VIERZEHN
So schön … Selbst im Tod war Beverly Harris noch von umwerfender Schönheit, doch Irons konnte es nicht riskieren, dass sie aufwachte, so lange er nicht auf sie Acht gab. Vorsichtig verstaute er sie in dem Schrank unter dem Spülbecken und verriegelte ihn. Er schwor sich, dass er sie herausholen würde, sobald er mehr Zeit hatte. Sie würde das erlesenste Tier sein, das ihm je unter die Finger gekommen war, wenn er sie erst einmal ordentlich präpariert und in Pose gebracht hatte, für die Ewigkeit konserviert … ein wahr gewordener Traum.
Falls ich die Zeit habe. Falls mir überhaupt noch Zeit bleibt.
Irons wusste, dass er sich einmal mehr selbst bemitleidete, aber es war niemand sonst zum Bedauern da, niemand, der das schiere Ausmaß all dessen, was er durchgemacht hatte, hätte bestaunen können. Er fühlte sich schrecklich – traurig und wütend und allein –, aber er hatte auch das Gefühl, dass die Dinge endlich klar geworden waren. Er wusste jetzt Bescheid, wusste, warum man ihm so zusetzte, und diese Erkenntnis hatte ihm Klarheit verschafft – so deprimierend die Wahrheit auch sein mochte, er war zumindest nicht mehr orientierungslos.
Umbrella. Eine Umbrella-Verschwörung, um mich zu vernichten, die ganze Zeit schon …
Irons saß auf dem ramponierten, fleckigen Tisch im Sanktuarium, seinem ganz speziellen, privaten Ort, und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die junge Frau kam, um ihn zu holen. Die mit dem sportlichen Körper, die sich geweigert hatte, ihm ihren Namen zu verraten. In gewisser Weise war sie verantwortlich für seine neu gewonnene Klarheit, eine Ironie, die er nicht umhin kam zu begrüßen – es war ihr plötzliches Auftauchen gewesen, das ihm die Augen für die Wahrheit geöffnet hatte.
Sie würde ihn natürlich finden; sie war eine Umbrella-Spionin, und Umbrella hatte ihn offenbar schon seit einiger Zeit beobachtet. Wahrscheinlich hatten sie Listen, die seinen ganzen Besitz aufführten, ganze Bände psychologischer Gutachten, sogar Kopien seiner Steuerbescheide. Es ergab alles Sinn, jetzt, da er etwas Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Er war der mächtigste Mann in Raccoon, und Umbrella hatte seinen Niedergang geplant, jeden Stich in den Rücken arrangiert, um ihn in größtmögliche Agonie zu stürzen.
Irons starrte auf seine Schätze, die Werkzeuge und Trophäen, die auf den Regalen vor ihm standen, fühlte jedoch nichts von dem Stolz, den sie normalerweise in ihm auslösten. Die polierten Knochen waren einfach etwas zum Betrachten, während seine Gedanken arbeiteten, ganz versunken in Umbrellas Verrat.
Vor Jahren, als er angefangen hatte, Geld zu nehmen, um die Augen vor den Machenschaften des Unternehmens zu verschließen, war alles anders gewesen – damals hatte es sich um eine politische Angelegenheit gehandelt. Er hatte eine Nische finden müssen in dem Machtgefüge, das Raccoon insgeheim beherrschte. Und lange Zeit war alles glatt gegangen – seine Karriere war nach Plan verlaufen, er hatte sich den Respekt der Offiziellen und der Bürger gleichermaßen verdient, und zum größten Teil hatten sich seine Investitionen bezahlt gemacht. Das Leben war gut gewesen.
