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Jai
Ich habe Jai gefragt, was sie seit meiner
Diagnose gelernt hat. Da stellte sich heraus: Sie könnte ein Buch
mit dem Titel Vergesst die Last Lecture: Hier
ist die wahre Geschichte schreiben.
Sie ist eine starke Frau, meine Frau. Ich
bewundere ihre Direktheit, ihre Aufrichtigkeit, ihre Bereitschaft,
mir die Dinge ohne Umschweife ins Gesicht zu sagen. Sogar heute, da
wir nur wenige Monate vor uns haben, versuchen wir miteinander
umzugehen, als wäre alles normal und als hätte unsere Ehe noch
Jahrzehnte Zeit. Wir streiten, sind frustriert, werden zornig und
versöhnen uns.
Jai sagt, sie versuche noch immer
herauszufinden, wie man mit mir umgehen könne, mache aber
Fortschritte.
»Du spielst immer den Wissenschaftler, Randy«,
sagt sie. »Du willst Wissenschaft? Ich gebe dir Wissenschaft!«
Früher pflegte sie davon zu reden, dass sie ein bestimmtes »Gefühl
im Bauch« habe. Heute schleppt sie mir Daten an.
Zum Beispiel wollten wir letzte Weihnachten
meine Seite der Familie besuchen, aber sie hatten allesamt die
Grippe. Jai wollte weder mich noch die Kinder der Gefahr einer
Ansteckung aussetzen. Ich fand, wir sollten trotzdem fahren.
Immerhin werde ich nicht mehr viel Gelegenheit haben, meine Familie
zu sehen.
»Wir werden alle Abstand halten«, erklärte ich.
»Uns wird nichts passieren.«
Da wusste Jai, sie würde harte Fakten brauchen.
Sie telefonierte mit einer befreundeten Krankenschwester. Sie rief
zwei Ärzte an, die in unserer Straße wohnen. Und sie bekam
medizinische Meinungen. Sie sagten, dass es nicht sehr klug wäre,
die Kinder mitzunehmen. »Ich habe die Meinung von unparteiischen
medizinischen Autoritäten«, sagte sie. »Hier ist ihr Input.«
Nachdem ich die Daten gelesen hatte, gab ich nach. Ich machte einen
kurzen Trip zu meiner Familie, und Jai blieb mit den Kindern zu
Hause. (Ich bekam keine Grippe.)
Ich weiß, was ihr denkt. Es ist nicht einfach,
mit Wissenschaftlern wie mir zu leben.
Jai schafft den Umgang mit mir, weil sie
geradeheraus ist. Wenn ich vom Kurs abtreibe, lässt sie es mich
wissen. Oder sie gibt mir einen Warnschuss vor den Bug: »Irgendwas
nervt mich. Ich weiß nicht, was. Wenn ich’s herausgefunden habe,
lass ich’s dich wissen.«
Gleichzeitig aber, sagt Jai, habe sie angesichts
meiner Diagnose gelernt, ein paar kleinere Dinge durchgehen zu
lassen. Das war ein Rat unserer Therapeutin. Dr. Reiss hat das
Talent, Paaren, bei denen ein Partner tödlich erkrankt ist, dabei
zu helfen, ihr Leben neu zu kalibrieren. Eheleute wie wir müssen
einen Weg zu einer »neuen Normalität« finden.
Ich bin ein Schlamper. Meine Klamotten, egal, ob
dreckig oder sauber, liegen im ganzen Schlafzimmer verstreut, und
wenn ich aus dem Bad komme, ist das Waschbecken ein Schlamassel.
Das macht Jai verrückt. Vor meiner Krankheit ließ sie das nicht
durchgehen. Doch Dr. Reiss gab ihr den Rat, nicht in die Falle der
kleinen Dinge zu gehen.
Ganz klar, ich müsste ordentlicher sein. Ich
muss Jai Abbitte leisten. Denn sie hat aufgehört, von den kleinen
Dingen zu reden, die ihr so auf die Nerven gehen. Wollen wir
wirklich unsere letzten Monate zusammen über die Tatsache streiten,
dass ich meine Hosen nicht aufhänge? Nein, wollen wir nicht. Heute
befördert Jai meine Klamotten mit einem Fußtritt in die Ecke und
geht zur Tagesordnung über.
