Epilog..

Zofia fuhr noch einmal nach Weißrußland zurück. Es war Juni, der hohe blaue Juni der Kresy. Der Himmel war wolkenlos, die Luft ein einziges Insektengesumm. Vogelgezwitscher erfüllte die Wälder. In den Heuwiesen schwangen Reihen von Mähern ihre Sensen mit dem Eifer jener, die wissen, daß gute Tage genauso Mangelware sind wie alles andere.

Seit unserer ersten Reise waren zwei Jahre vergangen. Weißrußland war noch tiefer in seinem speziellen Loch postsowjetischer Lethargie versunken. Für den kleinsten Einkauf brauchte man mehrere Handvoll Banknoten; die Städte verrotteten. Ungleichheiten hatten zugenommen, Feindschaften sich verschärft. Ein Gefühl von Stillstand war allgegenwärtig; nur der Wald schien noch am Leben.

In Cornwall hatte Zofia in der Zwischenzeit Geld gesammelt. Sie hatte bei der National Westminster Bank in Truro ein Konto unter dem simplen Stichwort »Kapelle« eröffnet. Auf dieses Konto flossen Gelder für die eine Sache, die sie als Brückenschlag zwischen ihren beiden Welten empfand und durch die sie die Schuld gegenüber ihrer im Stich gelassenen Vergangenheit würde abtragen können: die Restaurierung der Familienkapelle und der geplünderten Gräber ihrer Ahnen. Hausgäste, Freunde, Familienangehörige hatten ihr Scherflein beigetragen; sogar ihr Zahnarzt hatte zugunsten des Vorhabens auf seine Kosten verzichtet, als er hörte, daß man Tote ausgegraben hatte, nur um ihnen die Goldzähne herauszureißen.

Im April hatte der Priester aus Nowogródek über eine knackende Telefonverbindung mitgeteilt, die Arbeiten an der Kapelle seien fast abgeschlossen. Die Einweihungsfeier solle am 29. Juni sein.

»Phiilip«, grübelte Zofia, als wir die weißrussische Grenze überquerten, »und wenn wir nun ankommen und sie sind nicht fertig? Und wenn noch kein Dach drauf ist? Was tun wir dann?«

»Es wird alles fertig sein«, beruhigte ich sie – obwohl ich selbst alles andere als sicher war. Ich schenkte uns zwei große Wodka aus unserer Reiseflasche ein. »Zur Feier des Grenzübertritts«, sagte ich. »Erinnerst du dich?«

Vater Antoni Dziemianko, der polnische katholische Geistliche von Nowogródek, war ein Mann, der im Verscheuchen von Zweifeln Übung hatte. Ich erinnerte mich gut an ihn. Ich erinnerte mich an seine schulmeisterlichen Liturgien, an seine teakholzfarbene Haut, sein großflächiges Gesicht, seine Aufgeschlossenheit und seinen Weitblick. Während der schlimmen Zeit hatte er ein paar Jahre als Untergrundpriester gewirkt, war aber nun am rechten Platz. In dieser verschlafenen Stadt hatte er als einziger die nötige Energie; er als einziger schaffte es, daß Dinge angegangen wurden.

Am Abend des Tages – die letzte Rate für den Kapellenfonds hatte ich in geschmuggelten Dollars in einer meiner Taschen dabei – klopften wir an seine Tür. Er tippte gerade eine Predigt auf einer alten sowjetischen Schreibmaschine. Seine Ärmel waren bis zum Ellbogen aufgerollt. »Pani Zofia! Pan Philip! Proszę

Wir setzten uns.

»Also, für Mittwoch ist alles bereit. Ein Bus fährt um zwei Uhr von hier ab. Das Dorf schlachtet ein Kalb, und der Bischof aus Grodno kommt.«

»O mein Gott!« rief Zofia aus. »Ein Bischof!«

Vater Antoni erhob sich und schloß beide Türen, setzte sich dann an seinen Schreibtisch, sperrte eine Schublade auf und zog ein kleines Holzkästchen heraus. Darin lagen ein goldener Ehering und ein ovales Medaillon. Hinter dem verschmutzten Glas des Medaillons steckte ein winziges dunkles Haarbüschel.