Und dann kam Birkin. William Birkin mit seiner neurotischen Frau und dem gemeinsamen Balg …
Nach dem Ausbruch auf dem Spencer-Anwesen hatte Irons sich beinahe selbst eingeredet gehabt, dass die S. T. A. R. S.-Mitglieder, dieser gottverdammte Captain Wesker inbegriffen, Schuld trugen an dem ganzen Ärger, inzwischen allerdings war ihm klar geworden, dass schon die Ankunft von Birkin und seiner Familie fast ein Jahr zuvor die Lawine ins Rollen gebracht hatte; die Zerstörung des Spencer-Labors hatte die Dinge lediglich noch beschleunigt. Umbrella hatte vermutlich an dem Tag begonnen, ihn ins Auge zu fassen, als er das Pech gehabt hatte, Birkin kennenzulernen – zuerst mochten sie ihn nur beobachtet, Wanzen versteckt und Kameras installiert haben. Die Spione hatte man erst später auf ihn angesetzt …
Die Birkins waren nach Raccoon gekommen, damit William sich auf die Entwicklung einer höherentwickelten Synthese des T-Virus konzentrieren konnte, basierend auf der Forschung, die man im Spencer-Labor betrieben hatte. So eigenartig und unangenehm William bisweilen sein konnte, hatte Irons ihn doch von Anfang an gemocht. Birkin war Umbrellas Wunderkind gewesen, aber wie Irons war er nicht der Typ, der mit seiner Position prahlte; William war ein bescheidener Mann, nur daran interessiert, seinen eigenen Möglichkeiten gerecht zu werden. Sie waren beide zu beschäftigt gewesen, um wirklich Freundschaft zu schließen, aber sie hatten einander respektiert. Irons hatte oft das Gefühl gehabt, dass William zu ihm aufschaute …
… und mein Fehler war es, das zuzulassen. Zuzulassen, dass mein Respekt für ihn meine Instinkte umnebelte, mich daran hinderte zu bemerken, dass ich die ganze Zeit über unter Beobachtung stand.
Der Verlust des Spencer-Labors hatte hohe Wellen geschlagen in der Umbrella-Hierarchie, und nur ein paar Tage nach der Explosion war Annette Birkin mit einer Nachricht ihres Mannes an Irons herangetreten – mit einer Nachricht und der Bitte um einen Gefallen. Birkin hatte sich gesorgt, dass Umbrella die neue Synthesis, das G-Virus, verlangen würde, ehe er damit fertig war. Scheinbar war er mit der praktischen Anwendung seiner vorherigen Arbeit höchst unzufrieden gewesen; Umbrella hatte ihn den Replikationsprozess nicht perfektionieren lassen oder so – Irons erinnerte sich nicht genau. Und da Umbrella nun versuchte, den finanziellen Schlag, den der Spencer-Verlust bedeutete, auszugleichen, hatte Birkin befürchtet, dass sie die Integrität des ungetesteten Virus’ kompromittieren könnten. Durch Annette hatte Birkin um Unterstützung gebeten – und Irons einen zusätzlichen finanziellen Anreiz geboten, der Fairness halber. Für Hunderttausend hatte Irons lediglich helfen müssen, das Geheimnis des G-Virus zu wahren – kurzum, nach Umbrella-Spionen Ausschau zu halten und die überlebenden S. T. A. R. S.-Leute im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass sie nicht noch mehr von Umbrellas geheimen Forschungen „aufdeckten“.
Das war’s. Hunderttausend Dollar, und ich passte ja ohnehin schon auf meine kleine Stadt auf und beobachtete diesen rebellischen kleinen Haufen von Unruhestiftern. Leicht verdientes Geld mit der Aussicht auf mehr, wenn alles wie geplant geklappt hätte. Nur war es eben eine Falle, eine Umbrella-Falle …
Irons war hineingetappt, und da hatte Umbrella angefangen, gegen ihn zu intrigieren – die gesammelten Informationen zu benutzen, um sein Schicksal zu besiegeln. Wie sonst hätte alles so schnell schieflaufen können? Die S. T. A. R. S.-Typen waren verschwunden, dann Birkin – und ehe Irons auch nur die Chance gehabt hatte, die Lage zu erfassen, hatten die Angriffe wieder begonnen. Er hatte ja kaum Zeit gehabt, Raccoon abzuriegeln, bevor alles den Bach hinuntergegangen war.
