richtung sollten wir deiner Meinung nach gehen?“ … Sie glaubte nicht, dass er sich der Abwehr, die er zeigte, überhaupt bewusst war, aber sie verstand es allmählich besser, in seinem Verhalten zu lesen. Officer Kennedy war mutig und im Oberstübchen mindestens überdurchschnittlich sortiert. Er war ein Meisterschütze – aber er kannte die Frauen nicht. Mit der Zurückweisung seines Versuchs, sie zu trösten, hatte sie ihn verwirrt und verletzt – und jetzt wusste er nicht, wie er mit ihr umgehen sollte. Er hatte beschlossen, sich lieber zurückzuziehen, anstatt eine neuerliche Abfuhr zu riskieren.
So ist es am besten, wirklich. Es hat keinen Zweck, ihn zu reizen, wenn es nicht nötig ist, und es erspart mir die Mühe, sein Ego mit Streicheleinheiten zu überhäufen …
Ada betrat die Wegkreuzung, überlegte, wo es am einfachsten wäre, sich von ihrem Begleiter zu trennen –
– und sah die Frau im selben Moment, als sie schoss.
Bamm!
Ada spürte, wie Betonsplitter gegen ihre nackten Schultern prasselten, als sie auch schon die Beretta hochriss. Eine verschwommene Mischung aus Emotionen und Erkenntnis durchzuckte sie in der winzigen Zeitspanne, die sie brauchte, um zu reagieren: Sie würde nicht in der Lage sein, das Feuer rechtzeitig zu erwidern, der nächste Schuss der Frau würde sie töten, sie empfand Wut auf sich selbst, weil sie so dumm gewesen war … und dann – Erkennen.
Birkin!
Sie hörte den zweiten Schuss – und dann wurde sie getroffen. Sie fiel auf den kalten Boden, während Leon vor Wut und Überraschung aufschrie. Sein warmer Körper landete auf ihrem.
Ada holte tief Luft, war schockiert und erstaunt, als sie begriff, was passiert war, während Leon sich von ihr herunter rollte und seinen Arm umfasst hielt. Sie vernahm hastige Schritte und Leons raues Keuchen und setzte sich auf.
O mein Gott! Ach du Scheiße …!
Leon hatte eine Kugel abgefangen. Für sie.
Ada kam wacklig auf die Füße, beugte sich über ihn. „Leon!“
Er sah zu ihr auf, die Kiefer vor Schmerzen zusammengepresst. Blut sickerte zwischen den Fingern seiner Hand hindurch, die er gegen die linke Achsel drückte.
„Ich bin – okay“, schnaufte er, und obwohl sein Gesicht blass war und seine Augen trüb vor Qual, dachte sie, dass er wahrscheinlich recht hatte. Es tat zweifellos verteufelt weh, aber es würde – sollte – ihn nicht umbringen.
Es hätte mich umgebracht. Leon hat mir das Leben gerettet.
Und im Gefolge dieses Gedankens: Annette Birkin. Noch am Leben …
„Diese Frau“, stieß sie hervor, und das Schuldgefühl ereilte sie noch im Umdrehen und Losrennen. „Ich muss mit ihr reden!“
Ada hetzte um die Ecke und den Gang hinunter. Die Tür am Ende stand offen. Leon würde es überleben, er würde wieder werden, und wenn sie es schaffte, Annette Birkin einzuholen, dann würde dieser ganze gottverdammte Albtraum vorbei sein. Sie hatte die Aktenfotos studiert und wusste, dass es Birkins Frau war – und wenn die Frau nicht zufällig eine Probe bei sich trug, dann wusste sie hundertprozentig, wo eine zu finden war.
Ada rannte durch die Tür und wäre um ein Haar in einem weiteren mit Wasser gefüllten Tunnel gelandet. Sie hielt inne, gerade lange genug, um zu lauschen und die Oberfläche des sich kräuselnden Morasts mit ihren Blicken abzusuchen. Keine spritzenden Laute, und noch immer schwappten Wellen zur linken Seite hin, wo eine an der Wand verschraubte Leiter zu einem Ventilationsschacht hochführte.
