21
Jai
Ich habe Jai gefragt, was sie seit meiner Diagnose gelernt hat. Da stellte sich heraus: Sie könnte ein Buch mit dem Titel Vergesst die Last Lecture: Hier ist die wahre Geschichte schreiben.
Sie ist eine starke Frau, meine Frau. Ich bewundere ihre Direktheit, ihre Aufrichtigkeit, ihre Bereitschaft, mir die Dinge ohne Umschweife ins Gesicht zu sagen. Sogar heute, da wir nur wenige Monate vor uns haben, versuchen wir miteinander umzugehen, als wäre alles normal und als hätte unsere Ehe noch Jahrzehnte Zeit. Wir streiten, sind frustriert, werden zornig und versöhnen uns.
Jai sagt, sie versuche noch immer herauszufinden, wie man mit mir umgehen könne, mache aber Fortschritte.
»Du spielst immer den Wissenschaftler, Randy«, sagt sie. »Du willst Wissenschaft? Ich gebe dir Wissenschaft!« Früher pflegte sie davon zu reden, dass sie ein bestimmtes »Gefühl im Bauch« habe. Heute schleppt sie mir Daten an.
Zum Beispiel wollten wir letzte Weihnachten meine Seite der Familie besuchen, aber sie hatten allesamt die Grippe. Jai wollte weder mich noch die Kinder der Gefahr einer Ansteckung aussetzen. Ich fand, wir sollten trotzdem fahren. Immerhin werde ich nicht mehr viel Gelegenheit haben, meine Familie zu sehen.
»Wir werden alle Abstand halten«, erklärte ich. »Uns wird nichts passieren.«
Da wusste Jai, sie würde harte Fakten brauchen. Sie telefonierte mit einer befreundeten Krankenschwester. Sie rief zwei Ärzte an, die in unserer Straße wohnen. Und sie bekam medizinische Meinungen. Sie sagten, dass es nicht sehr klug wäre, die Kinder mitzunehmen. »Ich habe die Meinung von unparteiischen medizinischen Autoritäten«, sagte sie. »Hier ist ihr Input.« Nachdem ich die Daten gelesen hatte, gab ich nach. Ich machte einen kurzen Trip zu meiner Familie, und Jai blieb mit den Kindern zu Hause. (Ich bekam keine Grippe.)
Ich weiß, was ihr denkt. Es ist nicht einfach, mit Wissenschaftlern wie mir zu leben.
Jai schafft den Umgang mit mir, weil sie geradeheraus ist. Wenn ich vom Kurs abtreibe, lässt sie es mich wissen. Oder sie gibt mir einen Warnschuss vor den Bug: »Irgendwas nervt mich. Ich weiß nicht, was. Wenn ich’s herausgefunden habe, lass ich’s dich wissen.«
Gleichzeitig aber, sagt Jai, habe sie angesichts meiner Diagnose gelernt, ein paar kleinere Dinge durchgehen zu lassen. Das war ein Rat unserer Therapeutin. Dr. Reiss hat das Talent, Paaren, bei denen ein Partner tödlich erkrankt ist, dabei zu helfen, ihr Leben neu zu kalibrieren. Eheleute wie wir müssen einen Weg zu einer »neuen Normalität« finden.
Ich bin ein Schlamper. Meine Klamotten, egal, ob dreckig oder sauber, liegen im ganzen Schlafzimmer verstreut, und wenn ich aus dem Bad komme, ist das Waschbecken ein Schlamassel. Das macht Jai verrückt. Vor meiner Krankheit ließ sie das nicht durchgehen. Doch Dr. Reiss gab ihr den Rat, nicht in die Falle der kleinen Dinge zu gehen.
