DREIZEHN

Sherry Birkin war fort, und Claire vermochte sich nicht in den Lüftungsschacht zu zwängen, um ihr zu folgen. Was oder wer auch immer da geschrien und das kleine Mädchen so fürchterlich erschreckt hatte, hatte sich nicht gezeigt, und Sherry kroch vielleicht immer noch verzweifelt durch einen dunklen, staubigen Tunnel. Offenbar hatte sie sich eine Zeit lang nahe dieses Rohres versteckt es lagen leere Schokoriegelverpackungen herum, und eine muffige alte Decke war in die Öffnung gestopft. Das armselige kleine Versteck lag verborgen hinter drei aufgestellten Ritterrüstungen.

Als ihr klar geworden war, dass Sherry nicht wiederkommen würde, hatte Claire Irons’ Büro aufgesucht, in der Hoffnung, dass er ihr sagen könnte, wohin der Schacht führte, doch Irons war weg zusammen mit dem Leichnam der Bürgermeistertochter.

Claire stand in dem Büro, beobachtet von den stummen Glasaugen der morbiden Dekoration, und fühlte sich zum ersten Mal, seit sie in der Stadt angekommen war, wirklich unsicher. Sie hatte sich aufgemacht, um Chris zu suchen doch das war nicht mehr ihr einziges Ziel. Jetzt musste sie außerdem Zombies ausweichen, mit Leon Kontakt aufnehmen und diesen unheimlichen Chief Irons meiden und das alles in ziemlich genau dieser Reihenfolge. Doch in den wenigen Augenblicken zwischen der Begegnung mit dem kleinen Mädchen und jenem seltsamen, heulenden Schrei hatten sich ihre Prioritäten dramatisch verlagert. Ein Kind war in diesen Albtraum verstrickt, ein süßes, kleines Mädchen, das glaubte, dass ihm ein Monster nachstellte.

Vielleicht stimmt es ja sogar. Wenn ich akzeptieren kann, dass es in Raccoon Zombies gibt, warum nicht auch Monster? Verdammt, warum nicht auch Vampire oder Killer-Roboter?

Sie wollte Sherry finden, wusste aber nicht, wie sie dies anfangen sollte. Sie wollte zu ihrem großen Bruder, hatte jedoch ebenso wenig eine Ahnung, wo er steckte und sie fragte sich allmählich, ob er etwas über die Vorgänge in Raccoon wusste.

Als sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, war er ihren Fragen, warum die S. T. A. R. S.-Angehörigen suspendiert worden waren, ausgewichen und hatte darauf beharrt, dass kein Grund zur Sorge bestehe dass er und das Team in Turbulenzen politischer Natur geraten seien und sich alles wieder einrenken würde. Claire war an sein Beschützergebaren gewöhnt, aber rückblickend betrachtet fragte sie sich: Hatte er nicht über das Normalmaß hinaus um das Thema herumgeredet? Und: S. T. A. R. S. hatte die Kannibalenmorde untersucht es bedurfte keiner besonderen Fantasie, um die vergangene Fälle, in denen mörderische Fleischfresser am Werk gewesen waren, mit den gegenwärtigen Ereignissen in Verbindung zu bringen

Und das bedeutet was? Dass Chris irgendeiner üblen Verschwörung auf die Schliche gekommen ist und es mir verheimlicht hat?

Sie wusste es nicht. Alles, was Claire wusste, war, dass sie nicht an seinen Tod glaubte und dass die Suche nach Chris oder Leon momentan hinter der nach Sherry anstehen musste. So schlimm die Dinge auch lagen, Claire war nicht wehrlos sie hatte eine Schusswaffe, sie verfügte über eine gewisse emotionelle Reife, und nach fast zwei Jahren, in denen sie täglich fünf Meilen gelaufen war, war sie in ausgezeichneter Form. Sherry Birkin allerdings konnte nicht älter als elf oder zwölf sein und schien in jeder Hinsicht zerbrechlich angefangen mit dem Schmutz in ihrem blonden Koboldhaar bis hin zu der verzweifelten Angst in ihren großen blauen Augen, hatte sie Claires sämtliche Beschützerinstinkte geweckt

Ein schwerer, hallender Stoß rumpelte durch die Decke und brachte den ausladenden Kronleuchter in Irons’ Büro zum Zittern. Reflexhaft sah Claire nach oben und umfasste ihre Pistole fester. Es gab nichts zu sehen außer Holz und Verputz, und das Geräusch wiederholte sich nicht.