»Das haben die Bauarbeiter in der Nähe der Gräber gefunden.«

Ich nahm den Ring und versuchte mit zusammengekniffenen Augen die Gravur auf der Innenseite zu entziffern: HB 4 VII 1842. »Wer könnte das sein, Zosia?«

»Ich bin nicht sicher. Irgendein Broński vermutlich . . .«

Wir überreichten die Dollar und nahmen das Holzkästchen samt Inhalt an uns. Vater Antoni brachte uns an die Tür. Im Weggehen wandte Zofia sich um. »Ach, noch eins, Vater Antoni. Meinen Sie, Sie könnten die Leute im Dorf bitten, das arme Kalb zu verschonen?«

Draußen dämmerte es inzwischen. Die Ruine des Nowogródeker Schlosses erhob sich gleich einem Schiffswrack auf dem gegenüberliegenden Hügel.

»Ich kann einfach nicht verstehen«, sagte Zofia, »wieso die Plünderer die beiden Dinge übersehen haben. Ein Ehering – wäre das nicht das erste, wonach sie suchen würden?«

»Vielleicht haben ihn gar nicht die Bauarbeiter gefunden.«

»Wie meinst du das?«

»Vielleicht hatte jemand im Dorf ein schlechtes Gewissen.«

 

Als Einweihungsdatum hatte man einen kirchlichen Festtag gewählt, den Tag der Heiligen Peter und Paul. Schon mittags war es sehr heiß. Eine zaghafte Brise zauste den Waldrand. Zofia und ich kamen frühzeitig bei der Kapelle an; sie sollte den Bischof bei seiner Ankunft begrüßen und ihm die Schlüssel überreichen. Als wir den Weg hinaufgingen, legte eine Nonne gerade noch einen Halbkreis aus blauen Lupinen um die Kapellentür.

Doch die Tür war mit einem Vorhängeschloß versperrt. Ein Mann eilte ins Dorf, um die Schlüssel zu holen, und kehrte außer Atem zurück. Er schüttelte den Kopf. »Kein Schlüssel da!« Und er machte sich daran, das Schloß gewaltsam zu öffnen, mit einem Brecheisen.

»Jetzt weißt du«, flüsterte ich Zofia zu, »was du dem Bischof überreichen mußt – ein Brecheisen!«

Die Restaurierung jedoch war großartig. Außen trugen vier kräftige Säulen einen Holzgiebel, den ein schlichtes schwarzes Kreuz krönte. Eine der Außenmauern war von Grund auf neu errichtet worden – aber so sauber ausgeführt, daß kaum zu erkennen war, welche. Säulen und Mauern waren frisch gekalkt, so grell, daß Zofia in ihre Handtasche greifen und die Sonnenbrille herausfischen mußte.

Im Innern der Kapelle roch es nach frischer Farbe. Wir waren es gewohnt, in Weißrußland nur kaputte Gebäude zu sehen, und so war es ganz eigenartig, das Ergebnis jüngster Bautätigkeit vor Augen zu haben. Der Innenraum war klar und bescheiden. Er war nicht länger als zwölf Meter. Parkettboden erstreckte sich bis zu dem einfachen Altar. Um den Altar und entlang der Wände standen Krüge mit Lilien und Pfingstrosen. Die Decke war aus gebeizten Lärchenbrettern, die von dem Baum stammten, der neben den Trümmern der Ruine gestanden und uns zwei Jahre zuvor zu der Stelle geführt hatte.

In eine Mauer hatte man eine Granittafel eingelassen und aus ihr die Inschrift herausgemeißelt: Adam Broński 1890  1934. Zofia legte ihre Tasche auf einen Stuhl und stellte sich vor die Tafel. Sie blieb mehrere Minuten dort stehen.

Sechzig Jahre. Sechzig Jahre, seit man den Sarg ihres Vaters in diese Kapelle getragen hatte. Sechzig Jahre, seit der pferdebespannte Trauerzug von Mantuski durch den Wald hierher gerollt war. Sechzig Jahre. Sechzig Jahre, in denen alles, was sie für fest und beständig gehalten hatte, nach und nach dahingeschwunden war, genauso wie alle Menschen, die sie geliebt hatte. An dieser Stelle hatte die Kette der Verluste ihren Anfang genommen.

