ELF
Cole blieb nichts anderes übrig, als den Killern hinterherzustolpern. Er würgte, ihm war übel, und in seiner Brust wühlten Angst und Hass. Reston hatte ihn dem Tod überantwortet, der Mann hatte diese Mörder sogar ermuntert, ihn umzubringen – er wusste nicht einmal mehr, ob sie überhaupt Mörder waren, und er wusste nicht, wer diese „Stars“ sein sollten – er wusste gar nichts mehr, nur noch, dass seine Augen brannten und er keine Luft bekam.
Lass es wenigstens schnell passieren, mach es schnell und schmerzlos …
Durch die Luke gelangten sie nach Eins, hinter ihnen schnappte die Tür zu. Cole fiel nach hinten gegen das kühle Metall, rang nach Atem; klebrige Tränen sickerten unter seinen geschlossenen Lidern hervor. Er wollte nicht sehen, wie sie abdrückten, er wollte nicht bangen müssen, bevor er starb. Nur sterben zu müssen war schon schlimm genug.
Vielleicht lassen sie mich einfach hier.
Die leise Hoffnung, die ihm dieser Gedanke bescherte, wurde augenblicklich ausgelöscht, als sich eine große, raue Hand um seinen Arm schloss und ihn schüttelte.
„Hey, aufwachen!“
Widerwillig und heftig blinzelnd öffnete Cole seine tränenden Augen. Der große Schwarze starrte auf ihn herab und sah so sauer aus, als wolle er gleich auf ihn einprügeln. Sein Gewehr war auf Coles Brust gerichtet.
„Wollen Sie uns erklären, was es mit diesem verdammten Ort auf sich hat?“
Cole sackte in sich zusammen. Seine Stimme war nur ein Stammeln. „Phase eins. W-wald.“
Der Mann verdrehte die Augen. „Ja, Wald, das seh ich auch. Aber warum?“
Jesus, ist der groß!
Der Kerl hatte noch Muskeln auf den Muskeln. Cole schüttelte den Kopf. Er war sicher, dass er gleich übel zusammengeschlagen werden würde, wusste aber nicht recht, was der Mann eigentlich von ihm wollte.
Der andere Mann trat einen Schritt auf sie zu. Er sah eher aufgebracht als verärgert aus. „John, Reston hat auch ihn reingelegt. Wie heißen Sie noch mal? Henry?“
Cole nickte, verzweifelt bemüht, niemanden zu provozieren. „Ja, Henry Cole. Reston sagte mir, Sie seien hier, um ihn zu töten, und er trug mir auf, mich da reinzustellen. Er wollte Sie nur einsperren. Ich schwöre bei Gott, ich wusste nicht, was er wirklich vorhatte …“
„Langsam“, sagte der kleinere Mann. „Ich bin Leon Kennedy, das ist John Andrews. Wir sind nicht hergekommen, um Reston zu töten …“
„Sollten wir aber“, grummelte John und sah sich um.
Leon fuhr fort, als hätte John gar nichts eingeworfen. „… oder sonst jemanden. Wir wollen nur etwas, das sich angeblich in Restons Besitz befindet, das ist alles. Also – was können Sie uns über dieses Testprogramm sagen?“
Cole schluckte und wischte sich über das nasse Gesicht. Leon schien es ehrlich zu meinen …
… und wie sehen deine Alternativen hier aus? Du kannst erschossen oder zurückgelassen werden, oder du arbeitest mit diesen Typen zusammen. Sie haben Waffen und Reston sagte, die Test-Viecher wurden gezüchtet, um Menschen zu attackieren und … o Scheiße … wie bin ich bloß in diesen Schlamassel geraten?
Cole schaute sich in Eins um, erstaunt darüber, wie anders es ihm nun vorkam, da er darin eingesperrt war, wie – bedrohlich. Die hoch aufragenden künstlichen Bäume, das Unterholz aus Plastik und herumliegendes synthetisches Gehölz – in dem gedämpften Licht und der feuchten Luft, mit den dunklen Wänden und der bemalten Decke vermittelte es einem fast das Gefühl eines richtigen Waldes bei Dämmerung.