Zum Kontrollraum.
Ada sprang ins Wasser und bewegte sich auf die Leiter zu. Es gab einen Gang, der weiter geradeaus führte, aber das war eine Sackgasse; Annette hatte sich bestimmt für die Flucht nach oben entschieden.
Rasch kletterte Ada die Metallsprossen empor und verbot es sich, an Leon zu denken (weil er okay war), während sie in den Schacht spähte und feststellte, dass er leer war. Frau Doktor rannte vermutlich immer noch, aber Ada war nicht scharf darauf, einer weiteren Kugel in die Quere zu kommen.
Sie hastete durch den Schacht, warf einen kurzen Blick an den bewegungslosen, riesigen Ventilatoren am anderen Ende vorbei und kletterte über eine andere Leiter wieder hinunter. Der riesige, zweistöckige Raum, der die Klärmaschinerie beherbergte, war bar allen Lebens, so kalt, industriell und vollgestopft mit Equipment, wie Ada es erwartet hatte. Eine hydraulische Brücke überspannte den Raum, auf die Ebene hochgefahren, auf der Ada herausgekommen war – was bedeutete, dass Annette über die Westleiter hinuntergestiegen sein musste, der einzige andere Weg, der hier herausführte. Ada ging im Geiste die Wegepläne durch, während sie über die Brücke lief, und erinnerte sich, dass die bewusste Leiter in eine der Abraumgruben des Klär-Zentrums hinabführte –
„Fallen lassen, du Miststück!“
Die Stimme erklang hinter ihr. Ada blieb stehen und spürte einen innerlichen Schmerz – den Schmerz einer saftigen Ohrfeige für ihr Ego. Das zweite Mal binnen kürzester Zeit, dass sie verdammten Mist gebaut hatte – aber um nichts in der Welt würde sie Annettes hysterischem Befehl folgen. Die Zielgenauigkeit der Frau war absolut armselig – Ada spannte sich an, machte sich bereit, sich fallen zu lassen, sich herumzudrehen und zu –
Da krachte der Schuss! Die Kugel traf den Boden neben Adas rechtem Fuß und prallte von der rostigen Brücke ab.
Annette hatte sie gestellt. Ada ließ die Beretta fallen, hob die Hände und wandte sich langsam zu der Wissenschaftlerin um.
Jesus, dafür verdiene ich es zu sterben …
Annette Birkin kam auf sie zu, in ihrer ausgestreckten Hand zitterte eine Browning Neunmillimeter. Der Anblick der bebenden Waffe ließ Ada zusammenzucken – doch sie sah eine eventuelle Chance, als Annette noch näher kam und schließlich stehen blieb, weniger als drei Schritte von ihr entfernt.
Zu nahe. Zu nahe, und sie steht am Rande eines völligen Zusammenbruchs, ist es nicht so?
„Wer bist du? Wie heißt du?!“
Ada schluckte schwer und legte ein gezieltes Stottern in ihre Stimme. „Ada … Ada Wong. Bitte, schießen Sie nicht, bitte, ich hab nichts getan – “
Stirnrunzelnd trat Annette einen Schritt zurück. „Ada Wong. Den Namen kenne ich – Ada, so hieß Johns Freundin …“
Adas Mund klappte auf. „Ja, John Howe! Aber – woher wissen Sie das? Wissen Sie, wo er ist?“
Die völlig heruntergekommen wirkende Wissenschaftlerin blickte sie an. „Ich weiß es, weil John mit meinem Mann William zusammenarbeitete. Sie haben natürlich von ihm gehört – William Birkin, der Mann, der für die Erschaffung des T-Virus verantwortlich ist.“
Annette leuchtete bei diesen Worten regelrecht auf in einer Mischung aus Stolz und Verzweiflung. Das gab Ada Hoffnung – das war eine Schwäche, die sie ausnutzen konnte. Sie hatte die Unterlagen über William Birkin gelesen, über seinen stetigen Aufstieg in der Umbrella-Hierarchie, die Fortschritte in Virologie und genetischer Sequenzierung … und über die wissenschaftlichen Ambitionen, die ihn zu einem veritablen Soziopathen gemacht hatten. Es sah aus, als bewege sich seine Frau auf einer ähnlichen Ebene – und das hieß, Mrs. Birkin würde kein Problem damit haben, abzudrücken.