Wir gingen hinaus. Von der blanken Erde rund um die Kapelle stieg Hitze auf. Zofia setzte sich in den Schatten einer der Säulen. Gruppen von Dorfbewohnern kamen den Hügel herauf. Sie hatten Bündel von Blumen dabei. Sie schwatzten in Grüppchen, spähten zur neuen Eleganz des Gebäudes hinüber, zur alten Eleganz von Zofia. Langsam und bedächtig schlurften sie näher zu ihr, beäugten ihre Kleidung, ihre Schuhe, ihre Sonnenbrille.

Proszę Pani, erzählen Sie uns, wo ist Ihr Zuhause? Ist das Ihr Sohn? Erzählen Sie uns bitte, wo ist Ihre restliche Familie? Was ist aus ihnen allen geworden?

Kanada, Anglia, Francja, Australia . . .

Wann kommen sie zurück? Proszę Pani, warum sind sie nicht hier?

Es ist weit weg. Zu weit, und viele sind arm. (Wie sollte sie erklären, wie schwierig es war zurückzukommen, wie schwierig, dem, was geschehen war, ins Auge zu sehen?)

Aber sie werden kommen, proszę Pani, nicht wahr? Bitte sagen Sie ihnen, sie sollen kommen . . .

Der Bischof von Grodno erschien wenige Minuten vor drei. Sein deutscher Wagen kam quietschend zum Stehen. Die Menge teilte sich, um ihn durchzulassen, und er lächelte ein Bischofslächeln und teilte Plastikrosenkränze an die Kinder aus. Er betrat die Kapelle, beugte das Knie, begab sich zu seinem Sitz neben dem Altar und setzte sein Birett auf. Eine Übergabe der Schlüssel fand nicht statt.

Sechs Geistliche folgten dem Bischof. Ihre Requisitenkoffer – mit Mitra und Bischofsstab, Soutanen zu diversen liturgischen Anlässen, all dem gestärkten und glitzernden Zubehör der Hostie – nahmen einen beträchtlichen Teil des Innenraums ein. Die Leute zwängten sich in die Kapelle, verstopften den Eingang; und diejenigen, die nicht mehr hineinpaßten – die Mehrzahl –, standen draußen.

Der Gottesdienst selbst war eine konventionelle Messe mit anschließender feierlicher erneuter Weihe. Diese erforderte eine Reihe von Gebeten und daß der Bischof die Kapelle gemessenen Schritts umrundete und dabei mit dem Aspergill Weihwasser versprengte.

Nach der Messe stand Zofia auf, um eine Rede zu halten. Sie räusperte sich und blickte auf die Gesichter vor ihr.

»Diese Kapelle«, begann sie, »birgt Erinnerungen an meine Familie, die Brońskis. Einst haben sie alle hier gelebt und diese Kapelle aufgesucht – zur Messe, zu ihren Taufen und Hochzeiten und zu ihren Beerdigungen. Ich erinnere mich an die Trauerfeier für meinen Vater hier vor sechzig Jahren – einige von Ihnen haben mir erzählt, daß auch Sie damals hier waren. Das bedeutet mir außerordentlich viel. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«

Die Menschenmenge draußen drängte nach, um besser zu hören; es gab vereinzelte Rempeleien im überfüllten Gang.

Sie hob den Kopf, bevor sie fortfuhr. »Wie Sie hat mein Vater sein Leben lang hier gelebt, auf diesem Boden, diesem Land. Er liebte dies Land mehr als alles andere. Er hat sein Leben damit verbracht, es zu bearbeiten oder – wenn er es nicht bearbeitete, wie im ersten Krieg – dafür zu kämpfen. Er liebte die Menschen und die Wälder, und zur Erinnerung an ihn ist diese Kapelle wiederhergerichtet worden.