„Ich weiß nicht allzu viel“, sagte Cole, den Blick auf Leon gerichtet. „Es gibt vier Phasen – Wald, Wüste, Gebirge, Stadt. Alle sind sie in etwa so groß wie zwei Footballfelder nebeneinander, die genauen Abmessungen habe ich vergessen. Es heißt, sie sollen das künftige Zuhause für diese Versuchstierkreuzungen sein. Man wird sie sogar mit Lebendfutter ernähren, Mäuse, Kaninchen und so. Umbrella testet irgendwelches Seuchenkontrollzeug, und die Versuchstiere sollen ein ähnliches Kreislaufsystem haben wie Menschen, irgendwas in der Art. Sie seien gutes Studienmaterial …“
Er verstummte, hatte die Blicke bemerkt, die die beiden Männer tauschten, als er von den Testkreaturen gesprochen hatte.
„Und das glauben Sie wirklich, Henry?“, fragte John. Er sah nicht mehr sauer aus, seine Miene wirkte jetzt ausdruckslos.
„Ich …“, begann Cole, dann schloss er den Mund und dachte nach. Über die unglaubliche Bezahlung und die Keine-Fragen-Politik. Über die Fragen von den Leuten, die die Aufsicht über die Jobs führten …
‚Macht es Ihnen Freude, hier zu arbeiten? Haben Sie das Gefühl, dass man Ihnen genug dafür bezahlt?‘
… und über die Gefängniszellen … und die Fesselvorrichtungen.
„Nein“, sagte er und verspürte einen Anflug von Scham ob seiner bisherigen Ignoranz. Er hätte es wissen sollen, er hätte es auch gewusst, wenn er nur den Mut besessen hätte, genauer hinzuschauen. „Nein, das tu ich nicht. Nicht mehr.“
Beide Männer nickten, und mit Erleichterung nahm Cole zur Kenntnis, dass John sein Gewehr etwas zur Seite bewegte und anderswo hin richtete.
„Und wissen Sie, wie man hier rauskommt?“, fragte John.
Cole nickte. „Ja, sicher. Die Phasen haben Verbindungstüren, jeweils in den sich diagonal gegenüberliegenden Ecken. Sie sind nur eingeschnappt, keine Schlüssel oder so – bis auf die letzte, die Vier, die ist von außen verriegelt.“
„Dann liegt die Tür, zu der wir wollen, also in dieser Richtung?“, fragte Leon und deutete nach Südwesten. Sie waren in der Nordostecke. Von ihrem Standort aus war die gegenüberliegende Wand nicht einmal zu sehen, so dicht war der falsche Wald. Cole wusste, dass es zumindest eine Lichtung von nennenswerter Größe gab, aber es lag dennoch ein ziemlicher Marsch vor ihnen.
Cole nickte.
„Können Sie uns etwas über diese Versuchstiere sagen? Wie sehen sie aus?“, fragte John.
„Ich habe sie nie gesehen, ich war nur hier, um mich um die Elektrik zu kümmern – Kameras, Leitungen und all den Kram.“ Hoffnungsvoll sah er von einem zu anderen. „Aber wie schlimm können sie schon sein … oder?“
Ihre Mienen waren entmutigend. Cole wollte gerade fragen, was sie ihm sagen konnten, da erfüllte ein lautes, metallenes Rasseln die feuchte Luft, als würde ein riesiges Tor hochgezogen. Es kam von hinten, von der Westwand her, wo Cole die Tierpferche wusste …
… und eine Sekunde später schnitt ein schrilles, durchdringendes Kreischen durch die Luft – ein langer, schmetternder Ton, in den bald ein weiterer einfiel, und dann noch einer und dann zu viele, um sie noch unterscheiden zu können.
Es war auch ein schlagendes Geräusch zu hören, so machtvoll, dass Cole es erst nicht einzuordnen wusste – und als er es endlich konnte, war ihm selbst ein bisschen nach Schreien zumute.
Flügel. Das Geräusch riesiger Flügel, die die Luft teilten.
Sie befanden sich fünf Meter über dem Boden, auf einem Doppelstapel aus Holzkisten, in einer Ecke des Lagerhauses. Schon die leiseste Bewegung brachte die Türme leicht ins Schwanken, und das verstärkte Claires Unwohlsein enorm.
