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Träume für meine Kinder
Es gibt so vieles, was ich meinen Kindern sagen möchte, aber im Moment sind sie noch zu klein, um es zu verstehen. Dylan ist gerade sechs Jahre geworden, Logan ist drei Jahre und Chloe achtzehn Monate. Ich möchte, dass sie wissen, wer ich bin und woran ich immer geglaubt habe, und ich möchte, dass sie wissen, auf wie viele Arten ich sie liebe. Doch angesichts ihres Alters würde das ihr Fassungsvermögen übersteigen.
Ich wünschte, die Kinder könnten verstehen, wie verzweifelt ich sie nicht verlassen möchte.
Jai und ich haben ihnen noch nicht einmal gesagt, dass ich sterbe. Es wurde uns geraten, damit zu warten, bis ich mehr sichtbare Symptome zeige. Und im Moment sehe ich ziemlich gesund aus, auch wenn man mir nur noch Monate zu leben gab. Deshalb haben meine Kinder keine Ahnung, dass jeder gemeinsame Moment mit ihnen ein Abschied für mich ist.
Es schmerzt mich, daran zu denken, dass sie keinen Vater haben werden, wenn sie älter sind. Ich werde nicht sehen, wie sie dies tun, ich werde nicht sehen, wie sie das tun. Ich denke dauernd daran, dass die Kinder keinen Vater haben werden, konzentriere mich dabei aber mehr auf das, was sie verlieren werden, als auf das, was ich verliere. Ja, ein Teil meiner Trauer kommt durch mein Wissen: »Ich werde nicht dies, ich werde nicht das, ich werde nicht …« Doch ein größerer Teil meines Schmerzes gilt ihnen und dem Gedanken: »Sie werden nicht dies, sie werden nicht das, sie werden nicht …« Es frisst mich innerlich auf, sobald ich es zulasse.
Ich weiß, ihre Erinnerungen an mich werden verschwommen sein. Deshalb versuche ich, Dinge mit ihnen zu tun, die für sie unvergesslich sind. Ich möchte, dass ihre Erinnerungen an mich so klar wie nur möglich sein werden. Mit Dylan habe ich Kurzferien gemacht, um mit Delphinen zu schwimmen. Ein Kind, das mit Delphinen geschwommen ist, vergisst das nicht so leicht. Und wir haben Tonnen von Fotos gemacht.
024
Erinnerungen für Dylan schaffen
Mit Logan werde ich nach Disney World fahren, weil ich weiß, dass er diesen Ort ebenso lieben wird wie ich. Er wird es toll finden, Mickey Mouse zu treffen. Ich kenne sie schon, also kann ich sie einander vorstellen. Dylan werden Jai und ich auch mitnehmen, denn wie es scheint, ist heute kein Erlebnis für Logan echt, wenn er es nicht in voller Aktion mit seinem großen Bruder teilen kann.
025
Logan, der ultimative Tigger
Jeden Abend zur Schlafenszeit, wenn ich Logan frage, was an diesem Tag am schönsten war, antwortet er: »Mit Dylan zu spielen.« Allerdings antwortet er ebenfalls »Mit Dylan zu spielen«, wenn ich ihn frage, was das Blödeste an diesem Tag war. Man darf wohl davon ausgehen, dass sie sich mit dem brüderlichen Band verbunden haben.
Ich bin mir bewusst, dass Chloe vermutlich überhaupt keine Erinnerung an mich haben wird. Sie ist einfach noch zu klein. Aber ich will, dass sie in dem Bewusstsein aufwächst, dass ich der erste Mann gewesen bin, der sich in sie verliebte. Ich hielt dieses Vater-Tochter-Ding immer für völlig überbewertet. Aber ich kann euch sagen: Es ist real! Manchmal sieht sie mich an, und ich schmelze einfach nur dahin.
Es gibt so vieles, was Jai den Kindern von mir erzählen kann, wenn sie älter sind. Sie könnte von meinem Optimismus sprechen, oder über meine Art, immer meinen Spaß zu haben, oder über die hohen Normen, die ich mir selbst im Leben zu setzen versuchte. Sie könnte ihnen auf einigermaßen diplomatische Weise auch von ein paar Dingen erzählen, die mich zum Verzweifeln bringen konnten, oder von meiner allzu analytischen Herangehensweise an das Leben, oder von meiner beharrlichen (aber nicht allzu oft formulierten) Überzeugung, dass ich immer alles am besten wüsste. Jai ist so bescheiden, viel bescheidener als ich, deshalb könnte sie es vielleicht versäumen, den Kindern zu erzählen, dass sie mit einem Mann verheiratet war, der sie zutiefst und inniglichst liebte. Und gewiss wird sie ihnen auch nichts von all den Opfern erzählen, die sie mir zu bringen hatte. Jede Mutter von drei kleinen Kindern wird voll und ganz von der Sorge um sie beansprucht. Aber kommt dann noch ein krebskranker Ehemann dazu, ist das Ergebnis eine Frau, die sich unentwegt um die Bedürfnisse anderer und nie um die eigenen kümmert. Ich will, dass meine Kinder wissen, wie selbstlos sie für uns alle gesorgt hat.
