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Die Elternlotterie
Ich habe in der Elternlotterie gewonnen.
Ich wurde mit einem Gewinnschein geboren. Das war der eigentliche Grund, weshalb ich meine Kindheitsträume verwirklichen konnte.
Meine Mutter war eine zähe Englischlehrerin alter Schule mit Nerven aus Drahtseilen. Ihren Schülern forderte sie alles ab, und die Eltern, die sich bei ihr beschwerten, weil sie zu viel von ihren Kindern verlangte, ertrug sie einfach. Ich war ihr Sohn, ich weiß ein Lied zu singen von ihren hohen Erwartungen, aber ich weiß auch, dass ich damit das große Los gezogen hatte.
Mein Vater, der im Zweiten Weltkrieg als Sanitäter die Schlacht in den Ardennen miterlebt hatte, gründete einen gemeinnützigen Verein, der Einwandererkindern Englisch beibrachte, und verdiente seinen Lebensunterhalt mit einer kleinen Autoversicherungsvertretung in der Innenstadt von Baltimore. Seine Kunden waren meist arme Leute, die anderswo nicht kreditwürdig waren, weil sie kaum Geld hatten. Er fand immer eine Möglichkeit, ihnen eine Versicherung zu besorgen, damit sie sich in ein Auto setzen konnten. Mein Dad war aus Millionen Gründen mein Held.
Ich wuchs im behaglichen Mittelschichtmilieu von Columbia, Maryland, auf. Geld war in unserem Haus kein Thema, allerdings hauptsächlich, weil meine Eltern es nie notwendig fanden, viel auszugeben. Sie waren mehr als genügsam. Wir gingen kaum jemals zum Essen aus und höchstens ein- oder zweimal im Jahr ins Kino. »Schau fern«, pflegten meine Eltern zu sagen, »denn das kostet nichts. Oder was noch besser ist: Geh in die Bibliothek und hol dir ein Buch.«
Als ich zwei und meine Schwester vier Jahre alt war, ging meine Mutter mit uns in den Zirkus. Als ich neun war, wollte ich wieder hin. »Da brauchst du nicht hin«, sagte meine Mutter, »du warst schon im Zirkus.«
Nach heutigen Normen mag das bedrückend klingen, aber in Wahrheit hatte ich eine märchenhafte Kindheit. Mir wurde unglaublich auf die Sprünge geholfen, weil ich eine Mutter und einen Vater hatte, die so vieles richtig machten.
Wir kauften nicht viel. Aber es gab nichts, worüber wir nicht nachdachten. Mein Vater besaß diese ansteckende Wissbegierde. Er wollte einfach alles über das aktuelle Zeitgeschehen, über Geschichte und über unser Leben wissen. Als Kind war ich überzeugt, dass es nur zwei Arten von Familien gäbe, nämlich erstens solche, die ein Lexikon brauchten, um ein familiäres Abendessen zu überstehen, und zweitens solche, die keines brauchten.
Wir gehörten zur Kategorie eins. Beinahe jeder Abend endete damit, dass wir etwas im Lexikon nachschlugen, das nur sechs Schritte vom Esstisch entfernt im Regal stand. »Wenn ihr eine Frage habt«, pflegten meine Eltern zu sagen, »dann findet die Antwort.«
In unserem Haus hatte niemand Lust, wie ein Tropf dazusitzen und eine Frage nicht beantworten zu können. Wir wussten uns zu helfen: Öffne das Lexikon; öffne das Wörterbuch. Öffne deinen Geist.
Mein Vater war auch ein sagenhafter Geschichtenerzähler. Aber er fand, dass keine Geschichte ohne Grund erzählt werden sollte. Er liebte lustige Anekdoten, die mit »Und die Moral von der Geschicht’ ist …« endeten. Er war ein Meister solcher Geschichten, und ich saugte seine Erzähltechniken wie ein Schwamm auf. Als meine Schwester Tammy meine Last Lecture im Internet verfolgte, sah sie, wie sich meine Lippen bewegten, und hörte die Stimme dazu - aber in ihren Ohren war es nicht meine, es war Vaters Stimme. Sie wusste, dass ich gerade mehr als nur ein paar seiner erlesenen Weisheiten von mir gab. Ich bestreite das keine Sekunde, denn sogar ich hatte in einigen Momenten das Gefühl, als würde ich meinen Dad in den Hörsaal herunterreden.
Ich zitiere fast jeden Tag einen Spruch meines Vaters, nicht zuletzt, weil andere Menschen oft ablehnend reagieren, wenn man eigene Weisheiten von sich gibt, und weil es weniger arrogant wirkt oder besser aufgenommen wird, wenn man eine Weisheit aus anderem Mund zitiert. Wer einen Vater wie meinen in der Hinterhand hat, der kann ohnedies nicht anders, als ihn bei jeder erstbesten Gelegenheit zu zitieren.