Eines jedoch möchte ich ganz klar sagen. Seit über einem halben Jahrhundert lebt hier kein Broński mehr. Einst war dies unser Zuhause, heute ist es das nicht mehr. Die Familie ist über die ganze Welt verstreut, und das Leben, das wir kannten, gibt es nicht mehr. Nicht für uns ist diese Kapelle wiederaufgebaut worden, nicht für meine Familie, sondern für Sie, für Sie alle – Weißrussen und Polen, Orthodoxe und Katholiken. Sie müssen sich darum kümmern wie um Ihr eigenes Haus. Sie müssen sie aufsuchen. Kommen Sie zum Beten hierher, sooft Sie wollen, sooft Sie können – auch wenn kein Geistlicher da ist, um einen Gottesdienst abzuhalten; Sie müssen den Rosenkranz beten und im Frühjahr den Wald um das Gebäude zurückschneiden.

Und seien Sie gewarnt.« Sie lächelte. »Sollte die Kapelle wieder verfallen, wird es mein Geist sein, der zurückkehrt und Sie heimsucht!«

 

Am nächsten Tag stand Zofia spät auf. Wir wohnten bei einer polnischen Familie, im vierten Stock eines baufälligen Wohnblocks in Nowogródek – zu sechst in drei Zimmern.

»Dzień dobry, Phiilip«, sagte sie, »ich fühle mich ausgeruht.«

»Dzień dobry, Zosia.« Ich küßte ihre Wange.

Sie setzte sich an den kleinen Tisch in der Küche. »Oh, ich kann dir gar nicht sagen, wie unendlich erleichtert ich bin!«

Sie hatte durch nichts verraten, wie sehr sie sich vor dem Ganzen gefürchtet hatte – vor der Feier, vor der Rede –, welche Angst sie gehabt hatte, ihr Polnisch oder ihre Beine würden sie im Stich lassen, oder daß niemand kommen würde oder daß diejenigen, die kämen, ihr feindselig gesinnt wären.

»Und trotzdem, Phiilip«, sagte sie, »trotzdem meine ich, daß dies einer der besten Tage in meinem Leben war. Klingt das lächerlich?«

»Nein, Zosia, überhaupt nicht.«

 

Bevor wir Weißrußland verließen, blieb noch eines zu tun. Wir fuhren nach Mantuski.

Pani Wala Dobrałowicza, Zofias und Helenas einstige Schneiderin, fütterte gerade ihre Zwerghühner, als wir ankamen, sie streute ihnen Körner auf einen Streifen nackten Bodens vor ihrem Häuschen. Die Zwerghühner kreischten zu ihren Füßen. Hinter ihrem Gemüsegarten stand eine einzelne Birke; ihre silbrigen Blätter zitterten im Wind. Hinter der Birke floß der Njemen.

Als Pani Wala uns erblickte, ließ sie den Topf mit den Körnern zu Boden poltern. »O mein Gott!« rief sie, kam her und umarmte uns beide so fest, als müßte sie verhindern, daß wir auseinanderfielen.

Von allen Menschen, denen ich in den alten Kresy begegnet bin, den Polen und Weißrussen, den Litauern und Russen, den Priestern und Nonnen, hat niemand einen solchen Eindruck bei mir hinterlassen wie Pani Wala. Sie hatte Augen vom dunkelsten Kornblumenblau und eine unverfälschte und kraftvolle Präsenz. Aber ihre Sprache ist es, woran ich mich am besten erinnere.

Wenn sie redete, war in ihrem Gesicht eine Flut von Gefühlen zu ahnen, die bisweilen überflossen, so daß ihre Augen sich mit Tränen füllten und ihre Mundwinkel zu zucken begannen. Ihr Redefluß war wie strömende Musik. Wenn sie innehielt, lachte sie. Der jähe Wechsel hatte etwas Wunderbares; sie war die einzige Person, der ich je begegnet bin, die ihre eigene Stimmung überhaupt nicht wahrzunehmen schien.

Wir folgten ihr in die Hütte und nahmen Platz, während sie kopfschüttelnd und vor sich hin murmelnd geschäftig herumhantierte, bevor sie sich zu uns setzte.

»Nur noch ein bißchen länger«, sagte sie seufzend und sah zu dem Hochzeitsbild an der Wand hinauf, »nur noch ein kleines bißchen, und Gott wird mich mit meinem Kazik wieder vereinen.«

Ihr Kazik war vor zwei Jahren gestorben. In den Jahren vor dem Krieg war er Obergärtner in Mantuski gewesen. Er war es gewesen, der die Rosen gepflegt, das Geißblatt gezogen und mit Helena jedes Frühjahr die Pflanzpläne entworfen hatte.