Ein Freund von uns gab Jai den Rat, Tagebuch zu
führen, und Jai sagt, dass es hilft. Sie schreibt alles hinein, was
ihr bei mir auf die Nerven geht. »Randy hat heute Abend seinen
Teller nicht in die Spülmaschine gestellt«, notierte sie einmal.
»Er hat ihn einfach auf dem Tisch stehen lassen und setzte sich an
seinen Computer.« Sie wusste, dass ich völlig geistesabwesend war,
weil ich im Internet nach möglichen medizinischen Behandlungen
suchen wollte. Trotzdem nervte sie der Teller auf dem Tisch. Ich
kann es ihr nicht verdenken. Also schrieb sie es auf, fühlte sich
besser, und uns blieb wieder einmal ein Streit erspart.
Jai versucht, sich auf den Tag und nicht auf das
Negative zu konzentrieren, das uns bevorsteht. »Es hilft niemandem,
wenn wir jeden Tag damit verbringen, uns vor dem Morgen zu
fürchten«, sagt sie.
Das letzte Silvester in unserem Haus war sehr
emotional, sehr bittersüß. Es war Dylans sechster Geburtstag, also
gab es eine Feier. Außerdem waren wir dankbar, dass ich es in das
neue Jahr geschafft hatte. Aber wir brachten es nicht über uns, den
Elefanten im Raum zur Sprache zu bringen - das nächste Silvester
ohne mich.
Ich ging an diesem Tag mit Dylan ins Kino. Wir
sahen uns Mr. Magoriums Wunderladen an, die
Geschichte eines Spielwarenhändlers. Ich hatte mir im Web die
Inhaltsbeschreibung
durchgelesen, aber dort war nicht erwähnt worden, dass Mr.
Magorium beschließt, es sei an der Zeit, zu sterben und den Laden
an seine schüchterne Managerin zu übergeben. So kam es, dass ich
mit Dylan auf dem Schoß im Kino saß und mein Sohn sich die Augen
ausweinte, weil Mr. Magorium starb. (Dylan weiß noch nichts von
meiner Prognose.) Wäre mein Leben ein Film, dann wäre diese Szene
mit Dylan und mir garantiert verrissen worden, denn ein so
übertriebener Wink mit dem Zaunpfahl ist lächerlich. Doch es gab
einen Satz in diesem Film, der mir im Gedächtnis blieb. Die
Managerin (Natalie Portman) sagt zum Ladenbesitzer (Dustin
Hoffman), dass er einfach nicht sterben dürfe. Er müsse leben.
Darauf er: »Das habe ich schon getan.«
Als die Mitternachtsstunde näher rückte,
bemerkte Jai, dass ich deprimiert war. Um mich aufzumuntern, ließ
sie das vergangene Jahr Revue passieren und wies mich auf die
wunderbaren Dinge hin, die wir erlebt hatten. Wir hatten einen
romantischen Urlaub zusammen verbracht, nur wir beide. Das hätten
wir niemals getan, wenn uns der Krebs nicht daran gemahnt hätte,
wie kostbar Zeit ist. Wir hatten die Kinder zu eigenständigen
kleinen Wesen heranwachsen sehen, und unser Haus war wirklich von
einer wunderbaren Energie und einer Menge Liebe erfüllt.
Jai schwor, auch weiterhin für mich und die
Kinder da zu sein. »Ich habe vier sehr gute Gründe, einmal tief
Luft zu holen und weiterzumachen. Und ich werde es«, versprach
sie.
Sie erzählte mir, dass es zu den besten Momenten
ihres Tages gehört, wenn sie beobachtet, wie ich mich mit den
Kindern beschäftige. Jedesmal, wenn Chloe etwas zu mir
sage, würde sich mein Gesicht erhellen. (Chloe ist jetzt achtzehn
Monate und spricht bereits in Vier-Wörter-Sätzen.)