Stell dich dumm und gib ihr keinen Grund zum Zweifeln.
„T-Virus? Was ist – “ Ada blinzelte, dann ließ sie ihre Augen groß werden. „Doktor – Birkin? Moment mal, der Doktor Birkin, der Biochemiker …?“
Sie sah, wie ein Ausdruck der Freude über Annettes Gesicht huschte – doch dann war er wieder verschwunden, und übrig blieb nur Verzweiflung. Verzweiflung und das Flackern bitteren Irrsinns, tief in ihren blutunterlaufenen Augen.
„John Howe ist tot“, sagte Annette kalt. „Er starb vor drei Monaten in der Spencer-Villa. Mein Beileid – aber andererseits … Sie sind im Begriff, ihm zu folgen, nicht wahr? Sie werden mir das G-Virus nicht wegnehmen, Sie können es nicht haben!“
Ada fing an, am ganzen Leibe zu zittern. „G-Virus? Bitte, ich weiß nicht, wovon Sie reden!“
„Sie wissen es“, knurrte Annette. „Umbrella hat Sie geschickt, um es zu stehlen, Sie können mir nichts vormachen! William ist tot, Umbrella hat ihn mir weggenommen. Sie haben ihn gezwungen, es anzuwenden! Sie haben ihn gezwungen …“
Ihre Stimme wurde schwächer, bis sie schließlich ganz verstummte, und ihr Blick ging mit einem Mal in weite Ferne. Ada spannte sich – doch dann war Annette wieder bei sich, ihre Augen füllten sich mit Tränen, die Waffe wies auf Adas Gesicht.
„Vor einer Woche, da kamen sie“, flüsterte sie. „Sie kamen, um es zu holen, und sie erschossen meinen William, als er ihnen die Proben nicht geben wollte. Sie nahmen den Kasten, sie nahmen alle Endresultate, beide Reihen – bis auf das eine, das er zu behalten geschafft hatte, das G-Virus …“
Annettes Stimme wuchs sich plötzlich zu einem Schreien aus, einem lächerlichen und irgendwie flehenden Schreien. „Er lag im Sterben, verstehen Sie nicht? Er hatte keine andere Wahl!“
Ada verstand. Sie verstand alles. „Er hat es sich selbst injiziert, stimmt’s?“
Die Wissenschaftlerin nickte. Ihr schlaffes, blondes Haar fiel ihr über die Augen, ihre Stimme sank wieder zu einem Flüstern herab. „Es revitalisiert die Zellfunktionen. Es – es veränderte ihn. Ich sah nicht – was er tat, aber ich sah die Leichen der Männer, die versuchten, ihn zu töten, hinterher … und ich hörte die Schreie.“
Ada trat einen Schritt auf sie zu, streckte die Arme aus, wie um sie zu trösten, die eigene Miene zu einer Maske des Mitleids geformt – doch Annette stieß die Waffe wieder in ihre Richtung. Nicht einmal in ihrem Kummer ließ sie Ada näher kommen.
Aber das ist fast nah genug …
„Es tut mir so leid“, sagte Ada und ließ ihre Arme sinken. „Dieses G-Virus, es ist also ausgebrochen, hat ganz Raccoon befallen …“
Annette schüttelte den Kopf. „Nein. Als die Umbrella-Mörder – aufgehalten wurden, zerbrach der Kasten. Das T-Virus brach aus – die Labor-Mitarbeiter, die von dem freigesetzten Virus befallen wurden, hat man eingeschlossen, aber es gab Ratten, verstehen Sie? Ratten in der Kanalisation …“
Sie hielt inne, ihre Lippen bebten. „… es sei denn, William, mein guter William, hat mit der Reproduktion begonnen. Embryos implantiert, repliziert … dafür sollte es noch nicht an der Zeit sein, aber ich – “
Sie brach ab, kniff die Augen zusammen. Der Irrsinn kam wieder über sie, so sichtbar wie eine über ihr zusammenschlagende Welle. Leuchtendes Rot flackerte in ihren blassen Wangen auf, ihre entzündeten Augen glänzten vor Paranoia.
