DREIUNDZWANZIG
Leon trug ein weißes Unterhemd unter seiner Uniform. Ada riss es in Streifen, verband seinen Arm damit und fertigte ihm eine behelfsmäßige Schlinge, die sie ihm anlegte, nachdem sie ihm sein zerrissenes Hemd wieder übergezogen hatte. Er hatte so viel Blut verloren, dass er benommen war, hilflos fast, und Ada nutzte seinen leichten Schock, um ihm zu berichten. Gleichzeitig versorgte sie ihn – wobei die komplexen Gefühle, die in ihr miteinander rangen, sie selbst irritierten.
„… und ich dachte, sie käme mir bekannt vor. Ich dachte, ich hätte sie durch John kennengelernt, und ich hatte sie fast eingeholt – aber sie muss irgendwie an mir vorbeigekommen sein. Ich verirrte mich in den Tunnels, versuchte, den Weg zurückzufinden …“
Nichts davon war wahr, aber Leon schien es nicht zu bemerken – genauso wenig wie er bemerkt hatte, wie sanft und behutsam sie ihn berührte, oder wie ihre Stimme leicht zitterte, als sie sich zum dritten Mal dafür entschuldigte, dass sie ihn zurückgelassen hatte.
Er hat mir das Leben gerettet. Schon wieder. Und alles, was ich ihm dafür zu geben habe, sind Lügen, berechnende Täuschungsmanöver als Lohn für seine Selbstlosigkeit …
Etwas hatte sich für sie verändert, als er die für sie bestimmte Kugel abgefangen hatte, und sie wusste nicht, wie diese Veränderung rückgängig zu machen war. Schlimmer noch, sie wusste nicht, ob sie sie rückgängig machen wollte. Es war wie die Geburt eines neuen Gefühls, eine Emotion, die sie nicht zu benennen vermochte, die sie aber völlig auszufüllen schien; es war beunruhigend, hinterließ Unbehagen – und doch war es nicht gänzlich unangenehm. Seine clevere Lösung des Problems, das dieses nahezu unbesiegbare Krokodil dargestellt hatte – diese Kreatur, die sie lediglich auf Distanz hatte halten können, allen Bemühungen zum Trotz –, hatte dieses namenlose Gefühl sogar noch verstärkt. Das Loch in seinem Arm war nur eine Fleischwunde, aber in Anbetracht des Stromes frischen Blutes auf seiner glatten Brust und seinem Bauch wusste sie, dass es sehr wehgetan haben musste – dass es ihn ausgelaugt, fast umgebracht hatte, während er alles daransetzte, ihren Hintern zu retten.
Werd ihn jetzt los, zischte es in ihrem Kopf, lass ihn hier, lass sein hehres Verhalten nicht deine Aufgabe beeinflussen – den Job, Ada, die Mission. Dein Leben.
Sie wusste, dass es das war, was sie tun musste, es war das einzig Mögliche – aber als Leon so gut verarztet war, wie sie es nur vermochte, und sie Lügengebilde erzählt hatte, vergaß sie bequemerweise, auf sich selbst zu hören. Ada half ihm auf die Füße, führte ihn weg von der mit Eingeweide besudelten Stelle, an der das monströse Reptil verendet war, und dabei plapperte sie irgendwelchen Unsinn – dass sie, als sie sich verlaufen hatte, etwas gefunden habe, das wie ein Ausgang aussah.