An Weihnachten hatte ich das Anbringen der
Lichter am Baum zu einem Abenteuer gemacht. Anstatt Dylan und Logan
zu zeigen, wie man es richtig machen sollte, nämlich natürlich
vorsichtig und akribisch, ließ ich sie es völlig wahllos tun. Wo
auch immer sie ein Licht auf den Baum klemmen wollten, mir war es
recht. Jai hielt diese ganze chaotische Szene auf Video fest und
sagt, es sei ein »magischer Moment« gewesen, der einmal zu ihren
liebsten Erinnerungen an unser Familienleben zählen werde.

Jai hat nach Websites für Krebspatienten und ihre
Familien gesucht. Sie findet dort nützliche Informationen, sagt
aber, dass sie es nicht lange aushält. »So viele Einträge beginnen
mit: ›Bobs Kampf ist vorbei.‹, ›Jims Kampf ist vorbei. ‹ Ich glaube
nicht, dass es hilfreich ist, so etwas ständig zu lesen«, sagt
sie.
Aber ein Eintrag versetzte sie augenblicklich in
Aktion. Er war von einer Frau geschrieben, deren Mann Pankreaskrebs
hatte. Sie hatten gemeinsame Ferien geplant, sie dann aber
verschoben. Er starb, bevor sie es wahr machen konnten. »Macht die
Reisen, die ihr schon immer machen wolltet«, riet die Frau den
anderen Partnern. »Lebt jeden Moment.« Jai schwört, genau das
weiterhin zu tun.
Jai nahm in unserer Gegend Kontakt zu Menschen
auf, die ebenfalls Bezugspersonen von Todkranken sind. Sie findet
die Gespräche mit ihnen hilfreich. Wenn sie sich dringend über mich
beschweren muss oder einfach den Druck loswerden will, unter dem
sie steht, wird ihr dort eine gute Möglichkeit geboten, Dampf
abzulassen.
Gleichzeitig versucht sie, sich auf unsere
glücklichsten Zeiten zu konzentrieren. Als ich um sie warb,
schickte ich ihr allwöchentlich einen Blumenstrauß. Ich füllte ihr
Büro mit Stofftieren an. Ich übertrieb es mächtig, und wenn ich sie
damit nicht gerade abschreckte, genoss sie es sehr. Seit Kurzem,
sagt sie, krame sie ihre Erinnerungen von Randy dem Romantiker
hervor. Es bringe sie zum Lächeln und helfe ihr über ihre
deprimierten Momente hinweg.
Übrigens hat auch Jai eine Menge ihrer
Kindheitsträume verwirklicht. Sie wollte ein eigenes Pferd (das
sich zwar nie materialisierte, aber zumindest ist sie viel
geritten). Sie wollte nach Frankreich (während ihrer Collegezeit
verbrachte sie einen ganzen Sommer dort). Und vor allem träumte sie
davon, eines Tages eigene Kinder zu haben.
Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, um ihr zu
helfen, noch weitere Träume zu verwirklichen. Doch unsere Kinder
sind bereits atemberaubend erfüllte Träume, und das ist uns beiden
ein großer Trost.
Wenn Jai und ich über die Lehren sprechen, die
sie aus unserer gemeinsamen Reise gezogen hat, dann erzählt sie von
der Kraft, die wir beide aus der Tatsache schöpfen, dass wir es
gemeinsam durchstehen, Seite an Seite. Sie ist dankbar dafür, sagt
sie, dass wir uns gegenseitig das Herz ausschütten können. Und dann
redet sie wieder davon, wie nervig meine im ganzen Zimmer
verstreuten Klamotten sind. Doch alles in allem lässt sie mich
gewähren. Mir ist völlig klar: Bevor sie abends in ihr Tagebuch
schreibt, sollte ich meinen Verhau lieber weggeräumt haben. Ich
werde mir mehr Mühe geben, das schulde ich ihr. Das ist einer
meiner guten Vorsätze vom letzten Silvester.