FÜNFZEHN
Leon fand Ada im Zwinger, wo sie versuchte, den rostigen Deckel der Einstiegsluke hochzuhebeln, von der ihnen der Reporter erzählt hatte. Irgendwo hatte sie ein Brecheisen aufgetrieben, das sie unter die dicke Eisenplatte geklemmt hatte, und ihr sich deutlich abzeichnender Bizeps glänzte vor Schweiß, während sie die Luke mit der Stange bearbeitete. Sie hatte den Deckel zwei oder drei Zentimeter angehoben, ließ ihn aber bei Leons Eintreten wieder fallen. Das metallene Geräusch hallte laut durch den kalten, leeren Raum.
Bevor Leon etwas sagen konnte, legte sie die Brechstange auf den Betonboden, sah mit einem schiefen Lächeln zu ihm hoch und wischte sich die rostverschmutzten Hände ab.
„Gut, dass Sie hier sind. Ich glaube, ich bin nicht stark genug, um das allein zu schaffen …“
Zuvor war Leon sich nicht sicher gewesen, doch der hilflose Blick, den sie ihm schenkte, machte es ihm deutlich: Sie spielte ihm etwas vor, oder versuchte es zumindest. Er kannte Ada erst seit zwanzig Minuten, aber er bezweifelte stark, dass sie jemals in irgendeiner Hinsicht hilflos gewesen war.
„Sieht aus, als kämen Sie ganz gut klar“, meinte er, steckte die Magnum ins Holster, machte jedoch keine Bewegung in Richtung des Schachtes. Er verschränkte die Arme und runzelte leicht die Stirn, nicht wütend, nur neugierig.
„Außerdem, was soll die Eile? Ich dachte, Sie wollten mit dem Reporter reden. Über John, Ihren Umbrella-Freund …“
Ihr hilfsbedürftiger Blick schmolz dahin, ihre feinen Züge wurden kühl und hart, aber nicht im negativen Sinne – es war, als ließe sie ihr wahres Ich zum Vorschein kommen, die starke und selbstbewusste Ada, die er zuerst kennengelernt hatte. Leon wusste, dass er sie überrascht hatte, indem er ihr nicht zu Hilfe geeilt war, und es freute ihn, das zu sehen; er hatte genug Grund zur Sorge, auch ohne von einer rätselhaften Fremden manipuliert zu werden. Sie war seinen Fragen sehr sorgsam ausgewichen, aber jetzt war es Zeit für Miss Wong, ein paar Dinge zu erklären.
Ada hielt seinem Blick stand und erhob sich. „Sie haben doch gehört, was er gesagt hat – er hätte uns gar nichts erzählt. Und so gefährlich, wie es hier ist, will ich wirklich nicht herumstehen und darauf warten, dass er so was wie ein Gewissen entwickelt …“
Sie senkte den Blick, ihre Stimme wurde leiser. „… und ich weiß ja nicht mal, ob John in Raccoon ist. Aber ich weiß, dass er nicht hier ist – und ich möchte verschwinden, bevor das Revier völlig überrannt wird.“
Das klang gut, aber aus irgendeinem Grund hatte Leon das Gefühl, dass sie ihm noch etwas verheimlichte. Ein paar Sekunden lang sann er über eine höfliche Möglichkeit nach, sie dazu zu bringen, sich ihm zu offenbaren – dann aber entschied er: Zum Teufel damit! Unter Umständen wie diesen musste man auf den guten Ton zur Not auch mal pfeifen.
„Was ist los, Ada? Wissen Sie etwas, das Sie mir nicht sagen?“
Sie sah ihn abermals an, und wieder hatte er das Gefühl, sie überrascht zu haben – doch ihr kühler, dunkler Blick war so undeutbar wie eh und je.
„Ich will nur hier raus“, erwiderte sie, und die Aufrichtigkeit in ihrer Stimme war unmöglich zu leugnen. Wenn er auch sonst nichts von dem glaubte, was sie gesagt hatte, das immerhin schien zu stimmen.
