NEUNZEHN
In der einen Sekunde stand Irons noch vor ihr, starrte ihr entsetzlich leidvoll in die Augen –
– und in der nächsten war er verschwunden. In ein Loch im Boden gezerrt von einem Arm, auf den Claire nur einen flüchtigen Blick erhascht hatte, einem muskulösen, triefenden Arm mit fußlangen Krallen. Er verschwand peitschend aus ihrem Blickfeld und nahm Irons mit sich in die dunkle Tiefe.
Das Wesen schrie noch einmal, ein mächtiges, kraftvolles Heulen, dessen Lautstärke Irons’ entsetztes Kreischen erst gleichkam und dann noch übertraf. Völlig versteinert, konnte Claire nur lauschen. In ihr rangen Schrecken, Erleichterung und Angst um das eigene Leben miteinander, während die schrecklichen Schreie aus dem offenen Loch heraufdrangen und gegen ihr Gehör hämmerten, in diesem kalten, düsteren Kerker, den sich Irons eingerichtet hatte …
… bis seine Schreie, nur ein, zwei Sekunden später, in ein Gurgeln übergingen – und die schlürfenden, schmatzenden, feuchten Laute anschwollen.
In Claire kam Bewegung. Sie nahm die Waffe auf, die Irons fallen lassen hatte, und rannte hinter den Tisch in der Mitte des Raumes. Sie wollte nicht so wie Irons gepackt und fortgezerrt werden.
Es hat ihn umgebracht, es hat ihn umgebracht, und er wollte mich umbringen …!
Die Erkenntnis dessen, was soeben geschehen war, und was hätte geschehen können, traf Claire wie ein Hammerschlag und verwandelte ihre Glieder in Gummi. Sie zwang sich, noch ein paar Schritte von der offenen Grube zurückzuweichen, sackte dann gegen eine nassschimmernde Steinmauer und sog die sauer riechende Luft in keuchenden Zügen ein.
Irons hatte vorgehabt, sie zu töten, aber nicht sofort. Sie hatte gesehen, wie sein von Irrsinn gezeichneter Blick über ihren Körper gekrochen war, hatte die gierige Ungeduld in seinem Lachen gehört –
Aus der Ecke kam ein tiefes, grunzendes Geräusch, ein bestialischer Laut, das Grollen eines sattgefressenen Löwen. Claire drehte sich um, hob die schwere Pistole, erstaunt, dass sie überhaupt imstande war, noch mehr Entsetzen zu empfinden –
– und etwas jagte aus dem Loch empor, etwas mit rudernden Armen …
Claire drückte ab. Der Schuss ging fehl. Eine Glasflasche in einem Regal zerbarst, während das Etwas zu Boden schlug.
Es war Irons – aber nur ein Stück von ihm. Er war säuberlich halbiert worden, das Ding, von dem er geschnappt worden war, hatte ihn in zwei Teile zerlegt – alles, was sich unterhalb seiner fleischigen Hüfte befunden hatte, war verschwunden. Fetzen zerrissener Haut und Muskelstränge hingen über der triefenden Blutlache, die seine Beine ersetzt hatte.
Claire wich zur Tür zurück, die Waffe noch auf die Öffnung gerichtet und hörte das Wesen, das Monster, abermals brüllen – ein widerhallendes Heulen, das in einer Entfernung verklang, die sie sich nicht vorzustellen vermochte. Eine Sekunde später konnte sie es überhaupt nicht mehr hören. Es war fort.
Sherrys Monster. Das war Sherrys Monster!
Langsam schob Claire sich auf den verstümmelten Leichnam von Chief Irons zu, auf die leere, gähnende Schwärze des Loches – aber es war nicht nur Schwärze. Sie bemerkte gedämpftes Licht, das von irgendwoher heraufdrang, genug, um zu erkennen, dass darunter ein weiterer Boden lag – so wie es aussah, das Metallgitter eines Laufstegs –, zu dem eine Leiter hinabführte.
Ein Keller unter dem Keller … Ein Weg nach draußen?
