SIEBENUNDZWANZIG
Die Fahrt den kalten, dunklen Aufzugschacht hinab endete im Quietschen hydraulischer Bremsen – und dann in plötzlicher Stille, als der Antrieb abschaltete. Sie saßen fest, irgendwo in dem scheinbar endlosen Tunnelsystem.
„Claire? Was – “
Claire hielt einen Finger an ihre Lippen, um Sherry zu bedeuten, still zu sein – und hörte von draußen etwas, das wie ein Alarm klang, ein sich wiederholendes, plärrendes Hupgeräusch. Eine Stimme schien sich auch hineinzumengen, doch Claire hörte nur ein schwaches Murmeln.
„Komm, Schätzchen, ich glaube, die Fahrt ist zu Ende. Mal sehen, wo es uns hinverschlagen hat, okay? Und bleib dicht bei mir.“
Sie verließen die Kabine und traten auf die Plattform hinaus, wo die fernen Geräusche nicht mehr so fern klangen – und von irgendwo hinter dem Lift strömte Licht. Claire nahm Sherrys Hand, und sie gingen schnell um den Aufzug herum. Sie wollte nicht, dass sich das Mädchen sorgte, aber sie war sich ziemlich sicher, dass es tatsächlich ein Alarm war, den sie da hörten. Zweifellos sprach auch jemand über diesem rhythmischen Quäken, und Claire wollte wissen, was gesagt wurde.
Der Aufzug hatte dicht unterhalb eines Wartungstunnels gestoppt, das Licht, das Claire bemerkt hatte, rührte von einer Glühbirne, die von einem Gitter geschützt war und von der Tunneldecke herabhing. Eine Tür gab es nicht, dafür aber eine Art Kriechboden von annehmbarer Größe am Ende der kurzen Passage. Er würde genügen müssen.
Entweder das, oder wir klettern an die Oberfläche zurück, ist ja nur etwa eine Meile bis dorthin …
Keine Chance. Claire hob Sherry hinauf, dann kletterte sie ihr nach, setzte sich an die Spitze und ging gebückt zu dem dunklen Loch. Die blökenden Geräusche wurden lauter, je näher sie diesem niedrigen Gang kamen. Das Murmeln wurde zur Stimme einer Frau. Claire bemühte sich, einzelne Worte herauszufiltern, hoffte, dass sie etwas wie „Störung des Aufzugs“ und „vorübergehend“ aufschnappen würde – aber sie verstand noch immer nichts. Sie mussten den Aufzug hinter sich lassen und konnten nur hoffen, dass sie es zugunsten von etwas Besserem taten.
Seufzend drehte Claire sich um. „Sieht mir ganz danach aus, als müssten wir zwei in der anstrengendsten und gebücktesten Gangart weiter, Kind. Ich geh voraus, und dann – “
Sherry kreischte auf, als hinter ihnen etwas auf dem Dach der Aufzugskabine landete und es mit dem Geräusch zerreißenden Metalls durchschlug. Claire packte sie und zog sie zu sich heran. Der Atem stockte ihr –
– und eine Hand, nein, zwei Hände tauchten aus dem Loch im Dach auf. Zwei dicke Arme, in Schatten gehüllt, und dann schob sich das leuchtende Weiß von Mr. X’ gewaltigem Schädel wie ein toter Mond in einer sternenlosen Nacht aus dem ramponierten Aufzug.
Claire drehte sich um und schob Sherry auf die Dunkelheit des Kriechbodens zu. Ihr Herz hämmerte, ihr Körper war mit einem Mal schweißnass und glitschig.
„Geh! Geh, ich bin direkt hinter dir!“
Sherry verschwand in der sich krümmenden Schwärze, flitzte wie eine verschreckte Maus außer Sicht. Claire schaute nicht zurück, sie hatte zu viel Angst, um sich umzudrehen, während sie Sherry in das Loch folgte und ihr gnadenloser Verfolger sicher schon aus dem beschädigten Aufzug kletterte, um seine erbarmungslose Jagd fortzusetzen – aus welchem Motiv heraus auch immer.
Ada hatte aus den Schatten der Stelle, an der sich die drei Laufstege trafen, Bruchstücke von Annettes kreischender Tirade mitbekommen. Sie hatte sich gezwungen, Leon nicht zu Hilfe zu eilen, sich aber geschworen, diesen Entschluss noch einmal zu überdenken, sollte sie Schüsse hören –
– doch dann war das Labor heftig erschüttert worden, und eine teilnahmslose Bandstimme hatte ihre Endlosschleife begonnen.
Scheiße!