Ich wünschte, es wäre damit abgetan, ihr zu glauben – aber da sind noch Claire und auch Ben, unser Freund, das Arschloch, und Gott weiß wie viele andere …
Leon schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht abhauen. Wie gesagt, ich bin vielleicht der einzige Cop, der hier noch übrig ist. Wenn noch Menschen in diesem Gebäude sind, muss ich wenigstens versuchen, ihnen zu helfen. Und ich denke, es wäre am besten, wenn Sie mit mir kämen.“
Ada schenkte ihm ein weiteres schiefes Lächeln. „Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, Leon, aber ich kann auf mich selbst aufpassen.“
Das bezweifelte er nicht – er wollte aber auch ihre Fähigkeiten nicht auf die Probe gestellt sehen. Zugegeben, er war selber ziemlich unerfahren, aber er war darin ausgebildet, Krisensituationen zu handhaben, das war sein Job.
Und sei doch ehrlich – du hast Claire verloren, du konntest Branagh nicht helfen, und Ben Bertolucci gibt einen Scheißdreck auf deine Beschützertalente. Du willst nicht auch noch bei Ada versagen. Und du willst nicht allein sein.
Ada schien zu wissen, was er dachte. Bevor ihm ein überzeugendes Argument einfallen konnte, trat sie vor und legte ihm ihre schlanke Hand auf den Arm. Der Humor schwand aus ihren strahlenden Augen.
„Ich weiß, dass Sie hier Ihren Job tun wollen, aber Sie haben es selber gesagt – wir müssen einen Weg aus Raccoon finden und versuchen, Hilfe von draußen zu bekommen. Und die Kanalisation ist wahrscheinlich unsere beste Chance …“
Ihre sanfte Berührung überraschte ihn – und sandte ein elektrisiertes Kribbeln durch seinen Bauch, ein unerwartes Aufwallen von Wärme, das ihn verwirrte und verunsicherte. Er schaffte es, seine Reaktion zu verheimlichen, aber nur mit Mühe.
Ada fuhr fort, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. „Wie wär’s damit – helfen Sie mir mit diesem Deckel und lassen Sie uns nachsehen, was da unten ist. Wenn es gefährlich aussieht, komme ich mit Ihnen … aber wenn’s nicht schlimm ist – na ja, dann können wir uns darüber unterhalten, was wir als Nächstes tun.“
Leon wollte widersprechen, doch die Wahrheit war, dass er sie nicht zu etwas zwingen konnte, das sie nicht wollte – und er wollte vor allem, dass sie keinen herrischen Macho in ihm sah, sie sollte wissen, dass er kompromissbereit war …
… und sagt dir der Name „John“ etwas? Das ist hier kein Date, um Himmels willen, hör auf, mit deinen Hormonen zu denken.
Ihn überkam ein fast peinliches Gefühl von Scham, während ihre Hand noch auf seinem Arm lag. Leon trat beiseite und nickte knapp. Gemeinsam gingen sie neben der Einstiegsluke in die Hocke. Leon hob die Brechstange auf und rammte ein Ende unter den Deckel. Als er zurückwich, drückte Ada auf die Stange, und mit einem schweren Knirschen kam die dicke Metallplatte hoch. Leon stemmte sich mit dem Rücken dagegen und wuchtete den Deckel zur Seite, machte die Öffnung frei –
– und beide zuckten sie vor dem Geruch zurück, der ihnen aus dem finsteren Loch entgegenschlug, ein erstickender, dumpfer Gestank nach Blut, Pisse und Kotze.
„Bah, was ist das denn?“, hustete Leon.
Ada ließ sich auf den Fersen nieder und hielt eine Hand vor den Mund gepresst. „Die Leichen aus der Garage, man hat sie wohl hier reingeworfen …“
Ehe Leon fragen konnte, wovon sie sprach, hallte ein Schrei schieren Entsetzens durch die Kellergänge, von der geschlossenen Tür nur schwach gefiltert. Der Schrei nahm kein Ende, eine Männerstimme – doch dann wandelte sich das panische Gekreische plötzlich zu einem gurgelnden Schmerzensschrei.
Der Reporter!
Leons Blick kreuzte den von Ada, und er bemerkte, wie dieselbe erstaunte Erkenntnis über ihr Gesicht huschte – dann sprangen sie beide auf und rannten los, zogen ihre Waffen und sprinteten zur Tür hinaus, noch bevor die Echos erstarben.
Ich hab ihn zurückgelassen, das hätte ich nicht tun dürfen …!