Irgendwas auf dem Dach aber was könnte ein Geräusch wie dieses verursacht haben? Ein Elefant, der aus einem Flugzeug abgeworfen wurde?

Vielleicht war es Sherrys Monster. Der furchtbare Schrei, den sie in Irons’ privatem Ausstellungsraum gehört hatten, war durch ein Rohr oder den Kamin gedrungen; es war unmöglich, den Ursprungsort des Schreies zu bestimmen aber er könnte auf dem Dach gelegen haben. Claire war nicht sonderlich scharf darauf, dem, was immer da auch geschrien hatte, zu begegnen, aber Sherry schien sicher gewesen zu sein, dass das Wesen sie verfolgte

Das hieße also: Finde den Schreihals, und du findest das Mädchen? Nicht gerade meine Vorstellung eines perfekten Planes, aber im Moment bleibt mir kaum etwas anderes übrig. Es könnte die einzige Möglichkeit sein, Sherry aufzustöbern.

Vielleicht rumorte ja auch Irons dort oben herum und obwohl das Zusammentreffen mit ihm einen widerwärtigen Geschmack in ihrem Mund hinterlassen hatte, bereute Claire es, nicht versucht zu haben, mehr Informationen aus ihm herauszubekommen. Verrückt oder nicht, dumm jedenfalls war er ihr nicht vorgekommen; es mochte keine schlechte Idee sein, ihn wiederzufinden, wenigstens um ihm ein paar Fragen über das Lüftungssystem zu stellen.

Aber so lange sie nicht nachschaute, würde sie gar nichts in Erfahrung bringen. Claire wandte sich um und ging zu der Bürotür, die auf den äußeren Korridor hinausführte, wo sie das Hubschrauberfeuer gelöscht hatte. Der Rauch im angrenzenden Gang war dünner geworden, und trotzdem die Luft noch warm war, deutete nichts auf die Hitze eines neuerlich aufgeflammten Brandes hin. Wenigstens in diesem Punkt war sie also erfolgreich gewesen

Claire trat wieder hinaus auf den Hauptgang, mied den Blick auf das, was von dem Piloten übrig geblieben war und

– und kraa-ack!

Sie erstarrte, als sie das gewaltige Splittern von Holz hörte, gefolgt von schweren Schritten einer Gestalt, die riesig sein musste und sich durch den Gang um die Biegung herum bewegte. Die dröhnenden Schritte klangen wohlüberlegt.

Der Typ muss ’ne Tonne wiegen, und, Jesus, sag mir, dass das keine Tür war, die da zertrümmert wurde

Claire warf einen Blick den schmalen Flur hinab zu Irons’ Büro. Ihr Instinkt drängte sie zur sofortigen Flucht, ihr Verstand erinnerte sie daran, dass sie sich in einer Sackgasse befand, und noch während sie hin und her gerissen war zwischen ihren Gefühlen

– trat der größte Mensch, den sie je gesehen hatte, in ihr Blickfeld, umflort von den dünnen Rauchschwaden, die durch den Flur trieben. Er trug einen langen, armeegrünen Mantel, der seine Größe noch betonte, und war so hochgewachsen wie ein NBA-Star größer noch sogar und von entsprechend proportionierter Figur. Um seine Hüften war ein breiter Einsatzgürtel geschlungen, und obwohl Claire keine Waffen sah, konnte sie die Gewalttätigkeit in unsichtbaren Wellen von ihm ausgehen fühlen. Sie vermochte nur den kränklich weißen Schemen seines Gesichts ausmachen, den haarlosen, flachen Schädel und ganz plötzlich war sie sicher, dass er das Monster war, ein Killer, dessen Fäuste in schwarzen Handschuhen steckten, jede so groß wie der Kopf eines Menschen

Schieß! Erschieß ihn!