Annette Birkin war verschwunden. Sobald Leon das Krokodil aus der Müllhalde gelockt hatte, war Ada die Leiter hochgeklettert und hatte nachgeschaut. Sie hatte gesehen, dass Annette noch über genug Verstand verfügt hatte, die Ventilatoren einzuschalten und die Brücke abzusenken, bevor sie davongerannt war. Womit sie Adas andere Fluchtmöglichkeiten wirkungsvoll eliminiert hatte. Die Frau mochte ja eine Psychopathin sein, aber sie war keine Idiotin – und wenn sie auch falsch gelegen hatte, was Adas Quellen anging, hatte sie hinsichtlich ihrer Absichten doch ins Schwarze getroffen. Um die Mission abzuschließen musste Ada so schnell sie konnte ins Labor gelangen, bevor Annette imstande war, irgendetwas … Endgültiges zu unternehmen – und Leon, der schweigende, taumelnde Leon, würde diese Wegzeit noch einmal um gut die Hälfte verlängern.
Lass ihn hier! Wirf den Ballast ab, du bist keine Krankenschwester, um Himmels willen, das bist nicht mehr du selbst, Ada!
„Ich hab Durst“, flüsterte Leon. Warm strich sein Atem über ihren Hals. Sie blickte in sein blutverschmiertes, verkniffenes Gesicht und stellte fest, dass es diesmal leichter war, die innere Stimme zu ignorieren. Sie musste ihn verlassen, natürlich, am Ende würden sich ihre Wege trennen müssen –
– aber noch nicht jetzt.
„Dann müssen wir etwas Wasser für dich finden“, sagte sie und lenkte ihn sanft in die Richtung, in die es sie zog.
Sherry erwachte im Finstern. Sie hatte einen furchtbar bitteren Geschmack im Mund, und an ihren Kleidern zerrte ein kalter, schmieriger Strom. Um sie her herrschte ein Getöse, als stürze der Himmel ein, und einen Moment lang konnte sie sich weder erinnern, was passiert war, noch, wo sie sich befand – und als sie feststellte, dass sie sich nicht bewegen konnte, geriet sie in Panik. Das Donnern ebbte ab und erstarb schließlich vollständig – aber sie steckte in irgendeinem stinkenden Fluss, wurde gegen etwas Kaltes und Nasses gedrückt, und sie war allein.
Sie öffnete den Mund zu einem Schrei – und das brüllende Monster fiel ihr ein, das Monster und dann der riesenhafte, glatzköpfige Mann und schließlich Claire. Der Gedanke an Claire verhinderte ihren Schrei; Claires Bild kam irgendwie einer beruhigenden Berührung gleich, wirkte trostspendend in all dem blinden Entsetzen, und ermöglichte es Sherry nachzudenken.
Ich wurde in ein Abflussloch gesaugt, und jetzt bin ich – irgendwo anders, und schreien wird mir nicht helfen.
Es war ein tapferer Gedanke, ein starker Gedanke, und ihn zu denken ließ sie sich schon besser fühlen. Sie drückte sich weg von dem harten Etwas in ihrem Rücken, trat das dunkle Wasser und stellte fest, dass sie gar nicht feststeckte – sie war gegen eine Reihe von Gitterstäben oder Öffnungen im Fels gepresst worden, und die Kraft der Strömung hatte sie dort festgehalten, festgehalten und womöglich vor dem Ertrinken gerettet. Um sie her floss der eklige Glibber, blubbernd wie jeder gewöhnliche Fluss, nicht mehr annähernd so stark wie zuvor – und der eklige Geschmack in ihrem Mund musste bedeuten, dass sie etwas davon geschluckt hatte …
Dieser Gedanke weckte auch noch den Rest ihrer Erinnerung. Sie hatte sich von der Strömung mitreißen lassen, sich dann irgendwie gedreht, etwas von der chemisch schmeckenden, widerlichen Flüssigkeit verschluckt und war ausgerastet – ohnmächtig geworden, dachte sie.
Zumindest der Lärm hatte aufgehört, was auch immer ihn verursacht haben mochte. Das Geräusch hatte an einen fahrenden Zug erinnert oder einen riesigen Truck; brüllend hatte es sich entfernt … und jetzt, da sie wacher war, merkte Sherry, dass sie sehen konnte. Nicht sehr viel, aber genug, um zu erkennen, dass sie sich in einem mit Wasser gefüllten Raum aufhielt, und von weit oben fiel ein schwacher Lichtstrahl herab.