Nicht genug, dass John und Leon verschwunden sind und wir uns vor ein paar Umbrella-Gangstern verstecken – nein, wir müssen auch noch auf dem Berge Wackelau wie in einer pechschwarzen Gefriertruhe festsitzen. Wenn einer von uns auch nur zu kräftig niest, fallen wir runter.
„Das ist echt das Letzte“, flüsterte sie, sowohl um die angespannte Stille zu durchbrechen, als auch um Dampf abzulassen. Der Hubschrauberlärm war verstummt, aber sie hatten draußen noch niemanden gehört.
Es überraschte Claire zu spüren, wie Rebecca neben ihr zitterte, und dazu ein gedämpftes Kichern zu vernehmen. Die junge Biochemikerin versuchte es zu unterdrücken und schaffte es nicht ganz. Claire grinste, verrückterweise erfreut.
Ein paar Sekunden vergingen, dann schaffte es Rebecca zu sagen: „Ja. Du hast ja so was von recht.“ Und dann mussten sie beide ihr Lachen unterdrücken. Die Kisten schwankten leicht.
„Bitte“, sagte David; er klang gereizt. Er befand sich auf dem zweiten Kistenstapel, auf der anderen Seite von Rebecca.
Claire und Rebecca beruhigten sich, und abermals senkte sich Stille über sie.
Sie warteten in der nordöstlichen Ecke, lagen beide auf dem Bauch, ihre Pistolen auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, grob in Richtung der anderen Tür. Laut David gab es zwei. Er lag nach Süden gewandt da und behielt den Zugang im Auge, durch den sie hereingekommen waren.
Das Kichern hatte Claire ein wenig entspannt. Sie fror immer noch, hatte immer noch Angst um Leon und John, aber ihre Lage schien ihr nicht mehr ganz so furchtbar. Übel zwar, ganz bestimmt, aber sie hatte sich schon in wesentlich schlimmeren Situationen befunden.
In Raccoon war ich auf mich allein gestellt. Ich musste auf Sherry Acht geben, Mr. X war uns auf den Fersen, wir mussten uns unseren Weg durch einen Haufen Zombies bahnen und hatten uns total verirrt. Jetzt habe ich wenigstens eine Ahnung davon, womit wir es zu tun haben. Nicht mal eine Armee von bewaffneten Fieslingen ist so schlimm wie nicht zu wissen, was Sache ist …
Außerhalb des Lagerhauses – ein Geräusch. Jemand zog an der Tür, die sie und Rebecca im Auge behielten. Ein schnelles Rütteln, und dann wieder Stille – nur glaubte Claire jetzt, Schritte zu hören, die draußen über den Boden tappten.
Sie überprüfen die Türen. Und wenn Davids Verriegelung nicht überzeugend ist oder sie zufällig genauer hinsehen …
Zumindest war es David, der ihnen Deckung gab. Er war erstaunlich cool und effizient und von so messerscharfem Verstand, wie sie es zuvor noch nie erlebt hatte. Es war, als wüsste er einfach, was zu tun war – augenblicklich, ganz gleich, was geschah. Selbst jetzt. David hatte gesagt, dass die anderen den Bereich vermutlich schnurgerade in Teams durchkämmen, am einen oder anderen Ende anfangen und jedes Gebäude überprüfen würden.
Ein militärischer Stratege, und was für einer.
Claire ging für sich selbst noch einmal durch, was er ihnen gesagt hatte; es war weniger ein Plan als vielmehr eine Was-wäre-wenn-Liste. Dennoch, einfach etwas zu haben, auf das sie sich konzentrieren konnte, war schon eine gehörige Erleichterung.
Wenn nur ein Team hereinkommt, drei Mann oder weniger, verhalten wir uns ruhig, bewegen uns nicht, bis sie wieder verschwinden. Dann gehen wir zur Tür gegenüber der, durch die sie hereingekommen sind, und warten. Wenn wir sie auf der anderen Seite hören, gehen wir raus und rennen zum Zaun. Wenn sie hereinkommen und uns entdecken, schießen wir. Die anderen nehmen wir uns der Reihe nach vor, wenn sie durch die Tür kommen, dann klettern wir hinunter und rennen los.