Und alles nur, weil ich einem Freund half – zum Wohle des Unternehmens, nicht weniger. Wie tragisch.
Irons stand auf und ging langsam um den Schneidetisch herum. Gedankenverloren fuhr er mit den Fingerspitzen die Dellen und Kratzer im Holz nach. Hinter jedem dieser Male stand eine Geschichte, eine Erinnerung an eine Vollendung – doch erneut vermochte er daraus keinen Trost zu schöpfen. Die kühle, stille Atmosphäre des Sanktuariums hatte ihn früher stets beruhigt, hier übte er seine Passion aus, hier konnte er ganz er selbst sein – aber es gehörte ihm nicht mehr. Nichts gehörte ihm mehr. Umbrella hatte ihm alles weggenommen, genau wie sie seine Stadt genommen hatten. War es so weit hergeholt zu schlussfolgern, dass sie ihr Virus freisetzen würden, um ihn zu kriegen, um ihn in die Knie zu zwingen – und dann dieses spärlich bekleidete, braunhaarige Mädchen zu schicken, um es ihm vor die Nase zu halten? Weshalb sonst war sie so attraktiv? Sie kannten seine Schwächen und nutzten sie aus, versuchten ihm selbst das letzte bisschen Anstand zu verwehren …
Und bald wird sie mich holen kommen, wird sich vielleicht immer noch unwissend stellen, immer noch versuchen, mich mit ihrer gespielten Hilflosigkeit zu verführen. Eine Umbrella-Mörderin, eine Spionin und Diebin, das ist es, was sie ist, wahrscheinlich lacht sie über mich hinter ihrem hübschen Gesicht!
Vielleicht war der Ausbruch ein Unfall gewesen; bei ihrer letzten Begegnung hatte William Birkin unsicher gewirkt, paranoid und erschöpft, und Unfälle ereigneten sich selbst unter den sichersten Umständen. Aber der Rest war Fakt – es gab keine andere Erklärung dafür, wie gründlich Irons ruiniert worden war. Diese Frau würde kommen, um ihn zu holen. Sie arbeitete für Umbrella und war geschickt worden, um ihn zu ermorden. Und damit würde sie nicht aufhören, oh nein – sie würde Beverly finden und sie … sie irgendwie schänden, nur um sicher zu stellen, dass nichts übrig bliebe, was ihm etwas bedeutete.
Irons schaute sich in dem kleinen, sanft erhellten Raum um, der einmal ihm gehört hatte, blickte wehmütig auf die abgenutzten Werkzeuge und das Mobiliar. Aus den schroffen Steinwänden drangen die süßen, vertrauten Düfte von Desinfektionsmitteln und Formaldehyd.
Mein Sanktuarium – meines!
Er nahm die Pistole auf, die auf seinem Spezial-Arbeitstisch lag, die VP70, die immer noch ihm gehörte, und spürte, wie ein bitteres Lächeln seine Lippen kräuselte. Sein Leben war vorbei, das wusste er jetzt. Diese ganze Angelegenheit hatte mit Birkin begonnen und würde hier enden, durch seine eigene Hand. Aber noch nicht jetzt.
Diese Frau würde kommen, um ihn zu holen, und er würde sie töten, bevor er sich endgültig von Beverly verabschiedete – ehe er seine Niederlage eingestand, indem er sich die Kugel gab. Doch er würde dafür sorgen, dass sie zunächst noch sein Leid begriff. Für jede Qual, die er erlitten hatte, würde diese Frau bezahlen. Die Rechnung würde mit Blut beglichen und mit so viel Schmerzen, wie er ihr nur zufügen konnte.
Er würde sterben, aber nicht allein. Und nicht ohne die Frau vor Agonie schreien zu hören, zu hören, wie sie dem Tod seiner Träume eine Stimme gab – eine Stimme so klar und wahrhaftig, dass die Echos selbst die schwarzen Herzen der Umbrella-Führer erreichen würden, von denen er verraten worden war.
