7.

Die Wochen in Weißrußland gingen schnell vorbei. Sie hatten leuchtende Farben und eine seltsame Intensität und Dichte. In jeder Begegnung, jeder Geschichte schien die Ereignisfülle eines ganzen Lebens enthalten zu sein. Wenn Zofia unterwegs aus dem Autofenster sah, schüttelte sie oft den Kopf und sagte: »Ich kann es nicht glauben, Phiilip, ich kann es wirklich kaum glauben, daß ich hier bin.«

Wir richteten es so ein, daß wir vor der Rückkehr nach Minsk noch einen Nachmittag in Mantuski verbringen konnten. Es war ein heißer Tag. Wir wanderten zum Philosophenwinkel hinunter und setzten uns in den Schatten der Birken. Zu unseren Füßen floß träge der Njemen dahin. Wir machten unsere Flasche Reisewodka auf, tranken und redeten von verschiedenen Dingen. Dann döste ich ein und entdeckte beim Aufwachen, daß Zofia ein Sonett geschrieben hatte. Ich bat sie, es mir zu übersetzen.

Sie räusperte sich. »›Ich sitze am Njemen und schaue‹ – nein – ›starre – auf die Boote . . . Krähensprößlinge schwatzen hinter mir . . . dieselben Wälder, dieselben Wiesen . . . Jahrzehnte sind vergangen . . . und nun diese wortlose Verzauberung – dieser Verlust, diese Trauer, diese Überraschung –‹«

Sie blickte kurz von dem Blatt auf. »Nein . . . ›zdumienie‹. Das ist stärker als Überraschung . . . ›Staunen‹.« Sie las weiter: »›. . . was ist aus jenem Wasser geworden, was aus jener Zeit . . . hohe Wasserfluten – zauberisch – mit sich beschäftigt – die meine Sterne und meine Fische kitzeln. Ich eile weiter zum Meer, wie es mein Los ist.‹«

Sie schaute auf den Fluß. »Es ist merkwürdig. Hier scheine ich nur in diesen Verlustformeln schreiben zu können. Und nur auf polnisch.«

Am frühen Abend kamen unsere Freunde, der Doktor aus Iwje mit seiner Familie, zu einem Picknick herüber. Wir fuhren durch den Wald und gelangten weiter flußaufwärts aus den Bäumen heraus. In den Flußniederungen am anderen Ufer weidete verstreut Kolchosenvieh. Die Frau des Doktors lud die Eßsachen aus; wir übrigen gingen in den Wald, um Holz zu sammeln.

Der Doktor war in bester Laune. »In Ihrem Land können Sie das nicht tun. Sie können nicht einfach in den Wald gehen und sich Holz holen! Alles gehört jemandem, hab ich nicht recht? Aber hier haben wir Sozialismus! Wem gehört schließlich dieser Wald?«

Ich blinzelte Zofia zu. »Dir!«

Bis das Feuer heiß genug war zum Kartoffelkochen, dämmerte es schon. Der Rauch stieg in der unbewegten Luft auf und verflocht sich mit dem Waldsaum. Die Frau des Doktors wickelte einen Njemenhecht aus einer Zeitung; der Doktor biß den Plastikverschluß einer Wodkaflasche ab und spuckte ihn aus. Die Kolchosenkühe wurden aus den Niederungen weggetrieben, auf trockeneres Weideland. Der Fluß drängte weiter, gen Westen.

Ein wenig später, nach viel Hecht und Kartoffeln und reichlich Wodka, verließen Zofia und ich die anderen und wanderten am Fluß entlang. Der Mond stand rot und zwiebelförmig über dem Wald. Das gedämpfte Quarren einer Waldschnepfe tönte aus den Bäumen; der einzige andere Laut war das ferne Geplauder am Feuer.

