SECHZEHN
Annette Birkin saß im Überwachungsraum des Laboratoriums und starrte erschöpft zu der Bildschirmwand über dem Kontrollpult empor. Es kam ihr vor, als sei sie seit Jahren hier, um darauf zu warten, dass William auftauchte, und allmählich glaubte sie, dass er das nie tun würde. Sie würde noch ein wenig länger warten – aber wenn sie ihn nicht bald zu Gesicht bekam, würde sie noch einmal nach ihm suchen müssen.
Gottverdammte Technik …
Es war eine brandneue Anlage, noch keinen Monat alt – fünfundzwanzig Monitore mit einem Erfassungsbereich, der es ihr eigentlich erlauben sollte, jeden Teil der Einrichtung zu überblicken. Eine absolute Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen – sah man davon ab, dass nur elf der Monitore überhaupt funktionierten, und mehr als die Hälfte davon lediglich Statikrauschen zeigte, einen endlosen Tanz elektronischen Schnees. Auf den fünf Monitoren, die Annette noch ein klares Bild lieferten, war alles, was sie sehen konnte – alles, was es zu sehen gab –, verwesende Leichen und gelegentlich ein Re3, entweder beim Fressen oder schlafend …
„Lecker. Du hast sie Lecker genannt, ihrer Zungen wegen …“
Annette hatte gedacht, sie sei über den schlimmsten Schmerz hinweg, aber der einsame Klang ihrer eigenen Stimme in dem kalten, höhlenartigen Raum und die Erkenntnis, dass keine Antwort erfolgen würde – dass es nie mehr eine Antwort geben würde –, weckten eine neuerliche, stechende Woge von Trauer in ihr. William war fort, er war tot, und sie sprach zu niemandem.
Annette senkte den Kopf auf die Konsole und schloss die müden Augen. Wenigstens hatte sie keine Tränen mehr. Sie hatte einen Ozean von Tränen vergossen in den Tagen seit Umbrella gekommen war, um das G-Virus zu holen, und jetzt war sie schlicht zu ausgelaugt, um noch weiterzuheulen. Jetzt gab es nur noch Schmerz, unterbrochen von Anfällen brutalen, hilflosen Zornes darüber, was Umbrella getan hatte.
Noch einen Monat, vielleicht zwei, und wir hätten es ihnen gegeben. Wir hätten es ohne Widerstand übergeben, und William wäre in den Vorstand berufen worden, und wir wären glücklich gewesen. Alle wären glücklich gewesen –
Von einem der leise gestellten Überwachungsmonitore kam ein schwaches Kreischen. Annette sah auf, hoffnungsvoll und furchterfüllt in einem – aber es war nur ein Lecker, eine Etage höher im Operationsbereich. Er hatte sich von der Decke fallen lassen, um sich an einem der Techniker gütlich zu tun, heulte vor sich hin, während er sich in die Eingeweide der Leiche wühlte. Der Tote sah aus wie Don Weller, einer der Laufburschen, aber sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen; er sah fast so verstümmelt und unmenschlich aus wie der Re3, der ihn fraß.
Annette Birkin beobachtete den Lecker beim Fressen, beobachtete den kleinen Bildschirm, ohne wirklich etwas zu erkennen. Ihre Gedanken schweiften ab, beschäftigten sich damit, was noch zu tun war. Sie hatte bereits sämtliche Daten auf den Computern gelöscht und die Codes für den Countdown eingegeben; das Labor war bereit, ihr Fluchtweg gesichert. Aber sie konnte die Sache erst zu Ende bringen, wenn sie ihn wiedersah, sah, dass er wieder in der Umbrella-Anlage war. Die Zerstörung des Labors würde nichts bringen, wenn er sich nicht im Explosionsbereich befand – sie würden ihn finden und das Virus aus seinem Blut extrahieren …
… aber Umbrella wird es nicht bekommen. Eher sterbe ich, bevor ich zulasse, dass sie es kriegen, so wahr mir Gott helfe.