Das S. T. A. R. S.-Büro war leer, ein wüstes Durcheinander, kalt und staubig, und doch sträubte sich Claire, es zu verlassen. Nach ihrer schrecklichen Flucht durch die leichenübersäten Flure des ersten Stockwerks hatte ihr die Entdeckung des Büros, in dem ihr Bruder seine Arbeitstage zubrachte, ein Gefühl der Erleichterung verschafft. Mr. X war ihr nicht gefolgt, und obwohl sie immer noch bestrebt war, Sherry zu helfen und Leon zu finden, hielt es sie weiterhin hier. Sie hatte Angst, in die leblosen Gänge zurückzutauchen – und sie zögerte, den einzigen Ort zu verlassen, der sich nach Chris anfühlte.
Wo bist du, großer Bruder? Und was soll ich tun? Zombies, Feuer, Tod, dein komischer Chief Irons und dieses kleine Mädchen … Und gerade, als ich dachte, die Sache könnte nicht mehr verrückter werden, stehe ich Dem-Ding-das-nicht-sterben-wollte gegenüber, dem Freak, vor dem alle Freaks verblassen. Wie soll ich das durchstehen?
Sie saß an Chris’ Schreibtisch und blickte auf den schmalen Streifen Schwarzweißfotos, den sie in der untersten Schublade gefunden hatte. Die vier Bilder zeigten sie beide, grinsend und Grimassen schneidend, ein Fotoautomaten-Memento an die Woche, die sie beide voriges Weihnachten in New York verbracht hatten. Als sie den Streifen fand, hätte Claire zunächst fast geweint, all die Angst und Verwirrung, die sie bislang zurückgehalten hatte, drängten beim Anblick seines Lächelns, das sie so liebte, endlich heraus – doch je länger sie ihn ansah, sie beide, wie sie lachten und Spaß hatten, desto besser fühlte sie sich. Nicht glücklich oder auch nur okay und um keinen Deut weniger ängstlich vor dem, was da noch kommen mochte – nur besser. Ruhiger. Stärker. Sie liebte ihren Bruder und wusste, dass er, wo er auch sein mochte, sie ebenfalls liebte – und wenn sie es geschafft hatten, den Verlust ihrer Eltern zu überstehen, sich ein eigenes Leben aufzubauen und einen albernen Weihnachtsurlaub miteinander zu verbringen, weil sie kein richtiges Zuhause zum Feiern hatten, dann konnten sie alles schaffen. Sie konnte es schaffen.
Ich kann und werde es schaffen. Ich werde Sherry und Leon finden und, so Gott will, meinen Bruder – und wir werden es schaffen, aus Raccoon rauszukommen.
Die Wahrheit war, dass ihr gar keine Wahl blieb – aber sie musste erst den Prozess durchmachen, ihren Mangel an Optionen zu akzeptieren, ehe sie handeln konnte. Sie hatte einmal gehört, dass wahre Tapferkeit nicht die Abwesenheit von Angst sei, sondern vielmehr darin bestünde, die Angst zu akzeptieren und trotzdem zu tun, was nötig war – und nachdem Claire sich einen Moment hingesetzt und über Chris nachgedacht hatte, glaubte sie sich genau dazu imstande.
Sie holte tief Luft, schob die Fotos unter ihre Weste und stand auf. Sie wusste nicht, wohin Mr. X gegangen war, aber er war ihr nicht wie der Typ vorgekommen, der nur so herumstand und wartete. Sie würde in Irons’ Büro zurückkehren, um nachzusehen, ob Sherry zurückgekommen war – oder Irons. Falls auch besagter Mr. X sich dort aufhielt, konnte sie ja immer noch abhauen.