Mach dich bereit –
„Du kannst es nicht haben!“, schrie Annette. Speichel sprühte von ihren aufgesprungenen Lippen. „Er hat sein Leben dafür gegeben, um es vor dir zu schützen, du bist eine Spionin, und du kannst es nicht haben!“
Ada duckte sich und sprang, rammte beide Arme gegen die von Annette, drückte die Waffe nach oben und lenkte sie weg von ihnen beiden. Die Browning entlud sich, jagte eine Kugel zur Decke, wo sie abprallte. Sie kämpften um die Waffe. Annette war körperlich schwächer, doch sie wurde angetrieben von Dämonen des Hasses und der Trauer. Der Wahnsinn verlieh ihr zusätzliche Kräfte –
– aber keinen Verstand!
Ada ließ die Waffe unvermittelt los, und Annette stolperte, nicht gefasst auf die unerwartete Reaktion. Sie prallte gegen das Geländer der Brücke, und Ada schlug zu, trieb ihren Ellbogen in Annettes Magen, traf sie hinter dem Gleichgewichtszentrum.
Annette drehte sich halb herum, ihr Mund stand offen vor Überraschung, ein dunkles Loch. Sie ruderte mit den Armen, kämpfte um ihre Balance – und dann kippte sie über das Geländer, ohne jeden Laut, bis das dumpfe Wump aufklang, mit dem ihr Körper über sieben Meter tiefer auf dem Boden aufschlug.
„Scheiße“, zischte Ada, trat ans Geländer und schaute hinab. Da lag sie, mit dem Gesicht nach unten, reglos, die Pistole noch immer mit einer schmalen, weißen Hand umklammert.
Das ist großartig. Du läufst in einen Hinterhalt, nicht nur einmal, sondern gleich zweimal, verdammt, und dann bringst du das einzige durchgedrehte Miststück um, das dir hätte sagen können, wo sich die Proben befinden!
Ein leises Stöhnen drang aus der Tiefe empor – und Annette Birkin bewegte sich, krümmte den Rücken, versuchte, sich auf die Seite zu rollen.
Scheiße, scheiße, scheiße!
Ada wandte sich um und rannte über die Brücke, hob dabei die Beretta auf, und eilte auf etwas neben der Lüftungsschachtleiter zu, das wie ein Bedienfeld aussah. Sie musste die Brücke absenken und zu Annette gelangen, ehe diese fortkriechen konnte –
– aber die Schalttafel gehörte zum Ventilator, und als ein weiteres schmerzerfülltes Stöhnen – ein etwas lauteres Stöhnen – durch den Raum zu ihr heraufhallte, wusste Ada, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte.
Die Müllhalde, ich kann über die Müllhalde gehen und durch einen der Tunnel in einem Bogen wieder zurück!
Noch während sie es dachte, trabte sie bereits auf die Westleiter zu und hoffte, dass diese erbärmliche Wissenschaftlerin schwer genug verletzt war, um noch ein, zwei Minuten am Boden zu bleiben.
Am Ende der Brücke befand sich ein schmaler Balkon, von dem aus sich die Halde überblicken ließ, und die Metallleiter ragte aus einer Öffnung in der äußeren rechten Ecke hinab. Ada stieg so schnell sie konnte hinunter, ließ sich das letzte Stück einfach fallen und landete auf einem Betonabsatz.