Ihr einziger Trost in dieser wahnsinnigen, entsetzlichen Angelegenheit war, dass Umbrella es nicht geschafft hatte, Williams Synthese in die gierigen Finger zu bekommen. Das hatten sie nicht, und das würden sie nie. Alles, was in die Erschaffung des G-Virus geflossen war, würde unter tausend Tonnen brennenden Gesteins und Holzes begraben werden, inklusive William und all der Monstren, die sie für die Firma erschaffen hatten. Sie würde eine Weile untertauchen, sich Zeit nehmen, um über alles hinwegzukommen und ihre Möglichkeiten abwägen – und dann würde sie das G-Virus an die Konkurrenz verkaufen. Umbrella war der größte, aber nicht der einzige Konzern, der sich mit Biowaffenforschung beschäftigte – und wenn sie mit Umbrella fertig war, würde die Firma nicht mehr die größte sein. Es war keine besonders befriedigende Rache, aber es war alles, was ihr noch blieb.
„Außer Sherry“, flüsterte Annette, und der Gedanke an ihre kleine Tochter tat ihr im Herzen weh, eine andere Art von Schmerz zwar, aber nichtsdestotrotz Schmerz. Seit Sherrys Geburt hatte Annette vorgehabt, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, sich auf das Kind zu konzentrieren, anstatt auf ihren Anteil an Williams brillantem Wirken. Und doch waren die Jahre fast unbemerkt verstrichen, William war ein ums andere Mal befördert worden, die Arbeit war stetig interessanter und wichtiger geworden – und obwohl sie und William sich und einander versprochen hatten, mehr Anstrengung auf ein Familienleben zu verwenden, hatten sie es doch fortwährend aufgeschoben.
Und jetzt ist es zu spät. Wir werden nie eine Familie bilden, werden nie miteinander Eltern sein. All die Zeit vergeudet, geschuftet für eine Firma, die uns am Ende verkauft hat …
Es war zu spät – es hatte keinen Zweck zu betrauern, was hätte sein können. Alles, was sie jetzt noch tun konnte, war, dafür zu sorgen, dass Umbrella nichts weiter von der Familie Birkin bekam. William war tot, aber es gab immer noch Sherry – dieser Teil von ihm würde weiterleben, und Annette hatte die Absicht, endlich die Mutter zu werden, die sie immer schon hätte sein sollen. Natürlich würde sie warten müssen, bis die Lage sich beruhigt hatte, ehe sie Sherry zu sich holen konnte, wenigstens ein paar Monate, aber das Mädchen würde in Sicherheit sein; die Polizei würde sie zu Williams Schwester bringen, so stand es in ihrer beider Testament …
… es sei denn, Irons lebt noch. Dieser fette, gierige Bastard könnte einen Weg finden, auch das noch zu vermasseln, wenn er nur den Hauch einer Chance dazu hat.
Annette hoffte, dass er tot war. Auch wenn er nicht unmittelbar verantwortlich dafür war, dass Umbrella Kenntnis über das G-Virus erlangt hatte, so war Brian Irons doch ein widerwärtiger, arroganter Mensch mit der Moral einer Seegurke. Nach Jahren der Treue zur Firma hatte er sich für mickrige hunderttausend Dollar kaufen lassen. Selbst William war überrascht gewesen, und er hatte eine noch geringere Meinung über den Polizeichef gehabt als Annette …
Auf dem Bildschirm hatte der Re3 seine Mahlzeit beendet. Alles, was von dem Toten jetzt noch übrig war, waren eine leere Hülle, gebogene, blutige Rippen und ein gesichtsloser Schädel. Die ohne Zweifel leuchtenden Farben wurden von der Videoausrüstung nur in matten Grauschattierungen übertragen.
Der Lecker krabbelte aus dem Erfassungsbereich der Kamera und hinterließ eine Spur aus klebriger Flüssigkeit. Dank des T-Virus waren sämtliche Reptilienreihen effiziente Killer, auch wenn die 3er Designmängel aufwiesen – das hervortretende Zerebrum war der offensichtlichste, aber sie hatten auch einen geradezu lächerlich hohen Stoffwechsel; sie satt zu bekommen war ein ständiges Problem gewesen.