Claire trat von der Öffnung zurück. Ihre Gedanken rasten ungeordnet, versuchten, die Information aufzunehmen und mit dem in Einklang zu bringen, was Irons ihr erzählt hatte. Chris befand sich nicht in Raccoon, die S. T. A. R. S.-Leute waren verschwunden – eine ebenso wunderbare wie auch furchtbare Aussage, hieß es doch, dass Chris zwar in Sicherheit war, aber auch, dass er nicht angelaufen kommen würde, um in die Rolle des großen Retters aus der Not zu schlüpfen. Es hatte einen Ausbruch bei Umbrella gegeben, was zumindest die Zombies erklärte – aber was Irons über Birkin gesagt hatte, über Birkins Virus … war dieser Birkin Sherrys Vater?
Und – die Zombies mögen ja die Folge eines Laborunfalls sein, aber was ist mit all den anderen Geschöpfen, Mr. X oder die Inside-Out-Wesen …?
Irons’ Gerede über Umbrella deutete darauf hin, dass der Unfall zwar unerwartet gekommen, das Pharma-Unternehmen jedoch kein Unschuldslamm gewesen war. Wie hatte er es noch gleich genannt?
„T-Virus“, sagte Claire leise und schauderte. „Es gab Birkins neues Virus, und es gab das T-Virus …“
Die Zombie-Seuche hatte einen Namen. Und man gab etwas, über das man nichts wusste, keinen Namen, was bedeutete –
– was bedeutete, dass sie nicht wusste, was es bedeutete. Sie wusste nur, dass Sherry und sie aus Raccoon verschwinden mussten, und dieser neue Keller mochte ein Weg hinaus sein. Es war zumindest keine Sackgasse – das Monster, das Irons getötet hatte, war irgendwohin verschwunden.
Und du willst ihm tatsächlich folgen, mit Sherry? Es könnte zurückkommen – und wenn es tatsächlich nach ihr sucht …
Kein sehr aufbauender Gedanke – aber das war die Vorstellung, hinaus auf die Straßen zu gehen, auch nicht, und das Revier wimmelte bereits von Gott weiß was für Kreaturen. Claire überprüfte das Magazin der Waffe, mit der Irons sie bedroht hatte, und zählte siebzehn Patronen. Nicht genug, um sich den Zombies im Revier zu stellen – aber vielleicht ausreichend, um ein Monster auf Distanz zu halten …
Es war eine Chance, und sie war entschlossen, sie zu nutzen. Claire atmete tief ein und langsam aus, sammelte sich. Sie musste sich zusammenreißen, wenn schon nicht um ihretwillen, so doch für Sherry.
Sie drehte sich um und sah auf die Überreste des Polizeichefs hinab. Es war eine schreckliche Art zu sterben, aber sie konnte sich nicht aufraffen, Mitleid für ihn zu empfinden. Er war bereit gewesen, sie zu missbrauchen und zu foltern, er hatte gelacht, als sie um ihr Leben gebettelt hatte, und jetzt war er tot; sie freute sich nicht darüber, aber sie würde deswegen auch keine Tränen vergießen. Ihr einziger Gedanke in diesem Zusammenhang war, dass sie ihn zudecken sollte, bevor sie Sherry hier herunterbrachte. Das Mädchen hatte genug Zeugnisse von Gewalt gesehen für ein ganzes Leben.
Wir beide haben das, Kleines, dachte Claire erschöpft und sah sich nach etwas um, das sie über den toten Chief Irons breiten konnte.
Leon holte Ada in dem kalten, industriellen Gang ein, der zum Zugang zur Kanalisation führte, ein paar Schritte von dem gefluteten Sub-Kellergeschoss entfernt. Sie war vorausgerannt, um die Schlüssel zu hinterlegen, mittels derer sie in das Kanalnetz gelangen würden, weil sie keine Lust hatte zu erklären, wie sie daran gekommen war. Sie hatte es gerade geschafft, sie in den Kesselraum zu werfen, bevor hinter ihr Leons Schritte auf den Metallstufen erklangen.
