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Es haute
mich schlicht um
Menschen, die mich kennen, sagen, ich sei ein
Effizienzfreak. Und damit haben sie wohl den Nagel auf den Kopf
getroffen. Ich würde immer am liebsten zwei, besser noch drei
sinnvolle Dinge auf einmal tun. Aus diesem Grund begann ich mir im
Zuge meiner Laufbahn auch den Kopf über die folgende Frage zu
zerbrechen: Wenn ich einzelnen Studenten dabei helfen kann, sich
Schritt für Schritt ihren Kindheitsträumen zu nähern, könnte es
dann nicht auch einen Weg geben, das Gleiche in einem größeren
Rahmen zu tun?
Dieser größere Rahmen bot sich, als ich im Jahr
1997 an der Carnegie Mellon University als außerordentlicher
Professor Computerwissenschaften zu lehren begann. Mein
Spezialgebiet war die »Mensch-Computer-Interaktion«, und ich bot
ein Seminar unter dem Titel »Building Virtual Worlds« an, kurz
BVW.
Das Thema, um das es ging, hatte ich von Mickey
Rooney und Judy Garland geklaut: »Let’s put on a show.« Nur war es
eben dem Zeitalter der Computergrafik, 3-D-Animationen und
Erschaffung von Welten angepasst, die wir als »immersive
interaktive virtuelle Realität« bezeichneten (»immersiv« bedeutet,
dass man mittels eines Helms in diese Welten eintauchen
kann).
Ich öffnete den Kurs für fünfzig Studenten aus
dem Grundstudium aller Fachbereiche an der Universität. Es nahmen
also Schauspielschüler, Englischstudenten und Leute aus der
Bildhauerklasse neben Ingenieur- oder Mathematikstudenten und
Computerfreaks teil. Wenn man bedenkt, wie autonom die
verschiedenen Fachbereiche an der Carnegie Mellon sind, dann hätten
sich ihre Wege sonst vermutlich nie gekreuzt. Wir aber machten
diese jungen Leute nun zu ungleichen Partnern und zwangen sie,
gemeinsam etwas zu tun, das sie allein nie hätten tun können.
Es gab vier durch das Zufallsprinzip ausgewählte
Mitglieder pro Team, das jeweils für die Dauer von zwei Wochen an
einem eigenen Projekt arbeitete. Ich gab ihnen nur vor: »Erschafft
eine virtuelle Welt.« Also begannen sie etwas zu programmieren,
sich etwas zusammenzufantasieren und sich die Ergebnisse dann
gegenseitig vorzuführen. Ich setzte derweil die Teams neu zusammen,
und jeder begann ein neues Spiel mit drei neuen Partnern.
Ich hatte nur zwei Regeln für ihre virtuellen
Welten aufgestellt: keine Schüsse und Gewalt, keine Pornografie.
Dahinter steckte weniger Moral als die Tatsache, dass solche Themen
schon bis zum Gehtnichtmehr für Computerspiele ausgeschlachtet
worden sind, es mir aber um originäres Denken ging.
Ihr würdet euch wundern, wie leer die
Fantasiewelten von neunzehnjährigen jungen Männern sind, wenn man
Sex und Gewalt aus dem Themenkatalog streicht. Trotzdem, nachdem
ich von ihnen gefordert hatte, über das allseits Bekannte
hinauszudenken, zeigten sich die meisten dieser neuen Situation
gewachsen. Und nicht nur das: Als die ersten Studenten meines
ersten Kurses ihre ersten Projekte
vorstellten, haute es mich schlicht um. Was sie mir da vorführten,
übertraf meine eigene Fantasie bei Weitem. Und am beeindruckendsten
war, dass sie diese Kunstwerke an Computern programmiert hatten,
die nach den Standards von Hollywoods virtueller Realität
ausgesprochen lahm waren.
Ich war zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre im
Lehrbetrieb gewesen und hatte bei Beginn dieses BVW-Kurses keine
Ahnung gehabt, was mich erwarten würde. Aber schon nach der
Aufgabenstellung für die beiden ersten Wochen hatten mich die
Resultate überwältigt. Ich wusste einfach nicht, was ich noch
fordern konnte, und war derart ratlos, dass ich meinen Mentor Andy
van Dam anrief.
»Andy, ich habe meine Studenten gerade ein
zweiwöchiges Projekt machen lassen, und sie kamen mit Sachen an,
die ich ihnen allen mit A benotet hätte, wenn sie dafür ein ganzes
Semester Zeit gehabt hätten. Was soll ich tun?«
Andy dachte einen Moment nach, dann sagte er:
»Okay, du machst Folgendes. Geh morgen in deine Klasse, schau sie
an und sage: ›Leute, das war ziemlich gut, aber ich weiß, ihr könnt
das besser.‹«
Diese Antwort machte mich sprachlos. Aber ich
folgte dem Rat, und er war, wie sich herausstellte, goldrichtig
gewesen. Denn was Andy mir damit eigentlich gesagt hatte, war, dass
ich einfach nur nicht wusste, wie hoch ich die Messlatte legen
konnte, und den Studenten einen schlechten Dienst erwiesen hätte,
wenn ich einfach irgendwelche willkürlichen Grenzen gesetzt
hätte.