Es muss einen Weg hinaus geben. Irgendwer hat diesen Raum gebaut, und diese Leute mussten ja auch hinauskommen …
Sherry schwamm etwas weiter in den großen Raum hinein, und dabei spürte sie, wie ihre strampelnden Füße über etwas Hartes streiften. Etwas Hartes, Flaches. Sie kam sich dumm vor, dass sie nicht schon eher daran gedacht hatte – holte tief Luft, streckte die Beine nach unten, und dann stand sie. Das Wasser reichte ihr bis zu den Schultern, aber sie konnte stehen.
Die letzten Spuren von Panik wichen von ihr, als sie da in der Mitte des Raumes stand und sich langsam umdrehte. Ihre Augen hatten sich endlich ganz auf das schwache Licht eingestellt – und sie sah die Umrisse einer Leiter an der gegenüberliegenden Wand. Sie hatte noch immer Angst, gar keine Frage, aber der Anblick der schemenhaften Sprossen bedeutete, dass sie einen Weg hinaus gefunden hatte. Sherry paddelte auf die Leiter zu, stolz darauf, wie gut sie sich hielt.
Kein Schreien, kein Weinen. Genau wie Claire gesagt hat. Ich bin stark.
Sie erreichte die Leiter und hob ihre Knie zur untersten Sprosse hoch, die ein paar Zentimeter über der Wasseroberfläche lag. Sie zog die Füße nach, dann kletterte sie nach oben. Die glitschigen Metallstangen unter ihren Händen ließen sie das Gesicht verziehen. Die Leiter schien kein Ende zu nehmen, und als Sherry einen Blick nach unten riskierte, um zu sehen, wie weit sie schon gekommen war, konnte sie nur einen winzigen, schimmernden Fleck ausmachen, wo das Licht direkt auf die bewegte Wasseroberfläche fiel. Sie konnte auch die Quelle des Lichtes sehen – ein schmaler Schlitz in der Decke, nicht weit über ihr.
Fast oben. Und wenn ich falle, werde ich mir nicht wehtun. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste.
Sherry schluckte schwer, wünschte sich, dass dieser Gedanke der Wahrheit entsprach, und schaute wieder nach oben.
Noch ein paar Sprossen, und als sie nach der nächsten fasste, berührte ihre Hand eine unebene Metalldecke. Sie hatte das Gefühl, es geschafft zu haben, und drückte mit einer Hand dagegen –
– aber das Metall bewegte sich nicht. Kein bisschen.
„Scheiße“, flüsterte Sherry, aber es klang nicht so verärgert, wie sie gehofft hatte; das Wort klang klein und einsam, beinahe wie ein Flehen.
Sie hakte einen Ellbogen um die Leiterstufe, an der sie sich festhielt, berührte ihren Glücksbringer, und versuchte es noch einmal. Diesmal drückte sie richtig fest. Unter Einsatz all ihrer Kräfte meinte sie zu spüren, wie die Decke nachgab, ein wenig nur – und nicht annähernd genug. Sie ließ die Hand sinken, fluchte diesmal im Stillen. Sie saß hier fest.
Minutenlang bewegte sie sich nicht. Sie wollte nicht wieder hinunter ins Wasser, wollte nicht glauben, dass sie wirklich festsaß – doch ihre Arme wurden müde. Sie wollte immer noch nicht springen. Schließlich stieg sie wieder hinunter, viel langsamer, als sie heraufgeklettert war. Jeder Schritt nach unten war wie das Eingeständnis einer Niederlage.
Sie hatte etwa ein Drittel der Strecke zurückgelegt, als sie über sich Schritte hörte – ein leichtes Pochen erst, eher ein Vibrieren als sonst etwas, doch dann spaltete sich das Geräusch rasch in einzelne Schritte auf, die lauter wurden, näher kamen – und noch lauter wurden, sich der Decke der Grube näherten, in der Sherry zu sich gekommen war.