Wenigstens muss ich nicht so tun, als sei ich außer Atem …
Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet Ada, dass sie ihren neuerlichen Alleingang begründen musste. In der Sekunde, da er den düsteren Korridor betrat, fing sie auch schon an zu reden.
„Entschuldige, dass ich so gerannt bin“, sagte sie und schenkte ihm ein nervöses Lächeln. „Ich hasse Spinnen.“
Leon musterte sie stirnrunzelnd – und als sie dem forschenden Blick seiner blauen Augen begegnete, wurde Ada bewusst, dass sie sich etwas mehr würde anstrengen müssen. Sie trat einen Schritt auf ihn zu, nicht so nahe, dass es zudringlich gewirkt hätte, aber nahe genug, um ihn die Wärme ihres Körpers spüren zu lassen. Den Blickkontakt aufrechterhaltend, bog sie den Kopf etwas zurück, um den Größenunterschied zwischen ihnen zu betonen; es war nur eine Kleinigkeit, aber ihrer Erfahrung nach sprachen Männer im Allgemeinen gut auf Kleinigkeiten an.
„Ich schätze, ich hab’s nur ziemlich eilig, hier rauszukommen“, sagte sie leise. Ihr Lächeln verlor sich. „Ich hoffe, ich habe dir nicht schon wieder Kummer gemacht.“
Er senkte den Blick, aber zuvor entdeckte sie darin einen Schimmer von Interesse – er war verwirrt und verunsichert, aber definitiv interessiert – weshalb es sie nur um so mehr überraschte, als er von ihr abrückte.
„Hast du aber. Tu’s nicht noch mal, okay? Ich bin vielleicht kein besonders guter Cop, aber ich versuch’s – und Gott allein weiß, was uns hier unten noch alles begegnet.“
Sein Blick traf wieder den ihren, und leise fuhr er fort: „Ich bin mit dir gegangen, weil ich helfen will, weil ich meinen Job machen will – und das kann ich nicht, wenn du vorausrennst. Außerdem“, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu, „wenn du davonläufst, wer hilft dann mir?“
Jetzt war Ada an der Reihe wegzusehen. Leon war ehrlich zu ihr, gab seine Ängste offen zu – und seine Reaktion auf ihren nicht sonderlich subtilen Flirt hatte darin bestanden, dass er zurückwich und ihr erzählte, dass er ein guter Polizist sein wolle.
Interessiert, aber nicht schwanzgesteuert … und Manns genug, um mir zu sagen, dass er sich seiner Fähigkeiten nicht sicher ist.
Sie kam nicht umhin, das Lächeln zu erwidern, aber es wurde nur ein zittriges Verziehen der Lippen daraus. „Ich werde mein Bestes tun“, sagte sie.
Leon nickte, wandte sich um, inspizierte den Gang und stellte die Unterhaltung ein – sehr zu Adas Erleichterung. Sie war nicht sicher, was sie von ihm hielt, war sich aber unangenehm bewusst, dass ihr Respekt vor ihm zunahm – und das war, in Anbetracht der Umstände, nicht gut.
In dem feuchten, schwach beleuchteten Gang gab es nicht viel zu sehen – zwei Türen und eine Sackgasse. Der Kesselraum, in den sie die Schlüssel geworfen hatte – oder vielmehr die Steckschlüssel –, lag direkt vor ihnen, der Zugang zur Abwasserbeseitigung in einer der hinteren Ecken; einem Schild an der Wand zufolge führte die andere Tür in einen Lagerraum.
Ada folgte Leon zu der am nahesten liegenden der beiden Türen, der zum Lager, und blieb zurück, als er sie mit seiner Magnum aufdrückte und hineintrat. Kisten, ein Tisch, eine Truhe; nichts Wichtiges, aber wenigstens kein Krabbelzeug. Nach kurzer Suche kehrte Leon auf den Gang zurück, und sie bewegten sich in Richtung des Kesselraums.
„Wo hast du überhaupt so gut schießen gelernt?“, fragte Leon, als sie vor der Tür stehen blieben. „Du bist ziemlich gut. Warst du beim Militär oder so …?“
Sein Ton klang beiläufig, aber sie blieb wachsam.
Netter Versuch, Officer.