Sie rannten den Korridor hinunter in Richtung des Zellentrakts. Sein Schuldgefühl ließ Leon so schnell wie nie zuvor in seinem Leben laufen. Jemand oder etwas war zu Bertolucci vorgedrungen – und hatte sich, um das zu schaffen, hinter seinem Rücken vorbeigestohlen.
Sherry stand in Mr. Irons’ Büro, rieb ihren Glücksbringer und wünschte sich, dass Claire zurückkäme. Sie war durch ein Dutzend staubiger Tunnel gekrochen, um von dem Monster fortzukommen und um es von Claire wegzulocken, und sie war ziemlich sicher, dass es geklappt hatte – sie hatte es nicht wieder gehört und war zurückgekehrt, nur um feststellen zu müssen, dass Claire verschwunden war. Wenn das Monster Claire gefunden hätte, dann wäre sie jetzt tot und zerfetzt.
Aber sie ist nicht hier. Niemand ist hier …
Sherry saß auf der Kante eines niedrigen Tisches in der Mitte des Zimmers und fragte sich, was sie tun sollte. Sie hatte sich daran gewöhnt, allein zu sein, und nicht einmal bemerkt, wie einsam sie gewesen war – doch das Zusammentreffen mit Claire hatte das geändert. Sherry wollte sie wiedersehen, sie wollte mit anderen Menschen zusammen sein. Sie sehnte sich dermaßen nach ihren Eltern, dass es wehtat. Selbst Mr. Irons wäre ihr recht gewesen, obwohl Sherry ihn nicht mochte. Sie hatte ihn nur ein paarmal getroffen, aber er war komisch, aufgeblasen und falsch – und sein Büro war obendrein noch unheimlich. Dennoch hätte sie auch mit ihm vorlieb genommen, wenn es nur bedeutet hätte, dass sie nicht mehr allein gewesen wäre …
Schritte. Auf dem Gang draußen vor dem Büro.
Sherry stand auf und rannte zu der offenen Tür, die zurück in den Raum mit den Rüstungen führte. Sie hoffte, dass es sich um Claire handelte, und war bereit, loszurennen und in Deckung zu gehen, falls dem nicht so wäre. Sie duckte sich hinter dem Türrahmen, hielt den Atem an, starrte den ausgestopften Tiger auf dem Gang an und betete im Stillen.
Die äußere Tür wurde geöffnet und geschlossen. Gedämpfte Schritte auf dem Teppich, die sich langsam voranbewegten. Sherry spannte sich, um loszulaufen, und bemühte sich gleichzeitig, genug Mut aufzubringen, um einen Blick zu wagen –
„Sherry?“
Claire!
„Ich bin hier!“
Sie rannte zurück in das Büro, und da war Claire, ihr ganzes Gesicht hellte sich in einem strahlenden Lächeln auf. Sherry flog in ihre ausgebreiteten Arme, war so glücklich, sie zu sehen, dass sie weinen wollte.
„Ich hab dich gesucht“, sagte Claire und hielt sie ganz fest. „Lauf mir nicht noch mal so davon, okay?“
Claire kniete vor ihr, immer noch lächelnd – doch Sherry erkannte die Sorge hinter dem Lächeln und in ihren ruhigen grauen Augen.
„Tut mir leid“, sagte Sherry. „Ich musste, sonst wäre das Monster gekommen.“
„Wie sieht es denn aus?“, fragte Claire mit schwindendem Lächeln. „Sieht es – irgendwie rot aus, mit Krallen?“
Sherry schluckte hart. „Die Inside-Out-Wesen! Du hast eines gesehen, stimmt’s?“
Unfassbar – Claire grinste und schüttelte den Kopf. „Ja, das ist genau das, was ich gesehen habe, ein Inside-Out-Wesen … das ist eine gute Bezeichnung.“
Sie schaute Sherry ernster an und runzelte die Stirn. „,Eines‘? Es gibt noch mehr davon?“
Sherry nickte. „Ja, aber sie sind nichts im Vergleich zu dem Monster. Ich hab es nur einmal gesehen, von hinten, aber es ist ein Mann, ein Riese – “
Claire wirkte alarmiert. „Glatzköpfig? Und trägt er einen langen Mantel?“
„Nein, er hatte Haare, braune Haare. Und einer seiner Arme war ganz … na, vermurkst irgendwie, viel länger als der andere.“
Claire seufzte. „Toll. Klingt so, als hätte Raccoon für jeden etwas zu bieten …“
Sie streckte die Hand aus, nahm die von Sherry und drückte sie. „Ein Grund mehr, dass du bei mir bleiben solltest. Du hast bisher sehr gut auf dich selbst aufgepasst, und du warst sehr tapfer – aber bis wir deine Eltern finden, hab ich das Gefühl, dass es einstweilen meine Aufgabe ist, auf dich aufzupassen. Und wenn das Monster kommt, dann – dann tret ich ihm in den Arsch, okay?“
Sherry lachte, ganz überrascht. Es gefiel ihr, dass Claire nicht von oben herab mit ihr redete. Sie nickte, und Claire drückte ihre Hand noch einmal.
