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Jai und
ich
Jede Familie, die sich mit Krebs
auseinandersetzen muss, weiß, dass die Partner dabei oft an den
Rand gedrängt werden. Kranke Menschen pflegen sich auf sich selbst
zu konzentrieren und zu den Objekten des liebevollen Umsorgens und
des Mitgefühls anderer zu werden. Derweil tragen die Bezugspersonen
die ganze Last und haben kaum Zeit, sich mit ihrem eigenen Schmerz
und ihrer eigenen Trauer auseinanderzusetzen.
Meiner Frau Jai lastet noch viel mehr auf den
Schultern: drei kleine Kinder. Als ich meine Last Lecture
vorbereitete, traf ich daher eine Entscheidung: Wenn diese Rede
mein großer Moment sein sollte, dann wollte ich auch eine
Möglichkeit finden, jedem zu zeigen, wie sehr ich Jai liebe und wie
dankbar ich ihr bin.
Gegen Ende des Vortrags, als ich über die Lehren
sprach, die mir das Leben erteilte, erwähnte ich, wie lebenswichtig
es sei, sich auch auf andere Menschen und nicht immer nur auf sich
selbst zu konzentrieren. Ich blickte mich um und fragte: »Haben wir
vielleicht ein anschauliches Beispiel hier, wie man einmal jemand
anderen in den Mittelpunkt stellen kann? Könnten wir dieses
Beispiel mal zeigen?«
Am Tag zuvor war Jais Geburtstag gewesen, und
ich
hatte einen großen Geburtstagskuchen mit einer einzigen Kerze
darauf besorgen lassen, der nun von Jais Freundin Cleah Schlueter
auf einem Rollwagen aus dem Vorraum hereingeschoben wurde. Da
erklärte ich dem Publikum, dass ich Jai keinen schönen Geburtstag
hatte bereiten können und es eine nette Idee fände, wenn es mir
gelänge, vierhundert Menschen dazu zu bringen, für sie zu singen.
Sie applaudierten und begannen sofort zu singen:
»Happy birthday to you, happy birthday to you
…«
Mir fiel noch rechtzeitig ein, dass einige ihren
Namen nicht kannten, also rief ich: »Sie heißt Jai …«
»… happy birthday, dear Jai!«
Es war wunderbar. Sogar die Leute, die keinen
Platz mehr bekommen hatten und meine Lecture in einem überfüllten
Nebenraum auf einer Videowand verfolgten, sangen.
Als schließlich alle sangen, war es mir endlich
möglich, Jai anzusehen. Sie saß auf ihrem Sitz in der ersten Reihe
und wischte sich mit diesem überraschten Lächeln auf dem Gesicht
die Tränen weg. Sie sah entzückend aus - scheu und schön, erfreut
und überwältigt.
Es gibt so vieles, das Jai und ich bereden,
während wir versuchen, uns mit dem Leben anzufreunden, das sie nach
meinem Tod führen wird. »Froh« ist unter den gegebenen Umständen
ein seltsames Wort, um meine Situation zu beschreiben, doch ein
Teil von mir ist wirklich ungemein froh darüber, dass ich nicht
unter den sprichwörtlichen Bus geraten bin. Der Krebs gab mir die
Zeit, all die lebenswichtigen Gespräche mit Jai zu führen, die
nicht möglich gewesen wären, wenn ich den plötzlichen Herztod oder
bei einem Unfall gestorben wäre.
Über was wir reden?
Na ja, zuerst einmal versuchen wir uns zu
erinnern, dass einer der besten Ratschläge, die wir je im
Zusammenhang mit der Sorge um andere gehört haben, von
Flugbegleitern stammt: »Legen Sie Ihre Sauerstoffmaske an, bevor
Sie versuchen, anderen zu helfen.« Jai ist eine so große Helferin,
dass sie darüber oft vergisst, auf sich selbst zu achten. Wenn wir
uns körperlich oder emotional über unsere Grenzen hinaus
verausgaben, dann können wir niemandem mehr helfen, am wenigsten
kleinen Kindern. Deshalb ist es weder ein Zeichen von Schwäche noch
von Egoismus, wenn man sich einen Moment des Tages für sich selbst
nimmt, um die eigenen Batterien aufzuladen. Nach meiner Erfahrung
als Vater ist es schwer, Batterien in der Gegenwart von kleinen
Kindern zu laden. Jai weiß, dass sie es sich gestatten muss, zuerst
einmal an sich selbst zu denken.
Ich habe ihr auch klargemacht, dass sie
unausweichlich Fehler machen wird und das schlicht akzeptieren
muss. Wenn ich am Leben bleiben könnte, würden wir diese Fehler
gemeinsam begehen. Fehler sind Teil des Prozesses, Eltern zu sein,
und sie wird nicht einfach alle auf die Tatsache schieben können,
dass die Kinder bei ihr allein aufwachsen.
Manche alleinerziehenden Mütter oder Väter
stolpern in die Falle, ihre Kinder mit materiellen Dingen
entschädigen zu wollen. Jai weiß, dass kein materieller Besitz
einen fehlenden Elternteil ersetzen kann, ja manchmal sogar Schaden
anrichtet, weil er die Werte eines Kindes in Schieflage
bringt.