Nicht mehr. Jetzt gibt es jede Menge Aas – und zu ihrem Glück winkt ihnen bald ein warmes Abendessen …
Annette fühlte sich aller Energie beraubt und wollte nicht wieder hinaus in die Einrichtung – aber sie konnte nicht einfach nur darauf hoffen, dass William an einer der funktionierenden Kameras vorbeikommen würde. Sie hatte ihn oben auf Ebene drei gehört, vor zwei Tagen, ihn zuvor jedoch fast doppelt so lange nicht gesehen. Sie konnte nicht mehr warten. Die Leute von Umbrella waren vermutlich schon dabei, sich einen Weg hier herein zu verschaffen – es noch Möglichkeiten, die Türen zu passieren …
Und William könnte auch einen Weg nach draußen gefunden haben. Ich kann es nicht mehr leugnen, ganz gleich, wie sehr ich es möchte.
Westlich des Labors gab es eine leerstehende Versandfirma, die Umbrella aufgekauft hatte, um sicherzustellen, dass die unterirdischen Ebenen geheim blieben. So hatte Umbrella den Komplex überhaupt erst bauen können, ohne Verdacht zu erregen: Ausrüstung und Materialien waren in den Lagerhäusern dieser Fabrik versteckt und der schwere Maschinenlift zum Transport benutzt worden. Obwohl die Zugänge zu der Firma nach wie vor versiegelt gewesen waren, als Annette zum letzten Mal nachgeschaut hatte, bestand doch eine geringe Chance, dass William durchgekommen war – und wenn er erst in die Fabrik gelangte, konnte er es auch in die Kanalisation schaffen.
Annette zwang sich zum Aufstehen und ignorierte die Krämpfe in Beinen und Rücken, während sie die Waffe von der Konsole nahm. Sie kannte sich nicht sonderlich mit Waffen aus, hatte aber schnell herausgefunden, wie man eine benutzte, nachdem –
– nachdem sie gekommen waren, um das G-Virus zu holen, die Männer mit den Gasmasken, die schossen und rannten – und William, der arme William, der in einer Blutlache starb, und ich sah die Spritze nicht, bis es zu spät war.
Sie nahm einen tiefen, bebenden Atemzug, versuchte, die schreckliche Erinnerung zu verdrängen, versuchte, den Zwischenfall zu vergessen, der ihr William genommen und Raccoon in eine Stadt der Toten verwandelt hatte. Es kam nicht mehr darauf an. Der vor ihr liegende Weg würde kein angenehmer sein, und sie musste sich konzentrieren. Entflohene Re3er, im Erst- und Zweitstadium infizierte Menschen, die botanischen Experimente, die Arachniden-Reihe – sie konnte jeder Art von T-Virus-Trägern über den Weg laufen, ganz zu schweigen von den Leuten, die Umbrella geschickt haben mochte.
Und William. Mein Mann, mein Geliebter – der erste menschliche G-Virus-Träger, der nicht mehr wirklich menschlich ist …
Sie hatte sich geirrt, als sie dachte, sie hätte keine Tränen mehr in sich. Annette stand inmitten des großen, sterilen Raumes, fünf Etagen unter der Oberfläche von Raccoon, und weinte in quälenden Schluchzern, die das Leid ihrer Einsamkeit nicht einmal annähernd zum Ausdruck bringen konnten.
Umbrella würde büßen. Sobald sie wusste, dass William vor dem Zugriff des Konzerns sicher war, würde sie Umbrellas ach so teure Einrichtung zerstören. Sie würde das G-Virus nehmen und fliehen, sie würde dafür sorgen, dass sie verstanden, wie groß der Mist war, den sie gebaut hatten – und zur Hölle mit jedem, der sie aufzuhalten versuchte.