Ada lächelte und schlüpfte in ihre sorgfältig geprobte Rolle. „Paintball – ob du’s glaubst oder nicht. Als Teenager ging ich mit meinem Onkel zwar ein paarmal auf den Schießstand, hab mich aber nie richtig dafür begeistern können. Vor ein paar Jahren schleifte mich dann ein Arbeitskollege – wir waren beide Kunden einer Kunstgalerie in New York – mit zu einem dieser Survival-Wochenenden, und wir hatten einen Wahnsinnsspaß. Du weißt schon, wandern, klettern, all so was – und Paintball. Es ist toll, wir machen das alle paar Monate … aber ich hätte nie gedacht, dass ich das mal im Ernstfall anwenden müsste.“
Sie konnte förmlich sehen, dass er es ihr abkaufte, dass er ihr glauben wollte. Wahrscheinlich beantwortete es ein paar Fragen, die zu stellen er gezögert hatte.
„Du bist jedenfalls besser als eine Menge von den Jungs, mit denen ich die Akademie abgeschlossen habe. Echt. Und? Bist du bereit, weiterzumachen?“
Ada nickte. Leon drückte die Tür zum Kesselraum auf, ließ den Blick über die altertümlichen, rostigen Maschinen in dem weitläufigen Raum schweifen, bevor er Ada hineinschob. Sie schaute bewusst nicht nach unten, weil sie wollte, dass Leon das kleine eingewickelte Päckchen fand, das sie erst vor wenigen Augenblicken hineingeworfen hatte.
Zuvor hatte sie nicht richtig in den Raum hineinschauen können. Er hatte die Form eines auf der Seite liegenden H, war mit verrosteten Geländern und zwei großen alten Kesseln ausgestattet, einer auf jeder Seite. Unter der Decke flackerten Leuchtstoffröhren, und die wenigen, die funktionierten, warfen eigenartige Schatten auf die Metallrohre, die an den wasserfleckigen Wänden entlangliefen. Die Tür, die ins Kanalnetz führte, lag in der hinteren linken Ecke, ein massiv aussehendes Schott neben einer eingelassenen Bedientafel.
„Hey – !“ Leon ging in die Hocke und hob das Bündel Steckschlüssel auf, die das Schott öffnen würden. „Sieht aus, als hätte hier jemand was verloren …“
Bevor Ada ihr Spielchen abspulen und ihn fragen konnte, was er denn da gefunden habe, hörte sie ein Geräusch. Ein leises Gleiten, das aus der Ecke hinten rechts kam, wohin einer der Kessel die Sicht verwehrte.
Leon hörte es ebenfalls. Schnell stand er auf, ließ das Bündel fallen und hob die Shotgun. Ada richtete ihre Beretta dorthin, wo das Geräusch erklang, und entsann sich, dass die Tür halb offen gestanden hatte, als sie aus dem Sub-Kellergeschoss heraufgekommen war.
O verdammt. Das Implantat.
Sie wusste es, noch bevor es in ihr Blickfeld kroch – und war dennoch schockiert. Der kleine Bursche war gewachsen, und er war schnell gewachsen, auf gut das Zwanzigfache seiner vorherigen Größe in nur halb so vielen Minuten – und er wuchs immer noch, in exponentiellem Tempo. In den wenigen Sekunden, die das Wesen brauchte, um sich zur Mitte des Raumes hinzubewegen, wuchs es von der Größe eines kleinen Hundes zu der eines zehnjährigen Kindes.