Claire zielte, zögerte jedoch, aus Angst, einen schrecklichen Fehler zu begehen bis das Wesen auf seinen baumstammdicken Beinen einen riesigen Schritt auf sie zumachte und sie das Knirschen sich unter seinen in Stiefeln steckenden Frankensteinfüßen durchbiegenden Holzes hörte, und bis sie die schwarzen Augen sah, schwarz und rot umrandet. Wie Lava gefüllte Gruben in einem unförmigen weißen Felsen, leer, aber alles andere denn blind, fand der Blick der Kreatur den ihren und eine der fleischigen Fäuste hob sich zu einer unmissverständlichen Drohung.

… schieß-schieß-schieß!

Claire drückte ab, einmal, zweimal, und sah die Einschläge eines seiner Mantelrevers ging direkt unterhalb seines Schlüsselbeins in Fetzen, der zweite Schuss durchschlug seitlich seinen Hals

– und doch machte er einen weiteren Schritt. Über seine groben Züge ging nicht einmal das Flackern eines Ausdrucks, die Faust hatte er noch immer erhoben, auf der Suche nach einem Ziel, nach etwas, das er zertrümmern konnte

Das schwarze, rauchende Loch in seinem Hals blutete nicht.

Ach du SCHEISSE!

In einem Anflug adrenalingepeitschten Schreckens richtete Claire die Waffe auf das Herz der Kreatur und zog den Abzug wiederholt durch. Der Gigant tat noch einen Schritt, hinein in den Hagel explodierender Schüsse, auch jetzt, ohne zu zucken

– und Claire verlor den Überblick über die Anzahl der Kugeln, die sie ihm entgegenpumpte, war außerstande zu glauben, dass das Ungeheuer immer noch auf sie zukam, nun kaum mehr drei, vier Schritte entfernt, während die Projektile in seine breite Brust hämmerten.

Dann klickte die Waffe nur noch, gerade als das Monster stehen blieb, von einer Seite zur anderen schwankend wie ein hohes Gebäude im Orkan. Ohne ihren entsetzten Blick von dem wankenden Riesen abzuwenden, zog Claire einen neuen Clip aus ihrer Weste und lud die Waffe neu, während ihr Hirn wie verrückt versuchte, diese wandelnde Missgeburt mit einem passenden Namen zu benennen.

Terminator, Frankenstein-Monster, Dr. Evil, Mr. X

Was der Wahrheit auch am nächsten kommen mochte die mehr als sieben Teilmantelgeschosse, die das Wesen in die Brust getroffen hatten, zeigten schließlich doch noch Wirkung. Lautlos kippte der Riese nach rechts, prallte schwer gegen die rauchgeschwärzte Wand und lehnte dann einfach da klappte nicht zusammen, rührte sich aber auch nicht mehr.

Komische Haltung, aber das war’s offenbar, er ist tot, wird nur noch von seiner eigenen Steifheit gehalten

Claire ging nicht näher heran, hielt die Waffe weiter auf den reglosen Koloss gerichtet. Hatte tatsächlich er geschrien? So stark und unmenschlich er auch aussah, glaubte sie es doch nicht das war kein primitiver, tobender Dämon, der nach Blut brüllte. Mr. X war eher eine seelenlose Maschine, blutloses Fleisch, das Schmerzen zu ignorieren vermochte oder sie sogar begrüßte.

„Egal, jetzt ist er jedenfalls tot“, flüsterte Claire, gleichermaßen, um sich zu beruhigen wie auch, um den unablässigen Strom nutzloser Gedanken zu kappen. Sie musste nachdenken, herausfinden, was dies bedeutete dies war keine freakige Zombie-Mutation, also was zum Teufel war es dann? Warum fiel es nicht um? Sie hatte einen fast vollen Clip leergeschossen

… ob jemand die Schüsse gehört hatte? Würden Sherry oder Irons oder Leon oder wer auch immer sich noch im Revier befand, nach ihr suchen? Sollte sie bleiben, wo sie war?

Die Kreatur, die sie in Gedanken Mr. X getauft hatte, atmete nicht oder nicht mehr. Der muskulöse Körper war absolut regungslos, das Gesicht im Tod erstarrt. Claire biss sich auf die Unterlippe, stierte die immer noch in unmöglicher Weise dastehende, an der Wand lehnende Albtraumgestalt an, versuchte, durch die Konfusion ihrer Angst hindurch zu denken

– und sah, wie sich die Augen des Hünen öffneten, glänzende schwarzrote Augen!

