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Mein
Leben in einem Laptop
Wie katalogisiert man seine Kindheitsträume? Und
wie bekommt man andere dazu, sich erneut mit ihren eigenen Träumen
zu vernetzen? Für mich, den Wissenschaftler, waren das nicht gerade
die Fragen, mit denen ich üblicherweise zu kämpfen hatte.
Vier Tage lang saß ich in unserem neuen Haus in
Virginia an meinem Computer und scannte Dias und Fotos für meine
PowerPoint-Präsentation ein. Ich war schon immer ein
visualisierender Denker gewesen, deshalb war mir klar, dass es
keine Textversion, kein Skript meiner Rede geben würde. Dafür trug
ich dreihundert Bilder meiner Familie, Studenten und Kollegen
zusammen, neben Dutzenden von ausgefallenen Illustrationen, die
etwas über Kindheitsträume aussagen konnten. Manchen Bildern fügte
ich ein paar Worte hinzu - kleine Hinweise, Sprüche, die eigentlich
nur mich selbst am Rednerpult erinnern sollten, was ich jeweils
dazu sagen wollte.
Während ich an der Vorlesung arbeitete, stand
ich etwa alle anderthalb Stunden auf, um mich mit den Kindern zu
beschäftigen. Jai sah, dass ich mich bemühte, weiterhin am
Familienleben teilzunehmen, fand aber immer noch, dass ich viel zu
viel Zeit mit der Vorbereitung verbrachte, vor allem, da wir gerade
erst in das neue Haus eingezogen waren
und sie natürlich wollte, dass ich mich über die Kisten hermachte,
die sich im ganzen Haus stapelten.
Zuerst hatte Jai nicht vorgehabt, sich die Rede
anzuhören. Sie fand, dass sie bei den Kindern in Virginia bleiben
und sich lieber um die Dutzende Dinge kümmern sollte, die nach
unserem Unzug erledigt werden mussten. Aber ich blieb stur: »Ich
will dich dort haben.« In Wahrheit brauchte ich sie dringendst an
meiner Seite. Also willigte sie schließlich ein, am Morgen des
Vorlesungstages nach Pittsburgh zu fliegen.
Ich musste wie gesagt schon einen Tag früher
dort sein. Am 17. September, Jais einundvierzigstem Geburtstag, um
halb zwei mittags, küsste ich sie und die Kinder zum Abschied und
fuhr zum Flughafen. Jais Geburtstag hatten wir am Vortag mit einer
kleinen Party im Haus ihres Bruders gefeiert. Trotzdem wurde sie
durch meine Abreise schmerzlich daran erinnert, dass sie diesen und
alle kommenden Geburtstage ohne mich verbringen würde.
Ich landete in Pittsburgh und wurde von meinem
Freund Steve Seabolt, der eigens aus San Francisco hergeflogen war,
am Flughafen erwartet. Unsere Freundschaft reicht Jahre zurück, in
die Zeit eines Sabbatjahrs, das ich bei Electronic Arts verbracht
hatte, einem Hersteller von Videospielen, bei dem Steve im Vorstand
sitzt. Wir waren wie Brüder geworden.
Steve und ich umarmten uns, nahmen uns einen
Mietwagen und fuhren los. Mal brach er, mal ich in Galgenhumor aus.
Steve erzählte, dass er gerade beim Zahnarzt gewesen sei, und ich
grinste, dass ich nicht mehr zum Zahnarzt zu gehen bräuchte.
Wir hielten an einem Imbiss. Ich stellte meinen
Laptop auf den Tisch, scrollte schnell durch die Fotos, die ich
mittlerweile auf zweihundertachtzig reduziert hatte, und Steve
sagte: »Das sind immer noch viel zu viele. Bis du mit der
Präsentation fertig bist, sind alle tot.«
Als die Kellnerin an unseren Tisch kam, eine
Schwangere um die dreißig mit spülwasserblondem Haar, war gerade
ein Foto meiner Kinder auf dem Bildschirm. »Niedliche Kids«, sagte
sie und fragte nach ihren Namen. Ich erklärte: »Das ist Dylan,
Logan, Chloe …« Sie erzählte, dass auch ihre Tochter Chloe hieß,
und wir lächelten über diesen Zufall. Steve und ich wandten uns
erneut dem PowerPoint zu, und er half mir, mich wieder zu
konzentrieren.