Wenn es zwei oder mehr Teams sind, warten wir, bis David die Granate wirft, dann schießen wir. Dasselbe gilt, wenn sie Nachtsichtgeräte haben; die Granate wird sie blenden. Wenn es ihnen gelingt, das Feuer zu erwidern, klettern wir hinten runter und nutzen die Kisten als Deckung …
Die weiteren Alternativen verschwanden aus Claires Kopf, als sie hörte, wie an der anderen Tür gerüttelt wurde. Erst gerüttelt – dann ein Tritt.
Die Tür flog auf. Ein Rechteck aus blassem Licht erschien in der Schwärze. Der helle Strahl einer Taschenlampe stach durch das Dunkel, glitt über eine Wand aus Kisten und kehrte dann zur Tür zurück.
Ein leises Klick – dann ein geflüsterter Fluch.
„Was?“ Eine andere Stimme, ebenfalls im Flüsterton.
„Das Licht funktioniert nicht.“ Eine Pause, dann: „Na ja, komm weiter. Wahrscheinlich sind sie sowieso im anderen Gebäude, hier sind sie nicht ganz durchs Schloss gekommen.“
Gott sei Dank. Gut gemacht, David.
Die beiden vermuteten nicht, dass die, die sie suchten, hier waren.
Ein zweiter Strahl tauchte auf, und Claire konnte hinter den zwei hellen Lichtern ganz vage menschliche Silhouetten ausmachen. Den Stimmen nach zu schließen handelte es sich um zwei Männer. Sie bewegten sich nach vorne, die Lichtstrahlen tanzten über die Stapel aus Kartons und Kisten.
Ruhig bleiben, nicht bewegen, abwarten.
Claire schloss die Augen, weil sie nicht wollte, dass sich einer der beiden Männer beobachtet fühlte. Sie hatte einmal gehört, dass dies der Trick beim Verstecken sei – nicht hinzusehen.
„Ich nehme mir den Südbereich vor“, flüsterte eine der Stimmen, und Claire fragte sich, ob die Typen ahnten, wie gut offener Raum den Schall trug.
Wir können euch hören, ihr Hohlköpfe.
Ein komischer Gedanke, aber sie hatte Angst. Die Zombies hatten wenigstens keine Schusswaffen gehabt …
Die Lichter trennten sich, eines bewegte sich von ihnen fort, das andere wurde in ihre Richtung gedreht. Zumindest wurde es tief gehalten. Wer immer die Lampe auch führte, ihm war offenbar nicht klar, dass Menschen auf Kisten klettern konnten.
Ist mir nur recht, beeilt euch und macht, dass ihr hier rauskommt. Lasst uns hier verschwinden, ohne kämpfen zu müssen!
David hatte gesagt, dass sie zurückkommen würden, um John und Leon zu holen, wenn Umbrella verschwunden war. Er hatte gesagt, dass man wahrscheinlich eine Wache aufstellen würde, vielleicht zwei, aber dass es wesentlich einfacher wäre, eine Wache auszuschalten als einen ganzen Trupp …
… und da leuchtete ein Licht in Claires Gesicht – der blendende Strahl traf ihre Augen.
„Hey!“ Ein überraschter Ausruf von unten und dann …
BAMM!
Ein Schuss fiel, und sie hörte und spürte, wie unter ihr etwas nachgab, und Rebecca keuchte, als der Kistenturm sich nach hinten neigte.
Claire schlug mit dem Rücken gegen die Wand, und sie langte nach der schwankenden Kiste, auf der sie gelegen hatten. Von draußen drang ein Chor von Schreien herein. Davids Waffe spie donnernd orangefarbenes Mündungsfeuer …
… und mit einem Krachen stürzte der ganze Kistenstapel ein. Claire fiel haltlos ins Dunkel.