Zofia blieb stehen und ließ ihren Blick über die Flußufer schweifen. »Fünfzig Jahre habe ich mich abgemüht, mir dies hier lebendig zu erhalten . . .«

Unser Herumreisen hatte ihre grauen Locken zerzaust; ihre Augen, traurig wie immer unter den schweren Lidern, blickten ruhig. »Jetzt kommt mir alles wieder.« Sie lächelte. »Ich erinnere mich an die Geräusche, die das Eis im Winter auf dem Fluß machte – es knallte wie Gewehrschüsse. Und zu dieser Stelle bin ich immer geritten. An einen Tag erinnere ich mich besonders. Ich war ungefähr vierzehn und hatte ein Pony, das Delilah hieß. Da drüben habe ich es angebunden. Keine Menschenseele weit und breit, also habe ich alles ausgezogen und bin im Fluß geschwommen. Das war natürlich verboten! Aber meine Mutter war nicht da, und ich weiß noch, wie ich damals, hier am Fluß, gedacht habe, daß nun auf einmal alles möglich sei.«

Sie hielt inne. »Wie sonderbar das ist, jener Tag erscheint mir jetzt wie der Anfang der Welt.«

 

Wir kehrten nach Minsk zurück. An unserem letzten Abend, dem letzten Abend in Weißrußland, waren wir zu einem »Dichterabend« im Literaturhaus, dem Dom Literatury, eingeladen.

»Was meinst du, Phiilip, was das sein kann, ein ›Dichterabend‹?«

»Keine Ahnung, Zosia.«

Wir versammelten uns mit zwanzig oder dreißig anderen in einem Raum im Obergeschoß. Nach einer Reihe von Lesungen, einem Lied, weiteren Lesungen, weiteren Liedern kamen die Reden. Jeder hielt eine Rede – Reden auf Dichter, Reden von Dichtern, Reden auf das Weinkeltern, auf die Lyrik, auf die neue Ära der Unabhängigkeit, auf Weißrußland. Ich wurde gebeten, eine Rede zu halten, und sprach über den Nationalismus und seine Gefahren, über das Risiko, daß sich neue Bruchlinien in Europa herausbilden könnten – bis ich merkte, daß keiner ein Wort Englisch verstand. Zofia hatte mit ihrem Polnisch etwas mehr Glück.

»Ich bin eine Polin«, verkündete sie, »die ihr Land verließ, als die Russen 1939 einmarschierten, und ich bin jetzt zurückgekommen, um zu sehen, was geschehen ist. Meine Mutter hat 1918 eine Weile in Minsk gelebt, und auch sie ist geflohen. Sie war in Minsk in jemanden verliebt, doch die Bolschewiken kamen und vertrieben sie. Und nun, wo sie fort sind, habe ich zurückkehren können. Vielleicht sollten wir darauf trinken!« Sie hob ihr Glas, und unter beifälligem Nicken folgten alle ihrem Beispiel.

»Aber ich würde gern noch etwas sagen.« Zofia stellte ihr Glas wieder auf dem Tisch ab. »Auch ich bin Lyrikerin. Seit mittlerweile über fünfzig Jahren schreibe ich Gedichte. Jedoch habe ich schreibend Verrat begangen. Ich habe das Größte, das einem Dichter gegeben ist, verraten – die eigene Sprache. Ich habe mein geliebtes Polnisch aufgeben müssen und schreibe jetzt auf englisch und komme mir vor wie eine Bigamistin . . . Das einzige, was ich auf weißrussisch kann, ist ein Vers, den ich als Kind gelernt habe.« (Sie rezitierte den komischen Kinderreim vom Priester und seinem toten Hund, den ich vor Jahren von ihr gehört hatte. Niemand kannte ihn. Es gab viel Beifall.) »Und nun möchte ich einen Toast ausbringen auf das Ende des Kommunismus, auf eine neue Zeit, auf die Lyrik, auf die Freundschaft und auf die slawische Seele, die uns allen gemeinsam ist und die mir so wundervoll zwischen Wodka und Tränen zu oszillieren scheint. Na zdrowie!«

Na zdrowie!