Seit einiger Zeit ist es mir wichtig, mit Leuten zu reden, die in jungen Jahren einen Elternteil verloren haben. Ich will wissen, was ihnen über die schweren Zeiten hinweghalf und welche Andenken und Erinnerungen ihnen am meisten bedeuten.
Alle erzählten mir, wie tröstlich es für sie war, wenn sie erfuhren, wie sehr sie von ihren Müttern und Vätern geliebt wurden. Je mehr sie darüber erfuhren, desto deutlicher konnten sie deren Liebe noch immer fühlen.
Sie suchten auch nach Gründen, um stolz auf den verlorenen Elternteil zu sein. Sie wollten glauben, dass Vater oder Mutter ganz unglaubliche Menschen waren. Einige von ihnen suchten nach besonderen Leistungen, andere zogen sich auf die Legendenbildung zurück. Aber alle sehnten sich danach, zu erfahren, was den Elternteil so besonders machte.
Noch etwas anderes erfuhr ich von diesen Leuten: Da sie selbst so wenige Erinnerungen an den Vater oder die Mutter hatten, empfanden es alle als tröstlich, zu erfahren, dass die Eltern mit wunderbaren eigenen Erinnerungen an ihr Kind gestorben waren.
Deshalb möchte ich, dass meine Kinder wissen, wie stark die Bilder von ihnen und Gedanken an sie meine Erinnerung prägen.
Beginnen wir mit Dylan. Ich bewundere seine liebevolle und mitfühlende Art. Wenn sich ein anderes Kind wehtut, ist Dylan sofort mit einem Spielzeug oder einer Decke zur Stelle.
Es gibt noch einen anderen Wesenszug an Dylan, ich erkenne ihn wieder - er ist ebenso analytisch wie sein Dad. Schon jetzt ist er dahintergekommen, dass Fragen wichtiger sind als Antworten. Die meisten Kinder fragen: »Warum, warum, warum …« Aber in unserem Haus herrscht die Regel, dass man keine Einwortfragen stellen darf. Dylan hat das sofort angenommen. Er liebt es, Fragen mit voll ausformulierten Sätzen zu stellen, und dabei übersteigt seine Wissbegierde sein Alter weit. Ich erinnere mich noch gut daran, wie seine Vorschullehrerin schwärmte: »Wenn man mit Dylan zusammen ist, beginnt man automatisch zu denken: Ich möchte wirklich wissen, zu welcher Art von Erwachsenem sich dieses Kind entwickelt.«
Dylan ist außerdem der King aller Neugierigen. Egal, wo er ist, immer sieht er woanders hin und denkt sich: »Hey, da drüben ist was! Gehen wir rüber und schauen es uns an, oder berühren es, oder nehmen es auseinander.« Kinder schrammen gern mit Stöckchen an den weißen Lattenzäunen entlang, weil das so schön tacktack macht. Dylan ist da schon einen Schritt weiter. Er benutzt den Stock, um eine Latte aus dem Boden zu hebeln und das Tacktack dann mit dem dickeren Stück Holz zu machen, weil das noch viel besser klingt.
Logan hingegen macht alles zu einem großen Abenteuer. Bei seiner Geburt steckte er im Geburtskanal fest. Es bedurfte zweier Ärzte mit Zangen, um ihn auf die Welt zu zerren. Ich sehe den einen noch vor mir, wie er, einen Fuß abgestützt, mit aller Macht zog. Irgendwann drehte er sich zu mir um und sagte: »Ich hab auch noch Ketten und Zugpferde in der Hinterhand, wenn das nichts bringt.«
Es war ein harter Anfang für Logan. Weil er so lange Zeit derart zusammengepresst im Geburtskanal gesteckt hatte, bewegten sich seine Arme nach der Geburt nicht. Wir waren besorgt, aber nicht lange: Seit er sich das erste Mal bewegte, hat er eigentlich nie wieder aufgehört damit. Er ist einfach ein Hüpfball an phänomenaler positiver Energie, total körperlich und ein absolutes Herdentier. Wenn er lächelt, dann lächelt sein ganzes Gesicht. Er ist der ultimative Tigger. Außerdem ist er für alles zu haben und gut Freund mit jedermann. Er ist erst drei, aber ich sage schon jetzt voraus, dass er im College den Vorsitz einer Social Fraternity übernehmen wird, einer dieser studentischen Vereinigungen, die vorrangig soziale Aufgaben an ihrer Universität übernehmen.