Als er das machtvolle Schlagen von Flügeln und das Kreischen hörte, spürte John, wie seine Haut kalt wurde. Er mochte Vögel nicht, hatte sie nie gemocht, und auf einen Schwarm von Umbrella-Vögeln zu treffen, in einem sterilen, surrealen Wald, das …
„Das darf ja wohl nicht wahr sein!“, brummte er und hob die M-16, den Kunststoffkolben fest gegen seine Schulter gedrückt. Leons Waffe war ebenfalls nach oben gerichtet. Die Decke lag hoch über ihnen. Dort endeten die höchsten Bäume und schufen ein tiefes Dämmerblau. Die Höhe der Bäume reichte von drei bis etwa acht oder zehn Meter – und John sah, dass ganz oben „Sitzäste“ angebracht waren, jeder vom Umfang eines Basketballs.
Der Vogel muss aber verdammt große Füße haben, wenn er das zum Landen braucht …
Die schrillen Schreie hatten aufgehört, und John hörte auch den Flügelschlag nicht mehr – aber er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die Vögel beschlossen, nach Beute Ausschau zu halten.
„Müssen Pterodaktylen sein“, flüsterte Cole mit krächzender Stimme. „Daks.“
„Soll das ein Witz sein?“, schnaufte John und sah am Rande seines Gesichtsfeldes, wie der magere Umbrella-Arbeiter den Kopf schüttelte.
„Vielleicht keine echten, es ist nur ein Spitzname, den ich aufgeschnappt habe.“ Cole klang eindeutig entsetzt.
„Lasst uns diese Tür suchen“, meinte Leon und drang bereits in den falschen, düsteren Wald vor.
Amen.
John setzte ihm nach, vier, fünf Meter, versuchte nach oben zu schauen und zugleich darauf zu achten, wo er hintrat. Er stolperte fast umgehend, trat mit einem Stiefel gegen einen Plastikstein und schaffte es nur mit Mühe und Not, eine Bauchlandung zu vermeiden.
„So wird das nichts“, sagte er. „Cole – Henry.“
Er warf einen Blick nach hinten und sah, dass Cole noch immer vor der Luke kauerte, das blasse, wieselartige Gesicht zum Himmel gerichtet.
Zur Decke, verdammt!
Leon war stehen geblieben, wartete und spähte zu den ausladenden Ästen empor. „Ich geb euch Deckung“, sagte er.
John ging zurück, wütend und frustriert und von ernstlichem Unbehagen erfüllt. Sie steckten in der Klemme. David und die Mädchen konnten oben gerade um ihr Leben kämpfen, und er würde keine Zeit damit verplempern, einen verängstigten Umbrella-Saftsack aufzumuntern. Dennoch konnten sie ihn nicht zurücklassen, zumindest nicht einfach so.
„Henry. Hey, Cole.“ John streckte die Hand aus und tippte ihm gegen den Arm, und endlich sah Cole ihn an. Seine hellbraunen Augen waren glasig vor Angst.
John seufzte und empfand etwas Mitleid mit dem Kerl. Er war ein Elektriker, Teufel noch mal, und es schien, als sei Ignoranz das einzige Verbrechen gewesen, dessen er sich schuldig gemacht hatte.
„Hören Sie, ich verstehe ja, dass Sie sich fürchten, aber wenn Sie hier bleiben, werden Sie umgebracht. Leon und ich, wir hatten beide schon mit solchen Umbrella-Schoßtierchen zu tun. Ihre beste Chance besteht darin, mit uns zu kommen – und außerdem könnten wir Ihre Hilfe gebrauchen. Sie wissen mehr über diesen Ort als wir. Okay?“
Cole nickte zitternd. „Ja, okay. Sorry. Ich – ich hab nur Angst.“
„Willkommen im Club. Vögel sind mir nicht geheuer. Das Fliegen ist ja cool, aber sie sind so seltsam, haben diese Perlenaugen und diese schuppigen Füße – und haben Sie schon mal ’nen Geier gesehen? Die haben Köpfe wie ’n Hodensack.“ John schauderte gespielt und sah, wie Cole sich ein bisschen entspannte und sogar ein zittriges Lächeln versuchte.
„Okay“, sagte Cole noch einmal, fester diesmal. Sie gingen dorthin zurück, wo Leon stand und immer noch die Luft über ihnen im Auge behielt.