Die Müllhalde war ein großer, schachtelartiger Raum. An den Wänden türmte sich Industriemüll – zerbrochene Kisten, rostige Rohre, drahtverkrustete Tafeln und verschimmelte Pappen. Ada trat von dem Vorsprung herunter und hinab in fast metertiefen schwarzen Morast. Der kalte, klebrige Brei stieg ihr bis zu den Oberschenkeln hoch. Es kümmerte sie nicht, sie wollte nur zu Annette Birkin, um ihrem Aufenthalt in Raccoon ein Ende zu machen –
– doch etwas bewegte sich. Unter der undurchsichtigen, stinkenden Flüssigkeit bewegte sich etwas Großes. Vor sich sah Ada etwas durch den Schlamm pflügen, das sie an das Rückgrat eines Reptils erinnerte. Sie sah und hörte, wie im gleichen Moment ein Bretterstapel etwa drei Meter von ihr entfernt ins Wasser kippte.
Das darf doch nicht wahr sein …
Was es auch sein mochte, es war groß genug, um sie ihre Meinung über die Eile, die sie eben noch an den Tag gelegt hatte, überdenken zu lassen. Ada wich zu dem Absatz zurück und stemmte sich hoch, ohne den Blick von der unbestimmbaren Gestalt zu nehmen, die sich durch den schmatzenden Schlamm wand. Die sich in einem plötzlichen, wüsten Aufspritzen von dunklem Morast erhob und geradewegs auf sie zukam. Ada riss die Beretta hoch und schoss.
In einer Ecke des Konferenzraums gab es eine winzige Aufzugsplattform, ein metallenes Rechteck, mit dem man offenbar nach unten fahren konnte. Claire eilte darauf zu. Stinkendes Wasser lief ihr aus den Kleidern, sie fühlte sich entsetzlich verloren und wollte alles tun, um Sherry zu finden.
Bitte, sei am Leben, Baby, bitte …
Sie hatte das Abflussloch gefunden, Sherry jedoch nicht – und nach quälend langen Momenten, da sie in das rauschende Wasser geschrien und versucht hatte, sich in das winzige Loch zu zwängen, hatte sie sich schließlich gezwungen, die Bemühungen aufzugeben. Sherry war fort, vielleicht ertrunken, vielleicht auch nicht – aber wenn sich die Strömung nicht plötzlich umkehrte, würde sie auch nicht zurückkommen.
Claire fand die Steuerung für den Lift und drückte einen Knopf. Ein verborgener Motor surrte und der Aufzug senkte sich zentimeterweise durch den Boden, brachte sie wahrscheinlich in einen weiteren leeren Gang, einen anderen leeren, unbekannten Raum – oder schlimmer noch, direkt in die Nähe einer weiteren abnormen Kreatur.
Frustriert ballte sie die feuchten Hände zu Fäusten und wünschte sich, während der Aufzug langsam nach unten glitt, er würde sich schneller bewegen und dass es eine Möglichkeit gäbe, ihre Suche zu beschleunigen. Sie kam sich vor, als renne sie blind umher, wahllos jeden Weg nehmend, der vor ihr auftauchte. Von dem Tunnel aus, in dem Sherry verschwunden war, hatte sie einen schwach beleuchteten Gang gefunden und dann diesen schlichten, irgendwie steril wirkenden Konferenzraum. Es war wie ein endloses Funhouse – minus des Funs –, und Claire fühlte sich ziemlich mies, weil sie Sherry mit hineingenommen hatte; wenn das Mädchen tot war, musste sie es auf ihre Kappe nehmen.
Sie gab das sinnlose Nachkarten auf, ehe es noch schlimmer wurde, und zwang sich zur Konzentration. Selbstvorwürfe waren tödlich. Der Aufzug senkte sich in einen Gang. Claire bückte sich, hielt Irons’ schwere Waffe nach vorne, während ihre neue Umgebung gleichsam in ihr Blickfeld emporstieg.
Am anderen Ende des betonierten Ganges befand sich ein weiterer Aufzug, ein zweiter Korridor kreuzte diesen, knapp fünfzehn Meter entfernt – und neben der Kreuzung lehnte ein Körper an der Wand, offenbar ein Cop …
Claire verspürte eine Mischung aus Schrecken und Sorge, ihre Augen weiteten sich, als sie die schlaffen Züge des Cops erkannte, seine Haarfarbe, die Statur …
… ist das – Leon?