Einen Augenblick lang erwog sie, die Schritte nicht zu beachten, dann krabbelte sie doch die Leiter hoch, und beschloss, das Risiko einzugehen. Es war es wert. Es mochte nicht Claire sein, vielleicht nicht einmal irgendjemand, der ihr wohlgesinnt war – aber es konnte ihre einzige Chance sein, hier herauszukommen.
Sie fing schon an zu rufen, noch ehe sie wieder das obere Ende der Leiter erreicht hatte. „Hallo! Hallo, können Sie mich hören? Hallo – hallo!“
Die Schritte schienen innezuhalten, und als Sherry wieder unter der Decke anlangte, immer noch rufend, schlug sie etliche Male mit der Faust gegen das Metall.
„Hallo, hallo, hallo!“
Ein weiterer Hieb mit ihrer schmerzenden Hand – und dann schlug sie in die Luft, und blendendes Licht traf ihr Gesicht.
„Sherry! O mein Gott, Schätzchen, ich bin ja so froh, dass du in Ordnung bist!“
Claire, es war Claire. Sherry konnte sie zwar nicht sehen, aber allein der Klang ihrer Stimme überwältigte sie fast vor Freude. Starke, warme Hände halfen ihr hinauf, warme, feuchte Arme schlossen sich fest um sie. Sherry blinzelte und verdrehte die Augen und war allmählich imstande, durch die strahlend weiße Lichtfülle die Umrisse eines weitläufigen Raumes auszumachen.
„Woher wusstest du, dass ich es bin?“, fragte Claire, ohne sie loszulassen.
„Wusste ich nicht. Aber ich kam aus eigener Kraft nicht raus, und da hörte ich Schritte …“
Sherry schaute sich in dem großen Raum um, in den Claire sie gezogen hatte, und empfand lähmendes Staunen, dass ihre Freundin sie überhaupt gehört hatte. Der Raum war gewaltig, wurde von einer Reihe schmaler Metalllaufstege diagonal durchzogen – und der Teil des Bodens, aus dem sie geklettert war, befand sich im hintersten Winkel des finstersten Teiles dieses Raumes. Die Platte, die Claire hochgehoben hatte, war nur ein paar Schritte entfernt.
Mann. Wenn ich nicht geklopft hätte, oder wenn sie nur ein bisschen schneller gegangen wäre …
„Ich bin echt froh, dass du es bist“, sagte Sherry fest, und Claire grinste. Sie wirkte so glücklich und erstaunt, wie Sherry sich fühlte.
Claire kniete vor ihr, und ihr Lächeln schwand ein wenig. „Sherry – ich hab deine Mom gesehen. Sie ist okay, sie lebt – “
„Wo? Wo ist sie?“, platzte es aufgeregt aus Sherry hervor – doch sie verspürte auch eine Art ängstlicher Verunsicherung, die plötzlich ihre Muskeln verspannte und ihr das Atmen erschwerte.
Sie schaute in Claires besorgte graue Augen und erkannte, dass sie wieder daran dachte zu lügen – dass sie nach dem besten Weg suchte, ihr etwas Unangenehmes beizubringen. Noch vor ein paar Stunden hätte Sherry das vielleicht zugelassen –
– aber jetzt nicht mehr. Wir müssen stark und tapfer sein!
„Sag’s mir, Claire. Sag mir die Wahrheit.“
Claire seufzte kopfschüttelnd. „Ich weiß nicht, wo sie hingegangen ist. Sie hatte – Angst vor mir, Sherry. Ich glaube, sie hat mich für jemand anders gehalten, jemanden, der böse ist oder verrückt. Sie ist vor mir weggelaufen – aber ich bin ziemlich sicher, dass sie hier entlangging, und ich versuchte, sie wiederzufinden, als ich dich rufen hörte.“
Sherry nickte langsam, bemühte sich, die Vorstellung hinzunehmen, dass ihre Mutter sich komisch benommen hatte – so komisch, dass Claire die Notwendigkeit sah, es zu beschönigen.