Wir aßen zu Mittag. Pani Wala legte ein sauberes weißes Tischtuch auf; darauf stellte sie Teller mit Kartoffeln, kiełbasa und Hering. Zofia gab ihr die Geschenke: ein Paar Schuhe und zwei Pullover von Marks & Spencer.

Eine Wodkaflasche tauchte auf. Normalerweise, erklärte Pani Wala, trinke sie nie. »Aber auf Ihr Kommen trinke ich, Pani Zofia! Bis ich umfalle! Ich werde trinken, trinken, trinken – dreimal trinken, bis ich von nichts mehr weiß! Ich will auf Sie trinken, Pani Zofia; und auf Sie, Pan Phiilip – trinken wie eine Engländerin!«

Und wir tranken kräftig und redeten und aßen und tranken wieder und schliefen uns in der drückenden Nachmittagshitze aus – die beiden Witwen auf Betten hinter einem Wandschirm, ich auf einem alten Sofa neben dem Herd. Es war beinahe vier, als ich aufstand und auf Zehenspitzen aus dem Haus schlich.

Ich wanderte am Fluß entlang. Seine Wirbel glitten kreiselnd an mir vorbei. Der Wind zerrte am hohen Ufergras. Flußabwärts in der Nähe des dwór war die Ruine der Ziegelei. Der Schornstein stand noch, derselbe Schornstein, der in Zofias Tagen dort gestanden hatte, derselbe Schornstein, der die Trümmer überragt hatte, als Helena 1920 hierherkam. Zu seinen Füßen hatte man ein paar Baracken aus Hartfaserplatten errichtet, in denen Zeichen der neuen Zeit erkennbar waren, der Ära von »bisnis« und Kiosken: Dorfmädchen füllten Flaschen ab, die Etiketten trugen wie Tutti Frutti Shampoo oder Fleur Raspberry Bath Essence.

Ich setzte meinen Weg fort. In der Nähe des alten Herrenhauses, in der Auffahrtsallee, war im Jahr zuvor eine der Linden umgefallen. Die Lärche beherrschte noch immer den Horizont, auch wenn ein oder zwei Äste alterskahl waren. Auf dem Erdhügel – mehr war vom Haus nicht übrig – sah man im Boden immer noch Ziegelscherben.

 

Wir verbrachten die Nacht in Pani Walas Haus. Zofia trug einen weißen Satinpyjama. Ich konnte die beiden Frauen bis tief in die Nacht hinein hinter ihrem Wandschirm reden hören.

Am Morgen ging ich kurz nach Tagesanbruch hinaus und setzte mich unter Pani Walas Birke. Kurz danach trat Zofia, ihren rotseidenen Morgenrock mit einer Kordel zubindend, vor die Tür. Sie ging in den Gemüsegarten. Dort stand sie und beobachtete den Njemen, beobachtete, wie der Flußnebel sich lichtete. Um sie herum wuchsen wadenhohes Kartoffelkraut, Kohl, Petersilienstengel, Zwiebeln.

Minutenlang rührte sich nichts. Dann ertönte aus den Kiefern das Gezeter der Saatkrähen. Zofia hob den Kopf und lauschte. Es war der gleiche Laut, der ihre Tage in Cornwall in Gang setzte, wo er aus den hohen Kastanien von Braganza erscholl.

Sie griff sich mit einer Hand flüchtig an den Hals. Eine Weile blieb sie dort stehen, ganz still, während ihr Morgenrock wie eine Brautschleppe über Pani Walas sprießenden Zwiebeln lag.

 

Wir verließen Weißrußland, wie wir gekommen waren, in einem ramponierten alten Bus. Das Fahrgestell des Busses war verzogen; ein strahlenkranzförmiger Sprung überzog die Windschutzscheibe. Der Fahrer zuckte die Achseln. »Perestroika«, sagte er.

Der Bus war gechartert worden, um eine Gruppe von Schulkindern zu einem Ferienaufenthalt nach Polen zu bringen. Die Eltern hatten Berge von Taschen und Beuteln voll alter Kleidung und Hausrat im Bus verstaut, die die Kinder in Warschau verkaufen sollten, um Geld für Eis und Süßigkeiten zu haben. Angesichts all der Taschen kamen wir uns wie Flüchtlinge vor.