„Gut. Wir haben also Zombies, Inside-Out-Wesen und ein Monster. Und einen großen glatzköpfigen Kerl … Sherry, weißt du, was in Raccoon passiert ist? Wie das alles angefangen hat? Gibt’s irgendwas, das du mir sagen könntest, ganz gleich was? Es könnte wichtig sein.“
Sherry dachte nach, die Stirn in Falten gelegt. „Na ja, da gab’s ein paar Morde im vergangenen Mai oder Juni, glaub ich – zehn Menschen oder so wurden umgebracht. Und dann hörte es auf, aber vor etwa einer Woche wurde wieder jemand angegriffen.“
Claire nickte aufmunternd. „Okay. Wurden noch weitere Menschen angegriffen, oder … was hat die Polizei unternommen?“
Sherry schüttelte den Kopf. Sie wünschte, sie wäre eine größere Hilfe gewesen. „Ich weiß nicht. Direkt bevor dieses Mädchen angegriffen wurde, rief meine Mutter ganz aufgeregt von der Arbeit aus an und sagte mir, dass ich das Haus nicht verlassen könne. Mrs. Willis – das ist unsere Nachbarin – kam rüber und kochte mir Abendessen, und so hörte ich von diesem Mädchen. Mom rief am nächsten Tag wieder an und sagte mir, dass sie und Dad in der Firma festsäßen und eine Zeit lang nicht heimkommen würden – und dann, vor drei Tagen oder so, rief sie wieder an und sagte mir, dass ich hierherkommen solle. Ich ging, um zu fragen, ob Mrs. Willis mit mir kommen wollte, aber ihr Haus war dunkel und leer. Ich schätze, da war die Sache schon ziemlich schlimm.“
Claire sah sie aufmerksam an. „Du warst die ganze Zeit über allein? Schon bevor du aufs Revier gekommen bist?“
Sherry nickte. „Ja, aber ich bin oft allein. Meine Eltern sind beide Wissenschaftler. Ihre Arbeit ist wichtig, und manchmal können sie nicht mittendrin aufhören. Und meine Mutter sagt immer, dass ich sehr selbstständig bin, wenn ich es nur will.“
„Weißt du, was für einer Arbeit deine Eltern nachgehen? Bei Umbrella?“ Claire behielt das Mädchen immer noch genau im Auge.
„Sie entwickeln Heilmittel für Krankheiten“, erklärte Sherry stolz. „Und machen Arzneien und Seren, wie sie in Krankenhäusern verwendet werden …“
Sie verstummte, als sie merkte, dass Claire plötzlich abgelenkt schien, ihr Blick weit entrückt. Es war ein Ausdruck, wie sie ihn schon viele Male in den Gesichtern ihrer Eltern gesehen hatte – und er bedeutete, dass jemand gar nicht mehr richtig zuhörte. Doch sobald sie aufgehört hatte zu reden, richtete sich Claires Aufmerksamkeit wieder auf sie, und sie streckte die Hand aus, um Sherrys Schulter zu tätscheln – und aus irgendeinem albernen Grund brachte das Sherry beinahe wieder zum Heulen.
Weil sie mir eben doch zuhört. Weil sie auf mich aufpassen will.