„Und du glaubst wirklich, sie ist hier durchgegangen?“, fragte Sherry schließlich.
„Ich kann’s nicht sicher sagen. Ich bin auch diesem Cop begegnet, Leon, bevor ich deine Mutter sah. Ich lernte ihn kennen, nachdem ich in der Stadt angekommen war. Er war in einem der Tunnel, durch die ich ging, nachdem du verschwunden warst. Er war verletzt und konnte deshalb nicht mit mir kommen, um nach dir zu suchen – darum bin ich umgekehrt, um ihn zu holen, als deine Mutter verschwunden war. Aber er war – “
„Tot?“
Claire schüttelte den Kopf. „Nein. Nur weg – also ging ich denselben Weg wieder zurück, und meiner Meinung nach kann deine Mom nur diesen Weg genommen haben. Aber wie gesagt, sicher kann ich mir nicht sein …“
Sie zögerte und blickte Sherry nachdenklich an. „Hat dir deine Mom je von einem G-Virus erzählt?“
„G-Virus? Ich glaube nicht.“
„Hat sie dir je etwas zur Aufbewahrung gegeben, einen kleinen Glasbehälter zum Beispiel, irgendwas in der Art?“
Sherry runzelte die Stirn. „Nein, nichts. Warum?“
Claire stand auf, legte die Hand auf Sherrys Schulter und zuckte zugleich die Achseln. „Es ist nicht weiter wichtig.“
Sherry kniff die Augen zusammen, und Claire lächelte wieder. „Wirklich. Komm, sehen wir mal, ob wir herausfinden, wo deine Mom hingegangen ist. Ich wette, sie sucht nach dir.“
Sherry ließ Claire vorausgehen und fragte sich, warum sie plötzlich sicher war – fast überzeugt sogar –, dass Claire ihr nicht glaubte, was sie ihr geantwortet hatte … und sie wunderte sich, dass sie es nicht fertig brachte, weiter danach zu fragen.
Der Maschinenaufzug befand sich, ebenso wie die U-Bahn, genau dort, wo Annette ihn verlassen hatte. Ihr Spielraum hatte sich zwar verringert, aber sie war den Spionen immer noch voraus, dieser Ada Wong und ihrer kleinen Freundin …
Lügen! Erzählen mir Lügen, wie sie alle Lügen erzählen, als ob der Verlust von William, das Erleiden solchen Schmerzes und solcher Trauer nicht reichte, sie zu beschämen …
Sie fummelte den Steuerungsschlüssel aus der Tasche ihres zerfetzten Laborkittels und lehnte sich schwer gegen die Kontrollen, als sie den Schlüssel einführte und drehte. Ihre zitternden Finger berührten den Aktivierungsschalter, und eine Reihe von Lichtern erschien auf der Konsole, selbst in der mondlichtdurchwobenen Dunkelheit noch zu hell. Kühle Herbstluft strich über ihren schmerzenden Körper, ein angenehmer, sanfter Wind, der nach Feuer und Krankheit roch …
… wie Halloween, wie Scheiterhaufen im Dunkeln, wenn sie ihre Toten hinausschafften und das pestzerfressene Fleisch der verseuchten Leichen verbrannten …
Vier brüllende Sirenen plärrten zum Nachthimmel. Der Blick zu der großen Aufzugskabine signalisierte ihr, dass es Zeit zum Gehen war. Annette wankte die grauen und gelben Stufen hinauf, unfähig, sich zu erinnern, woran sie eben noch gedacht hatte. Es war Zeit zu gehen, und sie war so furchtbar müde. Wie lange war es her, dass sie geschlafen hatte? Auch daran konnte sie sich nicht erinnern.