Die Form der Kreatur hatte sich verändert und tat es noch immer. Das Ding war jetzt nicht mehr die alienhafte Kaulquappe, die sich ihren Weg aus Bertolucci herausgefressen hatte. Der Schwanz war verschwunden, das Wesen, das sich über den rostigen Boden schob, hatte Gliedmaßen entwickelt, Arme reckten sich aus seinem gummiartigen Fleisch. Klauen schossen aus der bräunlichen Haut, die seinen Leib umhüllte, begleitet von einem Geräusch wie von Knorpel, der durchbohrt wurde. Muskulöse Beine entfalteten sich, Sehnen entstanden und bewegten sich unter schnappenden Lauten, während das stockende Kriechen fließender wurde, beinahe katzenhaft geschmeidig …
Die Shotgun und die Beretta krachten gleichzeitig, eine Folge gewaltiger Donnerschläge, durchsetzt mit dem hohen Jaulen der Neunmillimeter. Die Kreatur verwandelte sich, mutierte noch immer zu humanoider Gestalt – und ihre Reaktion auf die ohrenbetäubenden Schüsse, die Blei in ihr sich windendes Fleisch klatschen ließen, bestand darin, ihr Maul zu öffnen – und zu kotzen. In einem grunzenden, trompetenhaften Aufschrei erbrach das Wesen faulige, grüne Galle –
– die den Boden berührte und anfing, sich zu bewegen. Der Strom, der sich aus dem breiten, flachen Gesicht ergossen hatte, lebte – und das Dutzend krabbenartiger Kreaturen, die aus dem klaffenden Maul des Ungeheuers troffen wie Flüssigkeit schien genau zu wissen, wo sich die Gefahr für ihre stinkende, mutierte Gebärmutter befand. Die huschenden, vielbeinigen Tiere schwärmten als lautlose Welle auf Ada und Leon zu, während das Implantat einen großen Schritt nach vorne vollführte. Pulsierende Stränge ragten ihm aus dem unmöglich langen, kräftigen Hals.
Leons Waffe hatte die höhere Durchschlagskraft. „Ich übernehme die Kleinen!“, rief Ada, zielte bereits und schoss auf die nächste der winzigen, gallig grünen Krabben. Sie waren schnell, aber Ada war schneller – sie zielte und drückte ab, zielte und drückte ab, und die Babymonster explodierten in kleinen Fontänen dunkler, blutig-zäher Flüssigkeit, starben so leise, wie sie zur Welt gekommen waren.
Leon jagte Schuss um Schuss aus seiner Waffe, doch Ada konnte keinen Blick wagen, um zu sehen, wie er sich gegen das Muttertier schlug. Fünf der kriechenden Kleintiere waren noch übrig, noch drei Schuss, und die Beretta war leer!
Sie hörte, wie die Shotgun zu Boden polterte, hörte das dumpfere, aber weniger machtvolle Dröhnen der.50-AE-Geschosse in dem metallenen Raum widerhallen, während sie selbst zwei weitere der spinnenhaften Wesen erledigte, und dann klickte ihre Waffe nur noch. Leer.
Ohne innezuhalten und nachzudenken, ließ Ada die Beretta los und sich zu Boden fallen. Sie packte die Shotgun am Lauf, kam in einer Rolle unterhalb von Leons Schusslinie wieder nach oben und ließ die Waffe hart nach unten sausen. Zwei der mutierten Tiere wurden von dem schweren Kolben zu Brei zerdrückt, aber das dritte, das letzte, sprang unerwartet schnell nach vorne –
– und landete auf Adas Oberschenkel, klammerte sich mit nadelspitzen Klauen fest. Ada ließ das Gewehr fallen, schrie laut auf, als das Tier ihr Bein emporflitzte. Sein warmes, feuchtes Gewicht machte sie rasend vor Ekel.
Runter, schlag’s RUNTER!
Sie ließ sich nach hinten fallen, hieb nach dem Wesen, das bereits ihre Schulter erreicht hatte und auf ihr Gesicht zuflitzte, auf ihren Mund –
– und dann wurde sie von Leon gepackt; grob zerrte er sie mit einer Hand hoch, während er mit der anderen nach dem Tier schlug. Ada taumelte gegen ihn, umfasste seine Hüften, um nicht zu fallen. Der Käfer klammerte sich hartnäckig am Stoff ihres Kleides fest, aber Leon hatte es gut im Griff. Er riss es ab und schleuderte das zappelnde Ding mit einem Aufschrei quer durch den Raum.