Chloe ist ganz und gar ein Mädchen. Ich sage das mit ein wenig Ehrfurcht, denn bis sie auf die Welt kam, hatte ich nicht wirklich erfasst, was das bedeutet. Eigentlich war sie als Kaiserschnittgeburt geplant gewesen, doch dann platzte bei Jai die Fruchtblase, und kaum waren wir in der Klinik angekommen, glitt Chloe einfach heraus. (Das sage ich. Jai würde sagen, »gleiten« sei eine Beschreibung, auf die nur ein Mann kommen könne!) Jedenfalls, als ich Chloe das erste Mal im Arm hielt und in das Gesicht dieses winzigen Mädchens blickte, war es, wie soll ich sagen, der intensivste und spirituellste Moment meines Lebens. Augenblicklich fühlte ich diese besondere Verbindung, die tatsächlich anders war als zu den Jungs. Ich wurde sofort zum Mitglied des Clubs aller um den Finger gewickelten Väter.
Ich liebe es, Chloe zu beobachten. Im Gegensatz zu Dylan und Logan, die solche physischen Draufgänger sind, ist Chloe vorsichtig und sogar etwas etepetete. Wir haben ein Sicherheitsgitter oben an der Treppe angebracht, aber das hätten wir uns auch sparen können, denn Chloes ganzes Bestreben läuft darauf hinaus, sich nicht wehzutun. Nachdem wir uns an zwei Jungens gewöhnt hatten, die furchtlos jede Treppe herunterpoltern, war das eine ganz neue Erfahrung für Jai und mich.
Ich liebe jedes meiner drei Kinder bedingungslos und jedes ganz anders. Und sie sollen wissen, dass ich sie lieben werde, solange sie leben. Glaubt mir, das werde ich wirklich! Angesichts meiner begrenzten Zeit musste ich mir jedoch überlegen, wie ich die Bande zwischen uns nochmals verstärken kann. Deshalb schreibe ich drei verschiedene Listen mit den Erinnerungen voll, die ich an jedes meiner Kinder habe. Ich drehe Videos, damit sie mich ansehen können, wenn ich darüber rede, was sie mir bedeutet haben. Ich schreibe ihnen Briefe. Auch das Video von meiner Last Lecture und dieses Buch betrachte ich als Teile von mir, die ich ihnen hinterlassen kann. Ich hebe sogar eine große Plastiktonne voller Mails auf, die ich in den Wochen nach meiner Lecture bekam. Eines Tages möchten die Kinder vielleicht einen Blick darauf werfen, und ich hoffe, dass es sie freuen wird, wenn sie feststellen, dass diese Vorlesung nicht nur Freunden, sondern auch völlig fremden Menschen etwas bedeutet hat.
Da ich immer so viel über die Macht von Kindheitsträumen geredet habe, werde ich neuerdings von Leuten gefragt, welche Träume ich für meine eigenen Kinder habe.
Das kann ich sofort beantworten.
Wenn Eltern sich etwas Bestimmtes für ihre Kinder erträumen, dann kann das ziemlich zerstörerische Auswirkungen haben. Als Professor habe ich viele unglückliche Erstsemester gesehen. Sie hatten sich Hauptfächer ausgesucht, die allesamt nicht das Geringste mit ihnen zu tun hatten. Auf diese Schiene hatten sie nur ihre Eltern gesetzt. Das Ergebnis waren entgleiste Züge, jedenfalls, wenn ich es anhand der vielen Tränen beurteile, die in meinem Büro geweint wurden.
Ich sehe es anders. Es ist die Aufgabe von Eltern, ihre Kinder zu ermuntern, Freude am Leben und einen starken Drang zu entwickeln, den eigenen Träumen zu folgen. Wir können ihnen bestenfalls helfen, das persönliche Rüstzeug dafür zu erwerben.
Deshalb habe ich meine Träume für meine Kinder sehr klar vor Augen: Ich wünsche mir, dass sie ihre eigenen Wege hin zur Erfüllung ihrer eigenen Träume finden. Und da ich nicht dabei sein werde, möchte ich eines ganz klarstellen: Kinder, zerbrecht euch nie den Kopf, was ich gerne gesehen hätte. Ich will, dass ihr das werdet, was ihr werden wollt.
Nachdem ich so viele Studenten in so vielen Seminaren erlebt habe, weiß ich auch, wie viele Eltern es gibt, die nicht wissen, welche Macht ihre Worte haben. Je nach dem Alter eines Kindes und der Ausprägung seines Selbstbewusstseins kann sich eine beiläufige Bemerkung von Mom oder Dad wie der Stoß von einem Bulldozer anfühlen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich die Bemerkung über Logan und die Fraternity hätte machen sollen. Ich will nicht, dass er eines Tages auf dem College endet und glaubt, dass ich von ihm erwartet hätte, einer Fraternity beizutreten, geschweige denn deren Vorsitz zu übernehmen - oder was auch immer. Sein Leben wird sein Leben sein. Das Einzige, wozu ich meine Kinder drängen möchte, ist, dass sie ihrem Weg mit Begeisterung und Leidenschaft folgen. Und ich wünsche mir, dass sie spüren werden, wie voll und ganz ich hinter ihnen stehe, immer, egal, welchen Weg sie einschlagen.
Last Lecture - die Lehren meines Lebens
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