Hab mir den Kopf gestoßen, was? Oder bin vielleicht auch nur schläfrig …
Sie war zuvor schon erschöpft gewesen, aber der gnadenlose Schmerz ihrer Verletzungen hatte sie an einen deliranten Ort gesandt, von dem sie sich nie hätte vorstellen können, dass er existierte. Ihre Gedanken wurden begleitet von spiralartigen, unangenehmen Gefühlsausbrüchen, mit denen sie nicht klar kam, jedenfalls nicht in befriedigender Weise. Sie wusste, was zu tun war – das Auslösesystem, das Öffnen des U-Bahn-Schotts, das Verstecken in den Schatten und das Warten auf Heilung –, doch der Rest war zu einer seltsamen, unzusammenhängenden Gruppierung freier Assoziationen geworden, als hätte sie Drogen genommen, die ihre Sinne übersättigt hatten und ihre Gedanken nur häppchenweise vorankommen ließen.
Es war fast vorbei. Das war etwas, an dem sie sich festhalten konnte, eine der wenigen Konstanten in ihrem getrübten Geist. Eine positive und irgendwie magische Feststellung, die sie noch sehen konnte, ganz gleich, wie blind sie wurde. Auf ihrem Weg durch die Fabrik hatte sie gehustet und gehustet und dann vor Schmerz einen dünnen, sauren Strahl von Galle erbrochen, der dunkle Blasen vor ihren Augen hatte zerplatzen lassen, und die Dunkelheit hatte so lange gedauert, dass sie dachte, sie würde tatsächlich ihr Augenlicht verlieren …
Es ist fast vorbei.
Den Gedanken umklammernd wie eine verlorene Liebe, fand sie die Luke in den Metallraum und ging hinein. Die Kontrollen – aktiviert. Die Bewegung und das Geräusch von Bewegung hüllten sie ein, als sie sich auf eine weiche Metallpritsche legte und die Augen schloss. Ein paar Sekunden Ruhe, und es war fast vorbei …
Annette sank ins Dunkel. Die summenden Motoren lullten sie in tiefen, übergangslosen Schlaf. Sie sank tiefer, ihre Muskeln entspannten sich, Schmerzen und Elend lockerten ihren Griff – und für eine scheinbar endlose Zeitspanne fand sie Stille –
– bis ein heulender, schrecklicher Schrei die Dunkelheit zerschnitt, ein Kreischen, so zornig und voller Schmerz, dass es ihr Herz anrührte. Es riss sie ins Leben zurück, keuchend und voller Angst –
– und dann erkannte sie, was sie aus ihrem traumlosen Schlaf gerissen hatte, und ihre Gedanken sammelten sich und gaben ihr eine weitere klare Konstante, an die sie sich klammern konnte.
Es war William. William war heimgekommen, er war ihr gefolgt – und Umbrella würde nichts bekommen, denn das Ding, das ihr Ehemann gewesen war, war zurück in die Sprengzone gekommen.
Der Schrei erklang abermals, und diesmal verhallte er an einem der vielen verborgenen Orten des Labors, während der Aufzug tiefer und tiefer sank.
Annette schloss erneut die Augen, der gerade entstandene Gedanke schloss sich der Sehnsucht von vorhin an, und beides zusammen machte sie endlich glücklich.
William ist heimgekommen. Es ist fast vorbei.
Der dritte Gedanke folgte ganz natürlich, fügte sich hinzu, während sie zurück in ihre Stille glitt, wohl wissend, dass sie nur zu bald wieder aufstehen musste, um die letzte Reise anzutreten. Wenn der Aufzug anhielt, würde sie aufwachen und bereit sein.
Umbrella wird leiden für das, was sie getan haben – und am Ende werden alle sterben.
Lächelnd schlief Annette ein und träumte von William.