Ganz klar, ich müsste ordentlicher sein. Ich muss Jai Abbitte leisten. Denn sie hat aufgehört, von den kleinen Dingen zu reden, die ihr so auf die Nerven gehen. Wollen wir wirklich unsere letzten Monate zusammen über die Tatsache streiten, dass ich meine Hosen nicht aufhänge? Nein, wollen wir nicht. Heute befördert Jai meine Klamotten mit einem Fußtritt in die Ecke und geht zur Tagesordnung über.
Ein Freund von uns gab Jai den Rat, Tagebuch zu führen, und Jai sagt, dass es hilft. Sie schreibt alles hinein, was ihr bei mir auf die Nerven geht. »Randy hat heute Abend seinen Teller nicht in die Spülmaschine gestellt«, notierte sie einmal. »Er hat ihn einfach auf dem Tisch stehen lassen und setzte sich an seinen Computer.« Sie wusste, dass ich völlig geistesabwesend war, weil ich im Internet nach möglichen medizinischen Behandlungen suchen wollte. Trotzdem nervte sie der Teller auf dem Tisch. Ich kann es ihr nicht verdenken. Also schrieb sie es auf, fühlte sich besser, und uns blieb wieder einmal ein Streit erspart.
Jai versucht, sich auf den Tag und nicht auf das Negative zu konzentrieren, das uns bevorsteht. »Es hilft niemandem, wenn wir jeden Tag damit verbringen, uns vor dem Morgen zu fürchten«, sagt sie.
Das letzte Silvester in unserem Haus war sehr emotional, sehr bittersüß. Es war Dylans sechster Geburtstag, also gab es eine Feier. Außerdem waren wir dankbar, dass ich es in das neue Jahr geschafft hatte. Aber wir brachten es nicht über uns, den Elefanten im Raum zur Sprache zu bringen - das nächste Silvester ohne mich.
Ich ging an diesem Tag mit Dylan ins Kino. Wir sahen uns Mr. Magoriums Wunderladen an, die Geschichte eines Spielwarenhändlers. Ich hatte mir im Web die Inhaltsbeschreibung durchgelesen, aber dort war nicht erwähnt worden, dass Mr. Magorium beschließt, es sei an der Zeit, zu sterben und den Laden an seine schüchterne Managerin zu übergeben. So kam es, dass ich mit Dylan auf dem Schoß im Kino saß und mein Sohn sich die Augen ausweinte, weil Mr. Magorium starb. (Dylan weiß noch nichts von meiner Prognose.) Wäre mein Leben ein Film, dann wäre diese Szene mit Dylan und mir garantiert verrissen worden, denn ein so übertriebener Wink mit dem Zaunpfahl ist lächerlich. Doch es gab einen Satz in diesem Film, der mir im Gedächtnis blieb. Die Managerin (Natalie Portman) sagt zum Ladenbesitzer (Dustin Hoffman), dass er einfach nicht sterben dürfe. Er müsse leben. Darauf er: »Das habe ich schon getan.«
Als die Mitternachtsstunde näher rückte, bemerkte Jai, dass ich deprimiert war. Um mich aufzumuntern, ließ sie das vergangene Jahr Revue passieren und wies mich auf die wunderbaren Dinge hin, die wir erlebt hatten. Wir hatten einen romantischen Urlaub zusammen verbracht, nur wir beide. Das hätten wir niemals getan, wenn uns der Krebs nicht daran gemahnt hätte, wie kostbar Zeit ist. Wir hatten die Kinder zu eigenständigen kleinen Wesen heranwachsen sehen, und unser Haus war wirklich von einer wunderbaren Energie und einer Menge Liebe erfüllt.
Jai schwor, auch weiterhin für mich und die Kinder da zu sein. »Ich habe vier sehr gute Gründe, einmal tief Luft zu holen und weiterzumachen. Und ich werde es«, versprach sie.
Sie erzählte mir, dass es zu den besten Momenten ihres Tages gehört, wenn sie beobachtet, wie ich mich mit den Kindern beschäftige. Jedesmal, wenn Chloe etwas zu mir sage, würde sich mein Gesicht erhellen. (Chloe ist jetzt achtzehn Monate und spricht bereits in Vier-Wörter-Sätzen.)