Außerdem hätte ich sein Büro durchsuchen sollen, um etwas über die S. T. A. R. S.-Leute zu finden. Hier gibt es nichts, was mir irgendeinen Hinweis geben könnte …
Im Stehen warf Claire einen letzten Blick in die Runde und wünschte, dass ihr das S. T. A. R. S.-Büro ein bisschen mehr an Ausrüstung oder Informationen geboten hätte. Das einzig Nützliche, das sie gefunden hatte, war eine ausrangierte Gürteltasche in dem Schreibtisch, der hinter dem von Chris stand; darin fand sie eine abgelaufene Büchereikarte, der zufolge es Jill Valentines Arbeitsplatz sein musste. Claire hatte Jill nie kennengelernt, aber Chris hatte sie ein paarmal erwähnt und gesagt, dass sie gut mit Waffen umgehen könne …
Zu dumm, dass sie keine dagelassen hat.
Das Team hatte nach der Suspendierung offenbar alles Wichtige aus dem Büro geräumt. Es befand sich jedoch noch eine überraschend große Zahl persönlicher Dinge hier, gerahmte Fotos, Kaffeetassen und dergleichen. Barrys Schreibtisch hatte Claire gleich anhand des halbfertigen Waffenmodells aus Plastik darauf erkannt. Barry Burton war einer von Chris’ engsten Freunden, ein riesenhafter, freundlicher Bär von einem Mann und ein regelrechter Waffennarr. Claire hoffte, dass er bei Chris war, wo dieser auch stecken mochte, und ihm den Rücken freihielt. Mit einem Raketenwerfer.
Apropos …
Zusätzlich zu allem anderen musste sie eine andere Waffe finden oder mehr Munition für die Neunmillimeter. Sie hatte noch dreizehn Schuss übrig, ein volles Magazin, und wenn das aufgebraucht war, würde sie aufgeschmissen sein. Vielleicht sollte sie auf dem Rückweg zum Ostflügel ein paar der Leichen durchsuchen. Selbst auf ihrer panischen Flucht hatte sie feststellen können, dass einige von ihnen Cops waren, und ihre eigene Pistole war eine der RCPD-Standardwaffen. Die Vorstellung, einen der Toten zu berühren, gefiel Claire zwar überhaupt nicht, aber dass ihr die Munition ausging, war noch deutlich weniger erstrebenswert – vor allem, da Mr. X umherstreifte.
Claire ging zur Tür, drückte sie auf und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, als sie wieder hinaus in den trüben Flur trat. Das Büro zu verlassen versetzte ihrer Entschlossenheit einen Dämpfer. Als sie die Tür hinter sich zudrückte, musste sie ein Schaudern unterdrücken in Anbetracht des immer noch sehr lebendigen Bildes in ihr von Mr. X. Plötzlich kam sie sich wieder verletzlich vor. Sie wandte sich nach rechts und strebte der Bibliothek zu, beschloss, nicht an den Riesen zu denken, bis es unbedingt sein musste – nicht in der Erinnerung an diese leeren, unmenschlichen Augen zu verweilen oder daran, wie er seine schreckliche Faust erhoben hatte, besessen davon, alles, was sich in seinem Weg befand, zu zerstören …
Jetzt hör schon endlich auf damit. Denk an Sherry, denk daran, dir Munition zu besorgen, verdammt noch mal, oder wie du mit Irons umgehen wirst, wenn du ihn findest. Denk drüber nach, wie du am Leben bleiben kannst.
Direkt voraus knickte der dunkle, holzverkleidete Gang wieder nach rechts ab, und Claire versuchte, sich für die vor ihr liegende Aufgabe zu wappnen. Wenn ihre Erinnerung sie nicht trog, lag gleich um die Ecke ein toter Cop –
Als ob ich das nicht schon aufgrund des Gestanks wüsste!
– und sie würde ihn durchsuchen müssen. Er hatte nicht allzu eklig ausgesehen, jedenfalls war ihr das nicht aufgefallen …
Claire bog um die Ecke und gefror stieren Blickes in der Bewegung. Ihr Magen verkrampfte sich, verriet ihr, dass sie in Gefahr war, bevor es ihre Sinne vermochten. Der Leichnam, über den sie auf dem Weg zum S. T. A. R. S.-Büro hinweggesprungen war, war jetzt nurmehr eine blutige Masse aus Fleisch, gebrochenen Gliedern und zerfetzter Uniform. Der Kopf war verschwunden – es war jedoch unmöglich zu sagen, ob er entfernt oder lediglich zu unkenntlichem Brei zermatscht worden war. Es sah aus, als habe jemand den Toten mit einem Vorschlaghammer oder einer Axt bearbeitet – in der kurzen Zeit, seit Claire zuletzt hier vorbeigekommen war, und ihn zu einer klumpigen Masse zerstampft.