„Die Magnum!“
Die Waffe hatte sich in Leons Gürtel verheddert. Ada riss sie heraus, sah, wie die Kreatur nahe des riesigen, reglosen Haufens landete, der sie geboren hatte und der von Leon zerschossen worden war –
– und feuerte, schaffte es, einen sauberen Schuss anzubringen, obwohl sie aus dem Gleichgewicht und absolut entsetzt darüber war, wie kurz davor sie gestanden hatte, selbst ein solches Wesen implantiert zu bekommen. Das schwere Geschoss klirrte gegen den Boden, Rostflocken wirbelten hoch – und die Kreatur wurde zu einem hässlichen Fleck an der rückwärtigen Wand. Ausgelöscht …
Nichts rührte sich mehr. Sie standen beide einen Moment lang einfach nur da, lehnten sich aneinander wie Überlebende eines furchtbaren Unfalls – was sie ja, in gewisser Weise, auch waren. Das ganze Feuergefecht hatte in weniger als einer Minute stattgefunden, und sie waren unversehrt daraus hervorgegangen – aber Ada machte sich nichts vor, wie knapp es gewesen war oder was sie gerade zu zerstören geschafft hatten.
G-Virus.
Sie war sich sicher; das T-Virus hätte keine derart komplexe Kreatur erschaffen können, nicht ohne ein Team von Chirurgen – und sie hatten beide gesehen, wie es wuchs! Wie groß, wie mächtig wäre dieses Wesen wohl geworden, wenn sie nicht gerade jetzt hereingekommen wären? Das Ding mochte irgendein frühes G-Experiment gewesen sein, aber was, wenn es die Folge eines Ausbruchs war? Was, wenn es noch mehr davon gab?
Die Kanalisation, das Versandhaus, die unterirdischen Ebenen – dunkle, schattige Orte, verborgene Orte, wo alles Mögliche gedeihen könnte …
Wie die Dinge auch liegen mochten, der Ausflug zu den Labors sah nicht mehr aus wie ein Spaziergang – und Ada war mit einem Mal sehr froh, dass Leon beschlossen hatte, mitzukommen. Da er so gottverdammt darauf beharrte, vorauszugehen, würde sie eine bessere Überlebenschance haben, wenn irgendetwas sie angriff.
„Bist du okay? Hat es dich verletzt?“
Leon stützte sie noch immer mit einem Arm und sah ihr mit tiefempfundener Sorge in die Augen. Ada stellte fest, dass sie ihn riechen konnte, ein sauberer, seifiger Geruch, und schob sich von ihm weg. Sie gab ihm die Magnum zurück und rückte ihr Kleid zurecht, inspizierte es aufmerksam nach Rissen, nur um ihn nicht ansehen zu müssen.
„Danke, ich bin in Ordnung. Alles klar.“
Es kam ihr schroffer als beabsichtigt über die Lippen, aber sie war aufgewühlt, und das nicht nur wegen des brutalen Angriffs des Implantats. Sie warf Leon einen Blick zu und wusste nicht recht, was sie empfinden sollte, als sie sah, dass ihre Reaktion ihn getroffen hatte. Er blinzelte langsam, und eine Art Coolness stieg in seinem Blick auf, Zeichen einer Charakterstärke, die sie ihm nicht hatte zugestehen wollen.
„Paintball, ja?“, sagte er leise, und ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab, um das Päckchen aufzuheben, das sie hier hinterlegt hatte.
Ada sah ihm nach und sagte sich, wie vollkommen lächerlich es war, sich darum zu scheren, was er von ihr hielt. Sie waren im Begriff, eine Reise anzutreten, während der sie ihn womöglich würde abhängen müssen oder zusehen musste, wie er sein Leben opferte, um ihres zu retten …
… oder ich muss ihn selber umbringen. Das wollen wir doch nicht vergessen, Freunde und Nachbarn. Wer gibt also einen Scheißdreck darauf, ob er mich für ein undankbares Miststück hält?
Genau. Sie musste ihm dankbar dafür sein, dass er sie daran erinnert hatte.
Ada bückte sich, um die Shotgun aufzuheben. Sie hatte das Gefühl, ihre Prioritäten besser setzen zu müssen – und spürte in sich eine Leere, wie seit langer, langer Zeit nicht mehr.