Ohne das geringste Zucken von Schmerz oder Anstrengung, stemmte sich Mr. X wieder in den aufrechten Stand, blockierte den Gang, und seine riesigen Fäuste hoben sich von neuem, sausten mit immenser Kraft durch die Luft. Seine langen Arme peitschten unmittelbar an Claire vorbei, als sie nach hinten taumelte. Der Schwung reichte aus, um seine gewaltigen Pranken in die gegenüberliegende Wand krachen zu lassen. Die Wucht begrub seine Fäuste, seine Unterarme steckten bis zur Hälfte im Holz und Verputz.

Ich das hätte ICH sein können!

Wenn sie zurück in Irons’ Büro lief, würde sie in der Falle sitzen Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte sich Claire in Bewegung, sprintete auf Mr. X zu. Sie flog förmlich an ihm vorbei, ihr rechter Arm streifte sogar seinen schweren Mantel, und ihr Herz übersprang einen Takt, als der Stoff über ihre Haut strich.

Sie rannte, warf sich nach links und spurtete den rauchigen Gang hinunter, wobei sie sich in Erinnerung zu rufen versuchte, was hinter dem Wartezimmer lag und ebenso versuchte sie, die unmissverständlichen Geräusche von Bewegung hinter sich zu ignorieren, als Mr. X seine Arme wieder befreite.

Jesus, was ist das nur für ein DING?!

Claire erreichte das Wartezimmer, warf die Tür im Laufen hinter sich zu und entschied, dass sie darauf später eine Antwort zu finden versuchen würde. Sie rannte weiter und verbot sich, an irgendetwas anderes zu denken als daran, wie sie noch schneller um ihr Leben laufen konnte.

Ben Bertolucci befand sich in der letzten Zelle des Raumes, der am weitesten von der Garage entfernt war, und er pennte leise schnarchend auf einer Metallpritsche. Mit bewusst ausdrucksloser Miene entschied Ada, es Leon zu überlassen, ihn zu wecken. Sie wollte nicht übereifrig wirken, und wenn sie eines über Männer wusste, dann war es, dass sie leichter zu handhaben waren, wenn sie meinten, die Kontrolle innezuhaben. Mit einer Geduld, die sie nicht wirklich empfand, sah Ada zu Leon auf und wartete.

Sie hatten einen leeren Zwinger und einen gewundenen Betongang überprüft, bevor sie auf Bertolucci gestoßen waren, und obwohl die kalte, feuchte Luft nach Blut und Virusfäule stank, waren sie auf keinerlei Leichen getroffen was seltsam war in Anbetracht des Massakers, von dem Ada wusste, dass es in der nasskalten Garage stattgefunden hatte. Sie dachte kurz daran, Leon zu fragen, ob er wüsste, was passiert war, befand dann aber, dass es besser wäre, möglichst wenig mit ihm zu reden; es brachte nichts, ihn sich an ihre Gegenwart gewöhnen zu lassen. Sie hatte die Einstiegsluke in dem Zwinger gesehen, rostig und in einer dunklen Ecke in den Boden eingelassen, und befriedigt festgestellt, dass in einem offenen Regal in der Nähe eine Brechstange lag. Und nun, da Bertolucci schlafend vor ihnen lag, hatte Ada das Gefühl, dass die Dinge endlich in Gang kamen.

„Lassen Sie mich raten“, sagte Leon laut und streckte die Hand aus, um mit dem Griff seiner Pistole gegen das Metallgitter zu klopfen. „Sie müssen Bertolucci sein, stimmt’s? Stehen Sie auf, los!“

Bertolucci ächzte und setzte sich langsam auf, wobei er sich das stoppelbärtige Kinn rieb. Ada hätte am liebsten gelächelt, als er müde und stirnrunzelnd in ihre Richtung blickte; er sah beschissen aus seine Kleidung war zerknittert, sein strähniger Pferdeschwanz zerfranst.