Noch bevor der Lift den Boden berührte, sprang Claire ab und rannte auf die zusammengesunkene Gestalt zu. Es war Leon, und er bewegte sich nicht, entweder war er bewusstlos oder tot … aber nein, er atmete, und als sie vor ihm in die Hocke ging, hoben sich flatternd seine Lider. Er hielt sich den linken Arm mit der Hand, seine Finger waren voller Blut.
„Claire?“ Seine blauen Augen wirkten klar – müde, aber wachsam.
„Leon! Was ist passiert? Bist du okay?“
„Ich wurde angeschossen, muss für einen Moment die Besinnung verloren haben …“
Vorsichtig nahm er seine Hand weg und entblößte ein kleines, fransiges Loch direkt über seiner Achselhöhle, aus dem es rot hervorsickerte. Es sah nach sehr viel Schmerz aus, aber zumindest sprudelte das Blut nicht aus der Wunde.
Zusammenzuckend zog Leon den zerfetzten Stoff seiner Uniform über die Wunde und legte seine Hand wieder darauf. „Tut höllisch weh, aber ich glaube, ich werd’s überleben – Ada, wo ist Ada?“
Die letzten Worte stieß er fast verzweifelt hervor. Er versuchte, sich von der Wand wegzustemmen. Mit einem leisen Ächzen sank er zurück, offensichtlich nicht in der Verfassung, sich zu bewegen.
„Bleib ruhig liegen, ruh dich einen Moment aus“, sagte Claire. „Wer ist Ada?“
„Ich bin ihr auf dem Revier begegnet“, erwiderte er. „Ich konnte dich nicht finden, und wir hörten, dass man aus Raccoon fliehen kann – durch die Kanalisation. Die Stadt ist nicht sicher, es gab eine Art Ausbruch im Umbrella-Labor, und Ada wollte sofort verschwinden. Jemand schoss auf uns, und ich wurde getroffen – Ada verfolgte den Schützen, diesen Gang runter, sie sagte, es sei eine Frau …“
Er schüttelte den Kopf, wie um ihn klar zu bekommen, dann sah er sie mit gerunzelter Stirn an. „Ich muss sie finden. Ich weiß nicht, wie lange ich weggetreten war, aber nicht länger als ein paar Minuten, sie kann noch nicht weit gekommen sein …“
Er wollte sich wieder aufsetzen, doch Claire stoppte ihn und drückte ihn behutsam zurück. „Ich werde gehen. Ich – ich war mit diesem kleinen Mädchen unterwegs, und sie ist irgendwo in der Kanalisation. Vielleicht kann ich sie beide finden.“
Leon zögerte – dann nickte er und ergab sich seinem Handicap. „Wie schaut’s mit deiner Munition aus?“
„Äh – sieben Schuss in der hier …“ Sie klopfte gegen die Pistole, die sie aus dem Streifenwagen mitgenommen hatte und die jetzt in ihrem Gürtel steckte. Diese Wahnsinnsfahrt schien plötzlich eine Million Jahre zurückzuliegen. „… und siebzehn da drin.“
Sie hielt Irons’ Waffe hoch. Leon nickte abermals, sein Kopf rollte erschöpft nach hinten. „Okay, das ist gut. In ein paar Minuten müsste ich in der Lage sein, dir zu folgen … sei vorsichtig, in Ordnung? Und viel Glück.“
Claire stand auf. Sie wünschte, sie hätten mehr Zeit gehabt. Sie wollte ihm von Chris erzählen, von Irons und Mr. X und dem T-Virus, sie wollte herausfinden, was er über Umbrella wusste oder ob er den Weg aus der Kanalisation kannte –
– aber diese Ada hat es womöglich gerade mit einer Heckenschützin zu tun, und Sherry könnte irgendwo sein. Überall …
Leon hatte die Augen geschlossen. Claire drehte sich um, ging den Gang hinunter, der sich kreuzte, und fragte sich, ob überhaupt irgendjemand von ihnen auch nur den Hauch einer Chance hatte, diesem Wahnsinn zu entkommen.