Mein Dad gab mir viele Ratschläge, die mir helfen sollten, meinen Weg durchs Leben zu finden. Er sagte solche Dinge wie: »Triff niemals eine Entscheidung, bevor du dazu gezwungen bist.« Er lehrte mich auch, immer fair zu bleiben, selbst wenn ich einmal in der Position des Stärkeren bin, egal, ob bei der Arbeit oder in Beziehungen. »Nur weil du am Steuer sitzt«, sagte er, »heißt das noch lange nicht, dass du andere überfahren darfst.«
Neuerdings stelle ich fest, dass ich meinen Vater sogar dann zitiere, wenn er das Betreffende gar nicht gesagt hatte. Egal, um was es geht, es könnte immer aus seinem Mund stammen. Er schien einfach alles zu wissen.
Auch meine Mutter weiß viel. Seit ich denken kann, betrachtete sie es als ihre Aufgabe, meinen Übermut in Schach zu halten. Heute bin ich ihr dankbar dafür. Noch immer antwortet sie auf die Frage, wie ich als Kind war: »Aufgeweckt, aber ziemlich unvorsichtig.« Heute preisen alle Eltern ihre Kinder als Genies, und da steht meine Mutter und findet, dass »aufgeweckt« als Lob genügen muss.
Als ich mich auf meine Doktorarbeit vorbereitete, musste ich einen Test machen, der sich »The Theory Qualifyer« nannte und von dem ich heute sagen kann, dass er das absolut Schlimmste in meinem Leben nach der Chemotherapie war. Als ich meiner Mutter vorjammerte, wie ätzend und schwer dieser Test sei, lehnte sie sich zu mir herüber, tätschelte meinen Arm und sagte: »Wir wissen genau, wie du dich fühlst, Honey. Aber erinnere dich, als dein Vater in deinem Alter war, kämpfte er gegen die Deutschen.«
Seit ich meinen PhD in der Tasche habe, pflegt mich meine Mutter mit wahrem Genuss mit den Worten vorzustellen: »Das ist mein Sohn. Er ist ein Doktor, aber nicht so einer, der den Menschen hilft.«
Meine Eltern wussten, was dazugehört, wenn man Menschen wirklich helfen will. Sie fanden immer irgendwelche Großprojekte abseits der ausgetretenen Pfade, auf die sie sich stürzen konnten. Gemeinsam übernahmen sie zum Beispiel die finanzielle Garantie für ein Schülerwohnheim im ländlichen Thailand, das es fünfzig Mädchen ermöglichen sollte, die Schule zu Ende zu bringen und nicht in die Prostitution abzurutschen.
Meine Mutter war immer außerordentlich karitativ, und mein Vater wäre jederzeit bereit gewesen, alles herzugeben und selbst in Sack und Asche zu gehen, anstatt in dem Vorort zu wohnen, in dem der Rest der Familie leben wollte. In diesem Sinne halte ich meinen Vater für den »christlichsten« Menschen, dem ich jemals begegnet bin. Außerdem war er ein unverdrossener Kämpfer für soziale Gleichheit. Anders als meine Mutter war er jedoch nicht so leicht bereit, sich in die Arme eines organisierten Glaubens zu begeben (wir waren Presbyterianer). Ihm ging es mehr um die großen Ideale. Gleichheit war für ihn das erstrebenswerteste aller Ziele. Er setzte große Erwartungen in die Gesellschaft und blieb trotz der vielen Enttäuschungen, die er dabei erlebte, immer ein glühender Optimist.
Im Alter von dreiundachtzig Jahren wurde bei meinem Vater Leukämie diagnostiziert. Als er wusste, dass er nicht mehr lange leben würde, traf er Vorkehrungen, um seinen Körper der medizinischen Forschung zu überlassen. Das Projekt in Thailand versorgte er mit genügend Geld, um seinen Fortbestand für mindestens noch sechs weitere Jahre zu garantieren.
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Vielen Leuten, die meine Last Lecture hörten, blieb vor allem ein Foto im Gedächtnis, das ich auf die Videowand klickte. Es zeigt mich im Pyjama, den Kopf nachdenklich aufgestützt, und vermittelt wohl wie kein zweites, dass ich ein Kind mit großen Träumen war.
Die Holzlatte quer vor meinem Körper ist die Vorderseite meines Stockbetts. Mein Vater, ein ziemlich guter Hobbytischler, hatte es mir gebaut. Das Lächeln auf diesem Kindergesicht, die Holzlatte, der Ausdruck der Augen - alles erinnert mich daran, dass ich die Elternlotterie gewonnen hatte.
Meine Kinder werden zwar eine liebende Mutter haben, und ich weiß, dass Jai sie ganz wunderbar auf das Leben vorbereiten wird, aber sie werden ihren Vater nicht bei sich haben. Ich habe das akzeptiert, aber es tut weh.
Ich würde gerne glauben, dass mein Vater einverstanden wäre mit der Art und Weise, wie ich diese letzten Monate meines Lebens verbringe. Er hätte mir geraten, die Dinge für Jai, so weit es geht, in Ordnung zu bringen und so viel Zeit wie nur möglich mit meinen Kindern zu verbringen - genau das tue ich. Und ich weiß, er hätte es sinnvoll gefunden, mit der Familie nach Virginia zu übersiedeln.
Außerdem bin ich sicher, dass mich mein Vater daran erinnern würde, dass Kinder, mehr noch als alles andere, wissen müssen, wie sehr ihre Eltern sie lieben. Und damit sie das wissen können, müssen nicht unbedingt beide Elternteile noch am Leben sein.
Last Lecture - die Lehren meines Lebens
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