„Deine Mutter hat recht“, sagte Claire sanft, „du bist sehr selbstständig, und dass du es bis hierher geschafft hast, heißt, dass du auch sehr stark bist. Das ist gut, weil wir beide sehr stark sein müssen, um hier rauszukommen.“
Sherry spürte, wie ihre Augen groß wurden. „Was meinst du damit? Das Revier verlassen? Aber da sind überall Zombies, und ich weiß nicht, wo meine Eltern sind. Was ist, wenn sie Hilfe brauchen oder nach mir suchen …?“
„Schätzchen, ich bin sicher, dass es deinen Eltern gut geht“, sagte Claire rasch. „Wahrscheinlich sind sie noch in der Firma, wo sie sich verstecken – genau, wie du es getan hast –, um auf Leute zu warten, die von außerhalb der Stadt kommen und alles wieder gutmachen …“
„Du meinst, um alle zu töten“, sagte Sherry. „Ich bin zwölf, weißt du, ich bin kein Baby mehr.“
Claire lächelte. „Entschuldige. Ja, um alle zu töten. Aber bis die Guten kommen, sind wir auf uns gestellt. Und das Beste, was wir tun können, das Klügste, ist, ihnen aus dem Weg zu gehen – diesen Zombies und Ungeheuern so weit wie nur möglich aus dem Weg zu gehen. Du hast recht, die Straßen sind nicht sicher, aber vielleicht finden wir ein Auto und …“
Jetzt war es an Claire zu verstummen. Sie erhob sich und ging zu dem großen Schreibtisch auf der anderen Seite des Büros. Im Gehen sah sie sich um.
„Vielleicht hat Chief Irons seine Autoschlüssel hier gelassen oder eine Waffe, etwas, das uns nützlich sein könnte – “
Claire entdeckte etwas auf dem Boden hinter dem Schreibtisch. Sie bückte sich, und Sherry eilte ihr nach, zum einen, um in ihrer Nähe zu bleiben, zum anderen, um zu sehen, was Claire da gefunden hatte. Sie wusste jetzt schon, dass sie Claire nicht noch einmal verlieren wollte, ganz egal, was noch geschah.
„Hier ist Blut“, sagte Claire leise, so leise, dass Sherry meinte, sie hätte es gar nicht aussprechen wollen.
„Und?“
Stirnrunzelnd sah Claire an der Wand empor, dann wieder auf den großen, trocknenden roten Klecks auf dem Boden. „Der Fleck ist noch feucht. Und hier sieht er aus wie abgeschnitten. Es müsste doch hier auch was an die Wand gespritzt sein …“
Sie klopfte gegen die dunkle Holzzierleiste, die an der Wand verlief, dann gegen die Wand selbst. Es gab einen hörbaren Unterschied: ein dumpfes Pochen von der Leiste, doch die Wand klang hohl.
„Liegt dahinter ein Raum?“, fragte Sherry.
„Ich weiß nicht, es hat den Anschein. Und es würde erklären, wohin er sie … wohin er sich abgesetzt hat. Chief Irons, meine ich.“
Während sie anfing, die Fußleisten entlang zu tasten, sah sie zu Sherry empor, strich dann mit den Händen über die Wand und drückte dagegen. „Sherry, sieh dich beim Schreibtisch um, ob du einen Hebel oder einen Schalter finden kannst. Wenn es einen gibt, wäre er wohl irgendwo versteckt, vielleicht in einer der Schubladen …“
Sherry ging hinter den Schreibtisch – und stolperte; ihr Fuß rutschte auf einer Handvoll Bleistifte aus, die sie nicht gesehen hatte. Sie fasste nach der Schreibtischplatte, versuchte, ihr Gleichgewicht zu wahren, landete aber dennoch ziemlich hart auf den Knien.
„Autsch!“
Claire war sofort neben ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern. „Bist du in Ordnung?“
„Ja. Ich – hey! Guck mal!“
Ihre geprellten Knie vergessend, deutete Sherry auf einen Schalter unter der oberen Schreibtischschublade, der in eine kleine Metallplatte eingelassen war. Er sah aus wie ein Lichtschalter, musste aber zu der Geheimtür gehören, das wusste sie einfach.
Ich hab ihn gefunden!
Claire streckte die Hand aus und legte den Schalter um – und hinter ihnen glitt ein Teil der Wand reibungslos nach oben, verschwand in der Decke und offenbarte einen schwach beleuchteten Raum, dessen Wände aus großen Ziegelsteinen bestanden. Kühle, feuchte Luft wehte in das Büro. Es war ein geheimer Durchgang, genau wie in irgendwelchen Filmen.