Aber seine Krawatte trägt er immer noch. Der arme Trottel meint wahrscheinlich, damit sieht er eher wie ein richtiger Reporter aus

„Was wollen Sie? Ich versuch hier zu schlafen.“ Er klang mürrisch, und Ada musste abermals ein Lächeln unterdrücken. Geschah ihm ganz recht, nachdem es so schwer gewesen war, ihn überhaupt zu finden.

Leon warf Ada einen Blick zu. Er wirkte leicht verunsichert. „Ist das der Kerl?“

Sie nickte, und ihr wurde klar, dass Leon den Reporter wahrscheinlich für einen Gefangenen hielt. Ihre Worte würden ihn von dieser Meinung sehr schnell abbringen, aber sie wollte nicht, dass Leon mehr erfuhr, als nötig war; sie musste mit Bedacht sprechen.

„Ben“, sagte sie und ließ in ihrem Ton einen Hauch von Verzweiflung mitklingen. „Sie sagten den Verantwortlichen der Stadt, dass Sie etwas darüber wüssten, was hier vorgeht, richtig? Was haben Sie ihnen erzählt?“

Bertolucci stand auf und sah sie an. Seine Lippen verzogen sich. „Und wer zum Teufel sind Sie?“

Ada tat so, als hätte sie es nicht gehört, und steigerte ihre gespielte Verzweiflung noch, aber nur um eine winzige Nuance. Sie wollte die Rolle des hilflosen Weibchens nicht übertreiben, das hätte der Tatsache widersprochen, dass sie so lange überlebt hatte.

„Ich versuche, einen Freund von mir zu finden, John Howe. Er arbeitete in einer Zweigstelle von Umbrella in Chicago, aber er verschwand vor ein paar Monaten und ich hörte gerüchteweise, dass er hier sein soll, in dieser Stadt

Sie verstummte, beobachtete Bertoluccis Gesicht. Er wusste etwas, keine Frage aber sie glaubte nicht, dass er damit herausrücken würde.

„Ich weiß gar nichts“, erwiderte er schroff. „Und selbst wenn warum sollte ich es Ihnen erzählen?“

Wenn der Cop nicht hier wäre, würde ich ihn vermutlich einfach erschießen.

Nein, das hätte sie wahrscheinlich nicht getan; Ada tötete nicht einfach so zum Spaß. Außerdem glaubte sie, dass sie ihm sein Wissen mittels einer ihrer überzeugenderen Methoden hätte entlocken können wenn ihr weiblicher Charme nicht zog, blieb immer noch ein Schuss in die Kniescheibe. Dummerweise konnte sie aber nichts unternehmen, solange Officer Leon dabei war. Sie hatte das Zusammentreffen mit ihm nicht eingeplant gehabt, aber im Augenblick zumindest hatte sie ihn eben am Hals.

Der Cop war offensichtlich nicht zufrieden mit den Antworten des Reporters. „Okay, ich würde sagen, wir lassen ihn da drin“, knurrte er, womit er zwar Ada ansprach, dabei jedoch Bertolucci mit unverhohlenem Ärger musterte.

Bertolucci lächelte schief, griff in eine seiner Taschen und zog einen Bund silberglänzender Zellenschlüssel hervor. Ada war nicht überrascht, Leon allerdings wirkte noch verärgerter.

„Ist mir recht“, sagte Bertolucci selbstgefällig. „Ich hab sowieso nicht vor, diese Zelle zu verlassen. Ist das sicherste Fleckchen im ganzen Gebäude. Hier laufen nicht nur Zombies herum, das können Sie mir ruhig glauben.“

Die Art und Weise, wie er das sagte, überzeugte Ada, dass sie ihn wahrscheinlich doch würde töten müssen. Trents Anweisungen waren eindeutig wenn Bertolucci irgendetwas über Birkins Arbeit am G-Virus wusste, musste er beseitigt werden; warum genau, das wusste sie nicht, aber so lautete nun einmal ihr Auftrag. Wenn sie nur ein paar Augenblicke mit ihm allein sein könnte, würde sie herausfinden, wie viel er wirklich wusste.