Aber wenn, dann wie? Ich habe nichts gehört –
Etwas bewegte sich. Ein Schatten fiel über die zermalmten Überreste etwa sechs oder sieben Schritte vor ihr, und gleichzeitig vernahm Claire ein seltsam kratzendes Geräusch. Atmen.
Sie schaute auf, noch immer nicht sicher, was sie da sah oder hörte – das krächzende Atmen und das Ticken von dicken, gebogenen, krallenbewehrten Klauen auf Holz, die Krallen eines Wesens, das es nicht geben konnte. Es war von der Größe eines ausgewachsenen Menschen, aber damit endete jede Ähnlichkeit auch schon – das Ding war so unmöglich, dass Claire es nur überaus eingeschränkt wahrnehmen konnte; ihr Verstand weigerte sich, die Puzzleteile zusammenzufügen: Das entzündete, ins Violette spielende Fleisch der nackten, langgliedrigen Kreatur, die sich an der Decke festklammerte. Das aufgedunsene, grauweiße Gewebe des teilweise freiliegenden Hirns. Die narbengesäumten Löcher, wo die Augen hätten sein sollen …
Das seh ich nicht wirklich!
Der abgerundete Kopf der Kreatur kippte nach hinten, das breite Maul öffnete sich, ein zäher Strom dunklen Geifers ergoss sich daraus und spritzte über das, was von dem Cop noch übrig war. Das Wesen streckte seine Zunge heraus, aalartig und rosafarben; die raue Oberfläche schimmerte feucht, als sie hervorglitt. Weiter und immer weiter entrollte sich diese schlangenhafte Zunge, peitschte von einer Seite zur anderen und war schließlich so lang, dass sie tatsächlich durch das verheerte Fleisch der Leiche schleifte.
Immer noch wie gelähmt, sah Claire in entsetzter Ungläubigkeit mit an, wie diese unglaubliche Zunge zurückschnellte. Blutströpfchen flogen durch die Luft. Der ganze Vorgang hatte nur eine Sekunde gedauert, doch die Zeit kroch nur noch dahin, und Claires Herz schlug so schnell, dass alles andere ihr wie Zeitlupe vorkam – auch wie sich die Kreatur auf den hölzernen Boden niederließ, wobei ihr Körper sich in der Luft drehte, sodass sie in kauernder Haltung auf dem kaum noch kenntlichen Polizisten landete.
Abermals öffnete das Wesen sein Maul und schrie –
– und endlich war Claire wieder in der Lage, sich zu bewegen, und während das bizarre, hallende Kreischen aus dem Ungeheuer hervorbrach, schaffte sie es, ihre Waffe in Anschlag zu bringen und zu schießen. Das Donnern von Neunmillimeter-Schüssen überlagerte das Heulen, das durch den schmalen Flur hallte.
Bamm-bamm-bamm …!
Und nach wie vor schauderhaft trompetend und kreischend, wurde die Kreatur nach hinten geworfen und ruderte mit ihren klauenbesetzten Armen. Die krampfhaft zuckenden Beine wirbelten blutige Brocken des ausgeweideten Leichnams hoch. Claire sah ein ausgefranstes Stück Kopfhaut, an dem noch ein Ohr hing, durch den Flur fliegen und mit einem feuchten Klatschen gegen die Wand prallen, wo es zu Boden rutschte.
Und die Kreatur brachte ihre Beine irgendwie unter sich und plumpste wie ein knochenloser Haufen vorwärts. Spinnenhaft kam sie auf Claire zu, rasend schnell, schlug ihre entsetzlichen Krallen in den Holzboden und heulte auf.
