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Der
Elefant im Raum
Jai war bereits im Saal - unerwarteterweise
hatten wir ein volles Haus: vierhundert Leute. Als sie beobachtete,
wie ich hereinsprang, mich mit dem Pult vertraut machte und mich zu
organisieren versuchte, konnte sie mir meine Nervosität anmerken.
Außerdem sah sie, dass ich zu fast niemandem Blickkontakt aufnahm
und mir unentwegt an meinen Utensilien zu schaffen machte, weil ich
mich, wie sie glaubte, einfach nicht überwinden konnte, ins
Publikum zu schauen, aus Angst, einen Freund oder einstigen
Studenten zu sehen und beim Blickwechsel von meinen Emotionen
überwältigt zu werden.
Als ich mich bereit machte, ging ein Rascheln
durch das Auditorium. Falls jemand gekommen war, um zu sehen, wie
einer aussieht, der gerade an Pankreaskrebs stirbt, so stellten
sich ihm nun gewiss ein paar Fragen. War das mein echtes Haar? (Ja,
ich verlor kein einziges Haar bei der Chemotherapie.) Würde man
meiner Rede anmerken, wie nah ich dem Tode war? (Meine Antwort:
»Just watch!«)
Selbst als mich nur noch Minuten vom Beginn der
Rede trennten, hantierte ich weiter am Pult herum, löschte Bilder,
sortierte andere um. Damit war ich immer noch beschäftigt, als mir
ein Zeichen gegeben wurde. »Wir sind bereit«, sagte jemand.
Ich trug keinen Anzug. Ich hatte keine Krawatte
umgebunden. Niemand hätte mich dazu gebracht, mich dort unten im
obligatorischen Tweedjackett mit Lederflicken an den Ellbogen
hinzustellen. Stattdessen hatte ich beschlossen, für diese
Vorlesung die Klamotten aus dem Schrank zu holen, die der Kluft
meiner Kindheitsträume am nächsten kamen.
Zugegeben, auf den ersten Blick muss ich wie der
Typ aus dem Fast-Food-Shop um die Ecke ausgesehen haben, der die
Bestellungen aufnimmt. In Wirklichkeit war das Logo auf meinem
kurzärmligen Poloshirt ein Ehrenabzeichen, denn es wird von den
Leuten bei Disney Imagineering getragen - den Künstlern, Autoren
und Ingenieuren, die die fantastische Welt der Themenparks
erschaffen. Meine Zeit dort war ein Highlight meines Lebens, die
Erfüllung eines Kindheitstraums. Deshalb hatte ich auch noch das
ovale Namensschild mit dem aufgeprägten »Randy« angesteckt, das ich
während der Arbeitszeit bei Disney trug. Ich zollte damit nicht nur
dieser Lebenserfahrung Tribut, sondern auch Walt Disney selbst, von
dem der berühmte Spruch stammt: »Wenn du es träumen kannst, dann
kannst du es auch tun.«
Ich dankte dem Publikum für sein Kommen, riss
ein paar Witze und sagte dann: »Falls jemand hier ist, der zufällig
reingestolpert ist und die Hintergründe nicht kennt: Mein Vater hat
mir beigebracht: Wenn ein Elefant im Raum ist, stelle ihn vor. Wenn
man sich mein CT ansieht, dann sieht man ungefähr zehn Tumore in
meiner Leber, und die Ärzte sagten mir, dass ich noch drei bis
sechs Monate bei guter Gesundheit hätte. Das war vor einem Monat,
also rechnet selbst.«
Dann klickte ich ein Bild von meinem CT-Scan auf
den
riesigen Flatscreen. Ich hatte es »Der Elefant im Raum«
überschrieben und mit hilfreichen roten Pfeilen versehen, die auf
jeden Tumor wiesen.
Ich ließ das Bild lange genug stehen, damit das
Publikum den Pfeilen folgen und meine Tumore zählen konnte. »Okay«,
sagte ich, »das ist die Realität. Wir können sie nicht ändern. Wir
können nur bestimmen, wie wir damit umgehen. Wir können nichts an
den Karten ändern, die wir bekommen, nur an dem Spiel, das wir mit
diesem Blatt machen.«
In diesem Moment fühlte ich mich absolut gesund
und unversehrt, ganz der alte Randy, der, vom Adrenalin gepusht,
den Kick eines vollen Saales genießt. Ich wusste, dass ich auch
ziemlich gesund aussah und einige Leute Probleme haben würden, das
mit der Tatsache meines Sterbens in Einklang zu bringen. Also
sprach ich es an: »Wenn ich nicht so deprimiert oder missmutig
erscheine, wie ich sollte, tut es mir leid, euch zu enttäuschen.«
Als das Gelächter abgeklungen war, fügte ich hinzu: »Ich versichere
euch, dass ich nichts verdränge. Es ist nicht so, dass ich mir
nicht bewusst mache, was vorgeht.
Meine Familie - meine drei Kinder und meine Frau
-, wir sind gerade umgezogen. Wir haben ein hübsches Haus in
Virginia gekauft, weil das auf längere Sicht ein besserer Ort für
die Familie ist.« Ich zeigte ein Bild des neuen Vorstadthauses, das
wir gerade gekauft hatten. Darüber hatte ich den Text gesetzt: »Ich
verdränge nicht.«
Worauf wollte ich hinaus? Jai und ich hatten
beschlossen, unsere Familie zu entwurzeln. Ich hatte sie gebeten,
ein Heim zu verlassen, das sie liebte, und Freunde, die sie
gernhatten. Wir hatten die Kinder ihren Pittsburgher Spielgefährten
entrissen. Wir hatten unser Leben in Kisten
verpackt und uns in einen selbst fabrizierten Tornado gestürzt,
anstatt uns in Pittsburgh einzuigeln und auf meinen Tod zu warten.
Wir waren diesen Schritt gegangen, weil wir wussten, dass Jai und
die Kinder dort sein mussten, wo ihnen ihre Familie helfen und sie
auffangen würde, wenn ich gegangen sein würde.
Außerdem wollte ich das Publikum wissen lassen,
dass ich auch deshalb gut aussah und mich okay fühlte, weil sich
mein Körper von der zehrenden Chemotherapie und den Bestrahlungen,
die meine Ärzte mir verabreicht hatten, zu erholen begann.
Mittlerweile bekam ich eine palliative Chemo, die leichter zu
ertragen ist. »Im Moment bin ich in einem unglaublich guten
Zustand«, erklärte ich. »Ich meine, dass ich wirklich in so guter
Verfassung bin, ist gewiss der größte Fall von kognitiver
Dissonanz, dem ihr je begegnen werdet. Tatsächlich dürfte ich sogar
in besserer Verfassung sein als die meisten von euch.«
Ich machte ein paar Schritte zur Seite. Wenige
Stunden zuvor war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich die Kraft zu
dem Stunt haben würde, den ich nun vorhatte. Aber jetzt fühlte ich
mich mutig und stark, schmiss mich auf den Boden und begann,
Liegestützen zu machen.
Aus dem Publikum kamen Gelächter und
überraschter Applaus. Es war fast wie ein kollektives Aufatmen - es
war gar nicht so schlimm wie befürchtet. Da stand nicht einfach
irgendein Sterbender. Da stand einfach ich. Jetzt konnte ich
anfangen.