Alle klatschten und tranken. Es kamen noch mehr Reden. Eine Frau hielt eine Rede über Mickiewicz. Ein Professor hielt eine Rede über Politik. (Alle trugen an ihren Aufschlägen winzige rotweiße Anstecker, die Farben ihres nagelneuen Landes, für das sie – die Dichter, Schriftsteller, Intellektuellen – etwas zu formen versuchten, was sich von der schweren braunen Tonerde der Sowjetkultur unterschied.)

Der Professor redete noch immer, als das Essen begann. Spontan beugten die Dichter sich vor und usurpierten die aufgetragenen Platten. Der Professor brach seine Ausführungen über öffentliche Ausgaben ab und grapschte sich eine Wurst, zwei Scheiben Brot und eine Essiggurke.

Zofia hatte ihre gute Laune wiedergewonnen; sie kicherte. Ihr gegenüber saß ein Mann in schwarzem Hemd, der ihr mit blitzendem Goldzahnlächeln Wodka ins Glas schüttete: »Trink! Trink, meine juwelengeschmückte polnische Prinzessin!«

Sie drehte sich zu mir um und flüsterte: »Er denkt, ich bin eine Prinzessin. Er hat Verlaine übersetzt und sagt, er ist in mich verliebt! Was soll ich tun?«

»Am besten, du heiratest ihn, Zosia.«

Am anderen Ende der Tafel erhob sich eine rumänische Volkssängerin von ihrem Platz. Sie kreischte ein Lied auf weißrussisch. Als es zu Ende war, stand eine winzige alte Frau neben ihr auf. Sie hatte dottergelbes Haar, trug eine smaragdgrüne Strickjacke und war offenbar eine berühmte Opernsängerin gewesen. Sie gab mit kieksendem Sopran eine unbekannte Arie zum besten und sagte dann: »Ich bin zweiundneunzig. ›Nur der Schönheit weiht’ ich mein Leben.‹«

Ein Paar stand auf, beide mit heller Haut und hellem Haar. Sie trug ein Kopftuch, er einen hochgeknöpften schmutzigbraunen Anzug.

»Zwanzig Jahren«, erklärte sie in holperigem Englisch, »er ist in Gefängnis. Ich glaube, er tot, in Lager. Aber vor eine Woche er kommt an meine Tür und klopfen und sagen, Marta, Wasser, biitte. Ich haben Durst. Wo du gewesen? frage ich. Und er weinen wie ein Kind . . .«

Und der Mann neben ihr, kerzengerade und einen Kopf größer als sie, schnipste sich die Tränen von den Wangen, als wären es Kieselsteine.

Eine Frau mit Akkordeon spielte zum Tanz auf; die Leute erhoben sich, und binnen kurzem war der ganze Raum eine einzige Masse herumwirbelnder, hüpfender Dichter. Der wild aussehende Lexikograph und die nervöse Lehrerin, der Bernard-Shaw-Experte, der zahnlose Archäologe, der allein tanzte, eine berühmte Schauspielerin, ein sprunggewaltiger Linguist, ein Danteübersetzer mit beginnender Glatze, ein ernster junger Gitarrespieler mit traurigen Liedern und Zofia mit ihrem weißrussischen »Gemahl«, ihrem »Don Juan«.

Der Abend versank in einem Nebelschleier von Wodka und żubrówka und tränenreichen Reden und Geschichten. Erst nach Mitternacht begannen die Leute sich zu verziehen. Der Lexikograph schlief in einem Sessel. Der Archäologe hielt sich auf einem Bein. Die über neunzigjährige Opernsängerin wurde von ihrer Tochter, der Akkordeonspielerin, hinausgeschleift. Die Schauspielerin heulte. Zofia ließ sich von ihrem Don Juan die Hand lesen.