Wir saßen ganz hinten inmitten des Flüchtlingsgepäcks. Zofia lehnte sich dagegen und sagte: »Was meinst du, Phiilip, komme ich jemals wieder hierher?«

»Nein.«

Sie schaute aus dem Fenster, sah die Gebäude von Nowogródek zurückbleiben und Feldern und Wald Platz machen. Die Sonne stand tief. »Nein, ich glaube, du hast recht.«

Dann reckte sie ihr Kinn vor und lächelte ihr unbekümmertes Beinahelächeln. »Aber wenn ich uralt bin, komme ich vielleicht mit dem Auto hierher und wohne in einer kleinen Hütte in Mantuski und sterbe dort ganz allein!«

Als der Abend dämmerte, erreichten wir die Grenze. Eine endlose Schlange stehender Busse zog sich die Straße entlang gleich der Wirbelsäule eines versteinerten Reptils.

Es hatte an der Grenze einen Zwischenfall gegeben, einen alltäglichen kleinen Zwischenfall. Nach sieben Stunden Warten, sieben Stunden Vorrücken im Schneckentempo, Ausfüllen von Formularen und Passieren von Kontrollpunkten hatten wir die weißrussische Seite hinter uns. Mittlerweile war es weit nach Mitternacht. Am anderen Ende des Niemandslands stieg ein polnischer Grenzer zu. Er unterschied sich stark von seinem weißrussischen Gegenstück. Mit den hohen Ulanenstiefeln, der gesunden Bräune und den blauen Heldenaugen war er so forsch und fesch wie das wiedererstehende Polen. Er schritt den Gang ab, zählte die schlafenden Kinderköpfe, verlangte die Papiere des Fahrers, tippte mit einem Bleistift dagegen und sagte, nein, Sie müssen nach Weißrußland zurück, in die Stadt, aus der Sie gekommen sind.

Zofia erzählte mir später, sie habe rot gesehen; sie fühlte ihr Blut kochen – es war der Blick, den er »dem armen weißrussischen Fahrer« zuwarf. Sie humpelte den Gang entlang, und noch bevor sie den Grenzer erreichte, schrie sie ihn an: »Wie können Sie es wagen! Sehen Sie nicht, daß das bloß Kinder sind? Wirklich, ich muß mich Ihretwegen schämen. Ihretwegen schäme ich mich, Polin zu sein!«

Ich sagte ihr, sie solle still sein. Pragmatismus hatte mich an Grenzen zwei Dinge gelehrt: »nein« heißt nicht immer »nein«, und: nie die Beherrschung verlieren, nie über Prinzipielles streiten.

Doch galt das immer und überall? Wozu war Pragmatismus nütze gewesen an jener anderen Grenze, fünfundfünfzig Jahre zuvor, als ihr die russischen Kugeln um den Kopf pfiffen, die Welt verrückt geworden war und Polen ihr zu Füßen starb?

Der polnische Grenzer verließ den Bus. Die Papiere nahm er mit. Schließlich und endlich ließ er uns doch durch. Vielleicht hatten wir beide recht.

 

Jenseits der Grenze wartete eine andere Autoschlange. Sie wurde von unseren Scheinwerfern kurz angeleuchtet. Wir passierten das Ende der Schlange und fuhren weiter in die Nacht hinein. Jedermann im Bus machte es sich zum Schlafen bequem. Der Fahrer zündete sich eine Zigarette an; bald war das einzige Geräusch das Brummen des Motors. Die Birkenreihen glitten in der Dunkelheit am Fenster vorüber.

Auf der Rückbank, gegen Flüchtlingstaschen gelehnt, die Beine auf den kaputten Sitzen ausgestreckt, lag Zofia. Ihre Augen waren geschlossen, und sie atmete gleichmäßig; um sich warm zu halten, hatte sie ihre Arme fest um sich geschlungen. Über ihr stand ein Fenster offen, eine nächtliche Brise wehte herein, ließ den Vorhang flattern und zupfte an dem grauen Haarbüschel, das ihr ins Gesicht hing.