Die Frage war nur: Wie sollte sie das schaffen? Leon wollte sie nicht erschießen; es gehörte zu ihren Regeln, keine Unschuldigen zu töten und außerdem mochte sie Cops. Sie waren nicht unbedingt der hellste Haufen, aber jeder, der einen Beruf ergriff, in dem er sein Leben aufs Spiel setzen musste, hatte ihre Hochachtung. Und Leon hatte einen ausgezeichneten Geschmack, was Waffen anging die Desert Eagle war ein Spitzenmodell

Warum also nach Scheinbegründungen suchen? Ich hänge ihn ab und kehre dann auf einem Umweg zurück, das heißt ja nicht, dass ich weich werde

GGRRAAAAHHH!“

Ein brutaler, unmenschlicher Schrei schnitt durch die angespannte Stille. Ada schnappte sich ihre Beretta, fuhr herum und zielte auf das offene Tor, das zurück in den leeren Bereich des Zellenblocks führte. Was es auch war, das da gebrüllt hatte, es befand sich irgendwo im Keller

„Was war das?“, keuchte Leon hinter ihr, und Ada wünschte, sie hätte die Antwort gewusst. Das immer noch widerhallende Echo des wütenden Schreies glich nichts, was sie je gehört hatte und nichts, was sie je zu hören erwartet hatte, obwohl sie über die Umbrella-Forschungen Bescheid wusste.

„Wie gesagt, ich verlasse diese Zelle nicht“, sagte Bertolucci mit leicht brüchiger Stimme. „Und jetzt verschwindet von hier, bevor ihr es noch zu mir lockt!“

Jämmerlicher Feigling!

„Hören Sie, ich bin vielleicht der einzige Cop, der in diesem Gebäude noch am Leben ist “, sagte Leon, und etwas an der Mischung aus Angst und Stärke in seinem Ton veranlasste Ada, ihm einen Blick zuzuwerfen. Die blauen Augen des Officers waren auf Bertolucci fixiert, scharf und unerbittlich.

„… wenn Sie also überleben wollen, sollten Sie mit uns kommen.“

„Vergessen Sie’s“, schnappte Bertolucci. „Ich bleib hier, bis die Kavallerie aufkreuzt und wenn ihr schlau seid, tut ihr dasselbe.“

Leon schüttelte den Kopf. „Es könnte Tage dauern, bis jemand kommt. Unsere beste Chance besteht darin, einen Fluchtweg aus Raccoon zu finden und Sie haben diesen Schrei gehört. Wollen Sie wirklich Besuch bekommen von von was auch immer ihn ausgestoßen hat?“

Ada war beeindruckt: Irgendein Umbrella-Freak konnte jeden Augenblick auf sie zugetorkelt kommen, und Leon versuchte tatsächlich, die wertlose Haut dieses abgehalfterten Reporters zu retten!

„Das Risiko geh ich ein“, erwiderte Bertolucci. „Viel Glück beim Fluchtversuch, ihr werdet es brauchen

Der zerzauste Reporter trat ans Gitter, sein Blick pendelte zwischen ihnen hin und her, dann fuhr er sich mit einer Hand über das fettige Haar.

„Hört zu“, sagte er mit weicherer Stimme als zuvor. „Im hinteren Teil des Gebäudes ist ein Zwinger mit einer Einstiegsluke drin, durch die man in die Kanalisation gelangt. Das ist wahrscheinlich der schnellste Weg aus der Stadt hinaus.“

Ada seufzte innerlich. Großartig das war’s also mit ihrem Geheimweg zum Labor. Wenn sie Leon jetzt abhängte, würde er etwa fünf Minuten brauchen, um sie wiederzufinden.

Du kannst ihn immer noch umbringen, wenn es so weit kommt. Oder du kannst dafür sorgen, dass er sich in der Kanalisation verirrt, und dann zu Bertolucci zurückkehren, während er den Weg für dich freiräumt.

Im Gegensatz zu Bertolucci wollte sie dem, was immer da geschrien hatte, nicht über den Weg laufen und jetzt, da sie wusste, dass er hierbleiben würde, war es nur der nächste logische Schritt, den Cop fortzulocken.

Was tu ich nicht alles, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden

„Na schön, ich geh und seh’s mir an“, sagte sie, und ohne Leons Erwiderung abzuwarten, drehte sie sich um und lief auf das Tor zu.