„Henry, da wir die Waffen haben, wie wär’s, wenn Sie vorausgingen?“, schlug John vor. „Leon und ich werden aufpassen, und wir brauchen freie Bahn, damit wir nicht über irgendwas stolpern. Glauben Sie, das schaffen Sie?“
Cole nickte, und obwohl er immer noch ungesund blass wirkte, konnte John doch sehen, dass er sich zusammenreißen würde. Für eine Weile jedenfalls.
Ihr Führer setzte sich vor Leon, hielt in grob südwestliche Richtung und schlug einen ungeraden Weg durch den merkwürdigen Wald ein. Sie folgten ihm, und John wurde rasch klar, dass Coles Führung keinen großen Unterschied machte.
Wenn ich nicht schaue, wo ich hintrete, werd ich stolpern, dachte John müde, als er zum sechsten Mal gegen einen abgebrochenen „Ast“ trat. Da führt kein Weg dran vorbei.
Die Daks, wie Cole sie nannte, hatten sich weder gezeigt noch einen weiteren Laut von sich gegeben. Auch recht, dachte John – durch einen Plastikwald zu latschen erforderte schon genug Aufmerksamkeit. Es war ein bizarres Gefühl, die echt wirkenden Bäume und das Unterholz zu sehen, die Luftfeuchtigkeit zu spüren – aber zugleich festzustellen, dass es keine Gerüche nach Erde oder Pflanzen gab, keinen Wind und keine winzigen Geräusche von Bewegung, keine Insekten. Es war ein traumhaftes Erlebnis – und ein sehr nervös machendes.
John bewegte sich weiter vorwärts, den Blick auf das Gewirr von Ästen über ihnen fixiert. Dann blieb Cole stehen.
„Wir sind … nun, da ist so eine Art Lichtung“, sagte er.
Leon wandte sich um und sah John mit gerunzelter Stirn an. „Sollen wir sie umgehen?“
John trat vor und spähte durch die scheinbar zufällig angeordneten Bäume auf die vor ihnen liegende Lichtung. Ihr Durchmesser betrug mindestens fünfzehn Meter, aber John wollte doch lieber einen Umweg in Kauf nehmen – von einem im Sturzflug befindlichen Pterodaktylus attackiert zu werden klang überhaupt nicht spaßig.
„Ja. Henry, nach rechts. Wir werden …“
Der Rest seiner Worte ging unter, als jenes hohe Kreischen von neuem durch den künstlichen Wald schmetterte und ein braungrauer Schemen in die Lichtung niederstieß, auf sie zuflog, mit ausgefahrenen, fußlangen Klauen.
John sah eine Flügelspannweite von drei oder dreieinhalb Metern, die ledrigen Schwingen mit gekrümmten Haken besetzt. Er sah einen kreischenden, zahnbewehrten Schnabel und einen schlanken, länglichen Schädel, sah flache, schwarze Augen glänzen, groß wie Untertassen …
… und er und Leon eröffneten das Feuer, als das Wesen die Linie der Kunstbäume vor ihnen erreichte und seine gewaltigen Klauen in das Hartplastik hieb. Es hielt sich fest, breitete seine riesigen, membranartigen Schwingen aus und rang um sein Gleichgewicht …
… und Bamm-bamm-bamm! wurden Löcher in dünne Haut gestanzt. Bäche wässrigen Blutes rannen aus den Wunden. Das Tier schrie, und das in solcher Nähe, dass John die Schüsse nicht mehr hörte, gar nichts mehr hören konnte, weil sie von dem trillernden, hohen Kreischen zugedeckt wurden – und dann fiel die Kreatur, landete auf dem dunklen Boden, zog ihre Flügel an …
… und näherte sich ihnen auf den Ellbogen! Wie eine Fledermaus, bewegte sich das Wesen ruckartig durch die zerfetzten Bäume, quetschte sein Kreischen in kurzen, scharfen Stößen hervor. Hinter der Kreatur stieß eine zweite auf die Lichtung herab, peitschte geruchlosen Wind zu ihnen herüber, als sie ihre breiten Schwingen schloss. Ihr langer, spitzer Schnabel öffnete sich und enthüllte Zähne.
Das ist übel, übel, übel …
Das Tier, das auf sie zukam, war kaum noch anderthalb Meter entfernt, als John auf den zuckenden Kopf zielte, auf das glänzende runde Auge, und abdrückte.