Sie standen auf und traten auf die Öffnung zu. Claire hielt Sherry mit einem Arm zurück und sah zuerst hinein. Der kleine Raum war völlig leer – drei Ziegelwände, ein fleckiger Holzboden. Nur etwa halb so groß wie das Büro. Die vierte Wand wurde von einer großen altmodischen Aufzugtür eingenommen, eine von der Art, die man zur Seite schieben musste.
„Fahren wir damit?“, fragte Sherry. Sie war aufgeregt, aber auch ängstlich.
Claire hatte ihre Pistole hervorgeholt. Sie ging neben Sherry in die Hocke und lächelte – aber es war kein freudiges Lächeln, und Sherry wusste, was kam, noch bevor Claire ein Wort gesagt hatte.
„Schätzchen, ich glaube, es ist am sichersten, wenn ich zuerst gehe und mich etwas umsehe und du zunächst hier bleibst – “
„Aber du hast gesagt, wir sollten zusammenbleiben! Du hast gesagt, wir suchen uns ein Auto und verschwinden! Was ist, wenn das Monster kommt und du nicht hier bist, oder wenn du umgebracht wirst?“
Claire umarmte sie, doch Sherry war fast schlecht vor hilfloser Wut. Claire wollte ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen solle, dass das Monster nicht kommen würde, dass nichts Schlimmes passieren könne – und dann würde sie trotzdem gehen.
Blöde Erwachsenenlügen!
Claire lehnte sich zurück und strich Sherry das Haar aus dem Gesicht. „Ich mach dir keine Vorwürfe, dass du Angst hast. Ich hab auch Angst. Das ist eine schlimme Situation – und ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was passieren wird. Aber ich will das Richtige für dich tun, und das heißt, dass ich dich nicht in eine Lage bringen werde, wo du verletzt werden könntest, nicht, wenn ich es vermeiden kann.“
Sherry schluckte ihre Tränen hinunter und versuchte es noch einmal. „Aber ich will mit dir gehen … Was, wenn du nicht wiederkommst?“
„Ich werde wiederkommen“, sagte Claire fest. „Das verspreche ich. Und wenn – wenn nicht, dann will ich, dass du dich wieder versteckst, wie vorher. Es wird jemand kommen, es wird bald Hilfe eintreffen, und man wird dich finden.“
Wenigstens war sie ehrlich. Es gefiel Sherry nicht, ganz und gar nicht, aber immerhin – und Claires Gesichtsausdruck verriet ihr, dass es nichts gab, was sie, Sherry, tun konnte, um ihren Entschluss zu ändern. Sie konnte sich deswegen nun benehmen wie ein Baby, oder sie konnte sich damit abfinden.
„Sei vorsichtig“, flüsterte sie, und Claire umarmte sie noch einmal, ehe sie sich erhob und auf den Aufzug zuging. Sie drückte einen Knopf neben der Tür, und es ertönte ein leises, sanftes Summen. Nach ein paar Sekunden tauchte eine Liftkabine auf, die sanft zum Halten kam. Claire zog die Tür auf, trat hinein und wandte sich für einen letzten Blick auf Sherry um.
„Bleib hier, Schätzchen“, sagte sie. „Ich bin in ein paar Minuten wieder da.“
Sherry zwang sich zu einem Nicken – und Claire ließ die Tür los, die sich daraufhin schloss. Sie drückte einen Knopf im Aufzug, und die Kabine fuhr abwärts. Claires lächelndes Gesicht verschwand aus Sherrys Blickfeld und ließ sie allein zurück in der kalten, dunklen Passage.
Sherry setzte sich auf den staubigen Boden und zog die Knie mit ihren Armen dicht an ihren Körper, schaukelte sanft vor und zurück. Claire war mutig und klug, sie würde bald zurück sein, sie musste bald zurück sein …
„Ich will meine Mom“, flüsterte Sherry, aber es war niemand da, der sie hörte. Sie war wieder allein, genau das, was sie am allerwenigsten sein wollte.
Aber ich bin stark. Ich bin stark, und ich kann warten.
Sie ließ das Kinn auf ihren Knien ruhen, berührte die Halskette, die ihre Mutter ihr als Glücksbringer gegeben hatte, und wartete darauf, dass Claire zurückkehrte.