Als die Kellnerin das Essen brachte, gratulierte
ich ihr zu ihrer Schwangerschaft: »Sie müssen überglücklich
sein.«
»Nicht wirklich«, erwiderte sie, »es war ein
Unfall.«
Als sie ging, war ich fassungslos über so viel
Offenheit. Doch diese beiläufige Bemerkung erinnerte mich an die
vielen Zufälle, die nicht nur für unsere Ankunft im Leben, sondern
auch bei unserem Abschied vom Leben eine Rolle spielen. Hier war
eine Frau, die die Frucht eines Zufalls in die Welt setzen und
dieses Kind gewiss lieben würde. Ich sollte durch eine zufällige
Krebserkrankung drei Kinder hinterlassen, die ohne meine Liebe
aufwachsen würden.
Als ich eine Stunde später allein in meinem
Hotelzimmer saß und weitere Bilder für meine Rede aus- und
umsortierte, geisterten mir meine Kinder noch immer im Kopf herum.
Der Wireless-Anschluss brach ständig zusammen, was mich schrecklich
nervte, weil ich gerade wieder einmal dabei war, das Internet nach
Bildern zu durchkämmen. Dass ich plötzlich die Auswirkungen der
Chemotherapie zu spüren begann, die ich Tage zuvor über mich hatte
ergehen lassen, machte die Lage auch nicht rosiger. Ich bekam
Krämpfe, Durchfall, mir wurde übel.
Ich arbeitete bis Mitternacht, schlief ein und
wachte um fünf Uhr morgens in heller Panik wieder auf. Ein Teil von
mir bezweifelte, dass meine Vorlesung überhaupt gut gehen konnte.
»Was erwartest du, wenn du deine ganze Lebensgeschichte in einer
Stunde erzählen willst?«
Ich bastelte weiter herum, überdachte das eine
und strukturierte das andere neu. Um elf Uhr hatte ich das Gefühl,
den Rahmen meiner Geschichte wesentlich verbessert zu haben.
Vielleicht würde es ja doch funktionieren. Ich ging unter die
Dusche und zog mich an. Jai traf vom Flughafen ein und gesellte
sich beim Mittagessen zu Steve und mir. Wir hatten ein ernstes
Gespräch: Steve schwor, sich um Jai und die Kinder zu
kümmern.
Um halb zwei nachmittags wurde das Computer Lab
auf dem Campus, in dem ich einen Großteil meines Lebens verbracht
hatte, auf meinen Namen getauft. Ich sah zu, wie das Schild über
der Tür enthüllt wurde. Um Viertel nach zwei war ich in meinem Büro
und fühlte mich schrecklich - vollkommen erschöpft und krank von
der Chemo fragte ich mich, ob ich wirklich die Erwachsenenwindel,
die ich als Vorsichtsmaßnahme mitgenommen hatte, umlegen müsste,
bevor ich den Hörsaal betrat.
Steve riet mir, mich eine Weile auf der Couch in
meinem Büro auszuruhen, und das tat ich. Aber ich legte den Laptop
auf meinen Bauch, damit ich weiter herumfummeln konnte. Ich
sortierte weitere sechzig Bilder aus.
Um halb vier standen bereits die Ersten vor dem
Hörsaal an. Um vier quälte ich mich von der Couch hoch, kramte mein
Zeug zusammen und bereitete mich innerlich auf den Weg über den
Campus vor. In knapp einer Stunde musste ich unten im Halbrund vor
den ansteigenden Sitzreihen stehen.