Claire schoss abermals. Es war ihr nicht bewusst, dass sie ebenfalls zu schreien begonnen hatte, als drei weitere Kugeln in das huschende Ding schlugen und durch die graue Hirnsubstanz pflügten, die aus dem offenen Schädel hervortrat. Sie würde sterben, „es“ würde in weniger als einer Sekunde bei ihr sein, und seine gewaltigen Klauen waren nur noch Zentimeter von ihren Beinen entfernt …
Doch so plötzlich der Angriff erfolgt war, endete er auch. Der gesamte sehnige Körper zitterte und bebte, während flüssiges Grau aus dem brodelnden Schädel troff. Die dicken Krallen trommelten wie wild einen hektischen Rhythmus auf den Holzboden. Mit einem letzten wispernden Jaulen starb das Wesen. Diesmal war jeder Irrtum ausgeschlossen. Claire hatte ihm das Hirn aus dem Schädel geschossen, es würde nicht wieder aufstehen.
Sie starrte auf das Monster hinab, ihr entsetzter Verstand suchte nach irgendetwas, mit dem das Ding sich in Verbindung bringen ließ, irgendein Tier oder auch nur das Gerücht über ein Tier, das dem hier nahe gekommen wäre – doch Claire gab den Versuch nach ein paar Sekunden auf, weil er vergebens war. Das war kein natürliches Wesen, und so nahe, wie es ihr war, konnte sie es nun auch riechen – der Geruch war nicht so beißend wie der eines Zombies, es war ein bitterer, öliger Geruch, irgendwie eher chemisch denn tierisch …
… und es könnte wie Butterkekse riechen, wen würde es interessieren? In Raccoon City gibt’s Monster – es ist Zeit, dass du aufhörst, so gottverdammt überrascht zu sein, wenn du eines siehst.
Der tadelnde Tonfall ihrer inneren Stimme war nicht gerade überzeugend. So sehr Claire auch tapfer und entschlossen sein, über die monströse Kreatur hinwegsteigen und wieder zur Tagesordnung übergehen wollte, stand sie doch einen Moment lang einfach nur da – und in diesem Moment dachte sie ganz ernsthaft daran, kurzerhand zum S. T. A. R. S.-Büro zurückzukehren, hineinzugehen und die Tür hinter sich abzuschließen. Sie könnte sich verstecken, verstecken und auf Hilfe warten, sie wäre in Sicherheit …
Dann entscheide dich. Unternimm irgendwas, aber hör auf mit dieser Wankelmütigkeit und dem Gejammer, denn es geht nicht mehr nur um dich. Ob Sherry in Sicherheit ist? Willst du auf Kosten ihres Lebens überleben?
Der Moment verging. Claire machte einen vorsichtigen Schritt über das rohe rote Fleisch des Wesens hinweg und ging neben den Überresten des Cops in die Hocke. Mit der Waffenmündung schob sie einen Fetzen blutiger Uniform beiseite. Sie schluckte Galle hinunter, als sie durch verwestes Fleisch und Knochen stocherte, bemühte sich, nicht daran zu denken, wer der Cop zu Lebzeiten gewesen oder wie er gestorben sein mochte.
Sie hatte nur noch sieben Schuss übrig – doch sie weigerte sich, in Panik zu geraten, ließ die Enttäuschung stattdessen ihre Entschlossenheit schüren. Wenn sie eine solche blutige Schweinerei durchwühlen konnte, dann konnte sie es auch ein zweites Mal.
Mit einem letzten Blick auf das tote Tierding stand Claire auf und lief rasch auf das Ende des Korridors zu. Ihr Entschluss stand fest: kein Verstecken und kein Davonlaufen vor der Angst mehr. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, ein paar der Monster mitzunehmen, um Sherrys Fluchtchancen zu erhöhen.
Es war besser, beim Versuch zu sterben, als es gar nicht erst zu versuchen. Und davon würde sie nicht wieder abgehen.