„Ada! Ada, warte!“

Sie ignorierte ihn, eilte an den leeren Zellen vorbei und zurück in den kühlen Gang, erleichtert, dass der Durchgang immer noch frei war und sie fühlte sich ein klein wenig entnervt ob ihres plötzlichen Widerstrebens, die Situation zu vereinfachen. Die Sache wäre viel leichter gewesen, wenn sie sich der beiden entledigt hätte, eine Entscheidung, die auszuführen sie unter anderen Umständen kaum gezögert hätte. Aber der Tod stand ihr bis obenhin Umbrella stand ihr bis obenhin. Es widerte sie an, was diese Leute getan hatten; sie würde den Cop nicht umlegen, wenn es nicht sein musste.

Und wenn es sein musste, wenn es darauf hinauslief, entweder einen Unschuldigen zu opfern oder ihren Auftrag abzuschließen?

Dass sie es fertigbrachte, sich diese Frage überhaupt zu stellen, verriet ihr mehr über ihren Gemütszustand, als sie sich eingestehen wollte. Ada erreichte die Tür zum Zwinger, holte tief Luft, vertrieb alles quälende Gefühl aus ihrem Denken und trat hinein, um auf Leon Kennedy zu warten.

S. D Perry - Resident Evil - Sammelband 02 - Der Umbrella-Faktor
titlepage.xhtml
978-3-8332-2366-2.html
978-3-8332-2366-2-1.html
978-3-8332-2366-2-2.html
978-3-8332-2366-2-3.html
978-3-8332-2366-2-4.html
978-3-8332-2366-2-5.html
978-3-8332-2366-2-6.html
978-3-8332-2366-2-7.html
978-3-8332-2366-2-8.html
978-3-8332-2366-2-9.html
978-3-8332-2366-2-10.html
978-3-8332-2366-2-11.html
978-3-8332-2366-2-12.html
978-3-8332-2366-2-13.html
978-3-8332-2366-2-14.html
978-3-8332-2366-2-15.html
978-3-8332-2366-2-16.html
978-3-8332-2366-2-17.html
978-3-8332-2366-2-18.html
978-3-8332-2366-2-19.html
978-3-8332-2366-2-20.html
978-3-8332-2366-2-21.html
978-3-8332-2366-2-22.html
978-3-8332-2366-2-23.html
978-3-8332-2366-2-24.html
978-3-8332-2366-2-25.html
978-3-8332-2366-2-26.html
978-3-8332-2366-2-27.html
978-3-8332-2366-2-28.html
978-3-8332-2366-2-29.html
978-3-8332-2366-2-30.html
978-3-8332-2366-2-31.html
978-3-8332-2366-2-32.html
978-3-8332-2366-2-33.html
978-3-8332-2366-2-34.html
978-3-8332-2366-2-35.html
978-3-8332-2366-2-36.html
978-3-8332-2366-2-37.html
978-3-8332-2366-2-38.html
978-3-8332-2366-2-39.html
978-3-8332-2366-2-40.html
978-3-8332-2366-2-41.html
978-3-8332-2366-2-42.html
978-3-8332-2366-2-43.html
978-3-8332-2366-2-44.html
978-3-8332-2366-2-45.html
978-3-8332-2366-2-46.html
978-3-8332-2366-2-47.html
978-3-8332-2366-2-48.html
978-3-8332-2366-2-49.html
978-3-8332-2366-2-50.html
978-3-8332-2366-2-51.html
978-3-8332-2366-2-52.html
978-3-8332-2366-2-53.html
978-3-8332-2366-2-54.html
978-3-8332-2366-2-55.html
978-3-8332-2366-2-56.html
978-3-8332-2366-2-57.html
978-3-8332-2366-2-58.html
978-3-8332-2366-2-59.html
978-3-8332-2366-2-60.html
978-3-8332-2366-2-61.html
978-3-8332-2366-2-62.html
978-3-8332-2366-2-63.html
978-3-8332-2366-2-64.html
978-3-8332-2366-2-65.html
978-3-8332-2366-2-66.html
978-3-8332-2366-2-67.html
978-3-8332-2366-2-68.html
978-3-8332-2366-2-69.html
978-3-8332-2366-2-70.html