Ada hielt sich wankend auf den Beinen, voller Wut auf die Wissenschaftlerin. Ein Teil von ihr sehnte sich schmerzlich nach Leon, und sie wusste, was geschehen war: Annette hatte die „Pannensicherung“ aktiviert, was bedeutete, dass ihnen vermutlich weniger als zehn Minuten blieben, um sich aus Dodge zu verdrücken …
Leon kennt den Weg nicht!
Unwichtig. Wenn sie sich die Probe holen wollte, die Annette gewiss bei sich trug, musste sie es jetzt tun. Leon war nicht ihr Problem, er war nie ihr Problem gewesen, und sie konnte jetzt nicht aufgeben – nicht nach der Hölle, durch die sie gegangen war, um Trents kostbares Virus in ihren Besitz zu bringen.
Ada entfernte sich einen Schritt vom Hauptverbindungspaneel, das die drei Laufstege miteinander verband – und hörte dröhnende Schritte auf sich zukommen, Schritte, die zu schwer waren, um von Annette zu stammen. Sie glitt zurück in die Schatten, herum zu dem Steg, der nach Westen führte, und drückte sich gegen den Rahmen des Kreuzungspunkts.
Eine Sekunde später rannte Leon vorbei, wahrscheinlich dorthin zurück, wo er glaubte, dass sie auf ihn wartete. Ada holte tief Luft – und entließ sie wieder, während sie Leon aus ihren Gedanken verbannte. Dann eilte sie über die Südbrücke, um Annette zu suchen.
Ada war weg.
„… wurde aktiviert. Die Selbstzerstörungssequenz …“
„Halt’s Maul, halt’s Maul!“, zischte Leon. Hilflos stand er inmitten des Raumes, sein Magen verkrampft, seine Hände zu Fäusten geballt.
Sie musste in Panik geraten und davongerannt sein, als sie den Alarm gehört hatte. Wahrscheinlich stolperte sie jetzt durch die riesenhafte Einrichtung, verirrt und benommen, und vielleicht suchte sie nach ihm, während diese verdammte Stimme ihre Litanei unentwegt wiederholte, während die Sirenen plärrten und heulten.
Der Transportaufzug!
Leon wandte sich um, rannte wieder zur Tür hinaus und sah, dass die Kabine verschwunden war – wo der Aufzug vorhin noch gewesen war, gähnte jetzt ein großes, leeres, tiefes Loch. Leon war zu sehr darauf konzentriert gewesen, zu Ada zu gelangen. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass der Lift nicht mehr da war.
Wir müssen diesen Tunnel finden, wir müssen! Ohne den Aufzug sitzen wir hier fest!
Mit einem frustrierten Stöhnen machte Leon kehrt und rannte zurück zu den Laufstegen. Und er betete, dass er Ada fand, bevor es zu spät war.
Der niedrige Durchlass endete abrupt vor einem Durchgang, hinter dem in zwei Meter Tiefe ein leerer Tunnel verlief. Mit dröhnenden Ohren, ihr Mund staubtrocken, umfasste Sherry die Ränder des rechteckigen Loches, schloss die Augen und sprang.
Sie schwang sich über den Gang hinaus und ließ los, landete geduckt und stürzte, als ihr rechtes Bein nachgab. Es tat weh, aber sie spürte es kaum, kroch auf Händen und Knien weiter, um den Weg freizumachen, und sah gleichzeitig zu dem Loch hinauf –
– und da war Claire. Ihr Kopf kam zum Vorschein, aus großen, sorgenvollen Augen überzeugte sie sich davon, dass sie, Sherry, okay und dass der Gang leer und sicher war … nur dass eben Alarmglocken schrillten, eine Frau über die Sprechanlage plapperte und Mr. X unterwegs war.
Claire streckte ihren Arm mit der Waffe so weit herab, wie sie konnte. „Sherry, nimm das mal, ich kann mich nicht umdrehen.“
Sherry stand auf und langte nach oben, packte den Lauf und war erstaunt, wie schwer die Waffe war, als Claire sie losließ.
„Richte sie nirgendwohin“, keuchte Claire, und dann tauchte sie förmlich aus dem Loch, krümmte ihren Körper und landete mit tief eingezogenem Kopf auf der Schulter. Sie vollführte einen halben Purzelbaum, dann stießen ihre Beine gegen die Betonwand.
Noch bevor Sherry auch nur fragen konnte, ob sie in Ordnung war, kam Claire auf die Beine, nahm die Waffe und deutete auf die Tür am Gangende.
„Renn!“, sagte sie und lief selbst los. Mit einer Hand drückte sie gegen Sherrys Rücken, während sie der Tür entgegeneilten und während die Bandstimme sie anwies zu verschwinden, sie darüber informierte, dass die Selbstzerstörungssequenz aktiviert worden war …
Hinter ihnen drang das Geräusch berstenden Metalls durch den blökenden Sirenenlärm, und Sherry rannte vor Schreck noch schneller.