An Weihnachten hatte ich das Anbringen der Lichter am Baum zu einem Abenteuer gemacht. Anstatt Dylan und Logan zu zeigen, wie man es richtig machen sollte, nämlich natürlich vorsichtig und akribisch, ließ ich sie es völlig wahllos tun. Wo auch immer sie ein Licht auf den Baum klemmen wollten, mir war es recht. Jai hielt diese ganze chaotische Szene auf Video fest und sagt, es sei ein »magischer Moment« gewesen, der einmal zu ihren liebsten Erinnerungen an unser Familienleben zählen werde.
014
Jai hat nach Websites für Krebspatienten und ihre Familien gesucht. Sie findet dort nützliche Informationen, sagt aber, dass sie es nicht lange aushält. »So viele Einträge beginnen mit: ›Bobs Kampf ist vorbei.‹, ›Jims Kampf ist vorbei. ‹ Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, so etwas ständig zu lesen«, sagt sie.
Aber ein Eintrag versetzte sie augenblicklich in Aktion. Er war von einer Frau geschrieben, deren Mann Pankreaskrebs hatte. Sie hatten gemeinsame Ferien geplant, sie dann aber verschoben. Er starb, bevor sie es wahr machen konnten. »Macht die Reisen, die ihr schon immer machen wolltet«, riet die Frau den anderen Partnern. »Lebt jeden Moment.« Jai schwört, genau das weiterhin zu tun.
Jai nahm in unserer Gegend Kontakt zu Menschen auf, die ebenfalls Bezugspersonen von Todkranken sind. Sie findet die Gespräche mit ihnen hilfreich. Wenn sie sich dringend über mich beschweren muss oder einfach den Druck loswerden will, unter dem sie steht, wird ihr dort eine gute Möglichkeit geboten, Dampf abzulassen.
Gleichzeitig versucht sie, sich auf unsere glücklichsten Zeiten zu konzentrieren. Als ich um sie warb, schickte ich ihr allwöchentlich einen Blumenstrauß. Ich füllte ihr Büro mit Stofftieren an. Ich übertrieb es mächtig, und wenn ich sie damit nicht gerade abschreckte, genoss sie es sehr. Seit Kurzem, sagt sie, krame sie ihre Erinnerungen von Randy dem Romantiker hervor. Es bringe sie zum Lächeln und helfe ihr über ihre deprimierten Momente hinweg.
Übrigens hat auch Jai eine Menge ihrer Kindheitsträume verwirklicht. Sie wollte ein eigenes Pferd (das sich zwar nie materialisierte, aber zumindest ist sie viel geritten). Sie wollte nach Frankreich (während ihrer Collegezeit verbrachte sie einen ganzen Sommer dort). Und vor allem träumte sie davon, eines Tages eigene Kinder zu haben.
Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, um ihr zu helfen, noch weitere Träume zu verwirklichen. Doch unsere Kinder sind bereits atemberaubend erfüllte Träume, und das ist uns beiden ein großer Trost.
Wenn Jai und ich über die Lehren sprechen, die sie aus unserer gemeinsamen Reise gezogen hat, dann erzählt sie von der Kraft, die wir beide aus der Tatsache schöpfen, dass wir es gemeinsam durchstehen, Seite an Seite. Sie ist dankbar dafür, sagt sie, dass wir uns gegenseitig das Herz ausschütten können. Und dann redet sie wieder davon, wie nervig meine im ganzen Zimmer verstreuten Klamotten sind. Doch alles in allem lässt sie mich gewähren. Mir ist völlig klar: Bevor sie abends in ihr Tagebuch schreibt, sollte ich meinen Verhau lieber weggeräumt haben. Ich werde mir mehr Mühe geben, das schulde ich ihr. Das ist einer meiner guten Vorsätze vom letzten Silvester.
Last Lecture - die Lehren meines Lebens
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