Möglicherweise wird auch Jai, wie den meisten
Eltern, die Zeit der größten Herausforderungen bevorstehen, wenn
die Kinder im Teenageralter sind. Nachdem ich mein
ganzes Leben mit Schülern und Studenten verbracht habe, stelle ich
mir gerne vor, dass ich als Vater von Teenagern erst wirklich
zeigen könnte, was ich draufhabe. Ich wäre hartnäckig, aber ich
würde verstehen, was in ihren Köpfen vorgeht. Es tut mir so leid,
dass ich nicht da sein werde und Jai beistehen kann, wenn diese
Zeit gekommen ist.
Die gute Nachricht ist, dass andere - Freunde
und Familie - da sein werden, um zu helfen, und Jai hat vor, solche
Hilfe auch anzunehmen. Alle Kinder brauchen ein Netzwerk von
Menschen in ihrem Leben, die sie lieben, aber auf Kinder, die einen
Elternteil verloren haben, trifft das besonders zu. Ich denke da an
meine eigenen Eltern zurück. Sie wussten, dass sie nicht die
einzigen entscheidenden Einflüsse in meinem jungen Leben sein
konnten. Deshalb brachte mich mein Vater zum Footballspielen zu Jim
Graham. Auch Jai wird sich nach Coach Grahams für unsere Kinder
umsehen müssen.
Und was die naheliegende Frage betrifft: Ja, ich
will, dass Jai glückliche Jahre vor sich hat. Wenn sie ihr Glück
also in einer neuen Ehe findet, dann fände ich das großartig. Wenn
sie ihr Glück findet, ohne eine neue Ehe einzugehen, dann fände ich
das auch großartig.
Jai und ich arbeiten hart an unserer Ehe. Wir
sind so viel besser darin geworden, miteinander zu reden, die
Bedürfnisse des anderen ebenso zu erspüren wie seine Stärken und
dabei immer mehr aneinander zu entdecken, was wir lieben können.
Deshalb macht es uns traurig, dass wir diesen Reichtum unserer Ehe
nicht auch die nächsten dreißig oder vierzig Jahre leben können.
Die ganze Mühe, die wir in uns investiert haben, wird sich nicht
amortisieren. Trotzdem, wir würden unsere acht Ehejahre gegen
nichts auf der Welt eintauschen.
Ich weiß, dass ich bisher ziemlich gut mit
meiner Diagnose umgegangen bin. Das gilt auch für Jai. Wie sagt sie
doch immer? »Niemand muss meinetwegen weinen.« Und das meint sie
so. Aber wir wollen auch ehrlich sein. Obwohl uns die Therapie
ungemein geholfen hat, hatten wir auch harte Zeiten. Wir weinten
gemeinsam im Bett, schliefen erschöpft ein, wachten wieder auf und
weinten weiter. Zum Teil haben wir es bis hierher geschafft, weil
wir uns auf die unmittelbar bevorstehenden Aufgaben konzentrieren.
Wir dürfen einfach nicht zusammenbrechen, deshalb müssen wir darauf
achten, etwas Schlaf zu bekommen, denn wenigstens einer von uns
muss jeden Morgen aufstehen und den Kindern Frühstück machen. Und
dieser eine, das gebe ich hiermit zu Protokoll, ist fast immer
Jai.
Kürzlich feierte ich meinen siebenundvierzigsten
Geburtstag, was Jai zu einem inneren Kampf mit der Frage zwang:
»Was schenkst du dem Mann, den du liebst, zu seinem letzten
Geburtstag?« Sie entschied sich für eine Uhr und einen Fernseher
mit Großbildschirm. Ich bin zwar kein großer TV-Fan - Fernsehen ist
die größte Zeitverschwendung der Menschheit -, aber es war das
absolut beste Geschenk, denn am Ende werde ich viel Zeit im Bett
verbringen, und der Fernseher wird eine meiner letzten Verbindungen
zur Außenwelt sein.
Es gibt Tage, da sagt Jai irgendwas zu mir, auf
das ich wenig antworten kann. Beispielsweise so etwas wie: »Ich
kann mir einfach nicht vorstellen, rüberzurücken im Bett, und du
bist nicht da.« Oder: »Ich kann mir nicht vorstellen, mit den
Kindern in die Ferien zu fahren, und du bist nicht dabei.« Oder:
»Randy, du bist immer der Planer. Wer wird die Pläne machen?«
Da mache ich mir keine Sorgen. Jai wird prima
Pläne machen.

Ich hatte wirklich keine Ahnung, was ich tun
würde, nachdem das Publikum Jai ein Geburtstagsständchen gebracht
hatte. Doch als ich sie zu mir winkte und sie mir entgegenkam,
überwältigte mich einfach ein natürlicher Impuls - und sie auch,
nehme ich mal an. Jedenfalls nahmen wir uns in die Arme und küssten
uns, zuerst auf die Lippen, dann küsste ich ihre Wangen. Die Menge
applaudierte immer noch. Wir hörten sie, aber es schien uns, als
wäre sie meilenweit weg.
Als wir einander in den Armen lagen, flüsterte
Jai etwas in mein Ohr.
»Bitte stirb nicht.«
Das klingt wie Hollywood. Aber genau das sagte
sie. Ich drückte sie bloß noch fester an mich.