Tatsächlich wurden sie immer besser. Ihre
Schöpfungen waren eine Inspiration für mich. Viele Projekte waren
schlicht und einfach brillant, ob sie den Spieler zu einem
Abenteurer beim Rafting machten, auf eine romantische
Gondelfahrt durch Venedig schickten oder in einen Ninja auf
Rollerskates verwandelten. Ein paar Studenten erschufen sich auch
unglaubliche Fantasiewelten, bevölkert von liebenswerten
3-D-Geschöpfen, die sie sich in ihren Kindertagen erträumt
hatten.
Mit einem Mal sah ich mich an den
Präsentationstagen nicht nur mit meinen fünfzig Studenten, sondern
mindestens weiteren fünfzig Leuten konfrontiert, die ich noch nie
gesehen hatte - Zimmergenossen, Freunde, Eltern. Ich hatte nie
zuvor Eltern in einem Kurs gesehen! Allmählich schwoll die Menge
lawinenartig an. Am Ende drängten sich so viele Menschen in die
Präsentationen, dass wir ins Audimax umziehen mussten. Und selbst
dort gab es nur noch Stehplätze für das mehr als vierhundertköpfige
Publikum, das seine Favoriten aus unseren virtuellen Welten mit
stürmischen Ovationen belohnte. Jared Cohon, Präsident der Carnegie
Mellon University, sagte mir einmal, er habe sich immer wie bei
einer »Ohio State Pep Rallye« gefühlt (einer dieser
»Anheizerversammlungen«, die die Studenten vor einem Spiel ihres
Teams zu veranstalten pflegen), nur dass es sich hier um eine
akademische Veranstaltung handelte.
Ich wusste an den Präsentationstagen immer schon
im Vorhinein, welche Projekte am besten ankommen würden. Ich konnte
es der Körpersprache meiner Studenten ablesen: Wenn ein Team eng
beieinanderstand, dann wusste ich, dass es sich verschworen hatte
und man seine virtuelle Welt nicht verpassen durfte.
Am besten gefiel mir bei dieser ganzen Sache die
zentrale Rolle, die Teamwork für den Erfolg spielte. Wie weit
würden diese Studenten kommen? Ich hatte keine Ahnung. Würde es
ihnen gelingen, ihre Träume zu verwirklichen?
Das Einzige, was ich dazu mit Sicherheit sagen konnte, war:
Niemand aus diesem Kurs würde es allein schaffen.

Gab es eine Möglichkeit, das, was wir hier taten,
noch eine Stufe weiterzutreiben?
Mit dem Segen der Universität heckte ich mit Don
Marinelli, der die Dramaklasse unterrichtete, etwas total
Verrücktes aus. Wir nannten es »Entertainment Technology Center«
(www.etc.cmu.edu). So heißt es
bis heute. Wir betrachteten es allerdings lieber als unsere
»Traumerfüllungsfabrik«. Man konnte dort einen zweijährigen Kurs
belegen und mit dem Magister abschließen. Künstler und Technologen
taten sich zusammen, um gemeinsam Attraktionen für Erlebnisparks,
Computerspiele, Computeranimationen oder schlicht alles zu
erschaffen, was sie sich erträumten.
Universitäten ohne Hang zu Verrücktheiten ließen
sich auf so etwas nicht ein, Carnegie Mellon gab uns hingegen
ausdrücklich die Lizenz, neue Wege zu gehen.
Don und ich verkörperten selbst diese Mischung
aus Kunst und Technologie, aus rechter Hirnhälfte und linker, aus
Drama und Computer. Da wir so unterschiedliche Persönlichkeiten
sind, blieb es natürlich nicht aus, dass wir manchmal auch zur
Mauer für den anderen wurden. Aber es gelang uns immer, Auswege zu
finden und das Ganze am Laufen zu halten - mit dem Ergebnis, dass
die Studenten meist das Beste aus unseren divergierenden Ansätzen
bekamen (und mit Sicherheit am lebenden Objekt vorgeführt bekamen,
wie man mit Menschen kooperieren kann, die die Dinge anders angehen
als man selbst). Die Mischung aus individueller Freiheit und
Teamgeist, die in
diesem Gebäude herrschte, erschuf eine geradezu elektrisierende
Atmosphäre. Und es dauerte nicht lange, da hatten auch Unternehmen
von uns gehört und begannen, verbindliche schriftliche Zusagen für
Dreijahresanstellungen unserer Studenten zu machen. Das heißt, sie
verpflichteten sich, Leute einzustellen, die wir noch nicht einmal
ans ETC aufgenommen hatten!
Don machte siebzig Prozent der Arbeit am ETC,
verdient aber mehr als nur siebzig Prozent der Anerkennung.
Außerdem rief er einen satellitengestützten Campus in Australien
ins Leben und plant mittlerweile weitere Dependancen in Korea und
Singapur. Hunderte von Studenten in aller Welt, die ich nie
kennenlernen werde, werden in der Lage sein, ihre verrücktesten
Kindheitsträume zu verwirklichen. Das ist wirklich ein tolles
Gefühl.