»Werfen Sie Ihre Liebe nicht den Hunden vor!« flehte er – und setzte flüsternd hinzu: »Meine Frau hat eine böse Zunge, wie eine Giftschlange . . .« Dann rief er aus: »Unsere Begegnung hat in den Sternen gestanden! Solche Freude habe ich nicht erlebt wie diesen Abend . . .«

»Aber«, sagte Zofia und tippte ihm mit dem Finger gegen die Brust, »aber Sie sind Slawe wie ich – und morgen sind Sie traurig.«

 

Drei Tage danach überquerten wir die Grenze und kehrten nach Warschau zurück. Es war fünf Uhr früh, und wir waren beide erschöpft. Am Bahnhof zankten wir uns sinnlos – darüber, wo wir ein Taxi bekämen, ob Warschau dreckig war oder nicht, wann genau die Konferenz von Jalta stattgefunden hatte –, bis Zofia den Kopf zurückwarf und lachte. »O Phiilip, wir führen uns auf wie die kleinen Kinder! Wir sind einfach nur müde!« Und kurz darauf saßen wir in einem Taxi, das durch leere Straßen zum Dom Literatury kurvte: eine andere Stadt, ein anderes Dom Literatury.

Wir mieteten uns dort ein und blieben mehrere Tage, ruhten uns aus, lasen, trafen Freunde und führten ernsthafte Diskussionen mit verschiedenen Schriftstellern. Unsere Zimmer gingen auf den kopfsteingepflasterten Platz vor dem Schloß hinaus, mit einem Blick auf die Weichsel und über die Vorortdächer hinweg auf den Wald dahinter. Die Stadt schien in jenem Mai voller Licht zu sein.

Auf dem Rückflug sagte Zofia, sie habe das Gefühl, sie habe »den Kreis geschlossen«. Das war es, warum sie den weiten Weg auf sich genommen hatte – um den Kreis zu schließen.

In London war es gewittrig und schwül. Vom Flughafen nahmen wir einen Bus in die Stadt. Unsere Reise war zu Ende. Wir standen zusammen auf dem Bahnsteig von Paddington Station, während schwerer Regen auf das Bahnhofsdach trommelte. Zofia fuhr heim nach Cornwall; ich würde in London bleiben.

»Ich werde dich vermissen«, sagte sie. »Diese letzten Wochen waren für mich ganz unglaublich.«

»Für mich auch.«

Sie reckte sich und machte ein Kreuzzeichen auf meiner Stirn. »Ich lasse dich mit einem Engel zurück. Möge dir alles gut geraten, lieber Phiilip!«

 

Es war November, ehe ich für den Winter nach Cornwall zurückging. An den Abenden stieg ich nach Braganza hinauf, saß mit Zofia zusammen, und wir tranken hausgemachte żubrówka, die ein polnischer Koch in einem Dorf der Gegend destilliert hatte. Zofia thronte gelassen in ihrem Lehnsessel, ihr Gesicht das übliche Potpourri von Gefühlen, und wir redeten vom Vorkriegspolen, von den Erinnerungen ihrer Mutter, von unserer Reise. Weihnachten stellten wir Päckchen mit Schokolade und Kleidung für Pani Wala, Pani Jadzia und den Uhrmacher zusammen, die sie nie erreichten.

Unterdessen erwiesen Braganzas Bücherregale sich als ein Puzzle der polnischen Geschichte: Erinnerungen, Lyrik, Romane – jeder Band fügte dem Kontext von Zofias erstem Leben ein kleines Teilchen hinzu. Polen zeigte sich in all seinen verschiedenen Gestalten: Polen als Spielball der Geschichte, Polen als Eroberer und als Beute, Polen, das stets überlebte; ein Land, wo das Leben der einzelnen Menschen allenfalls ein kleiner Zeitvertreib zwischen Kriegen zu sein schien, ein Spiel, das man spielte, während man auf den Zug wartete.

»Polot«, sagte Zofia. »Es läuft alles auf polot hinaus.«

»Polot?«

»Das läßt sich nicht übersetzen. ›Lot‹ heißt natürlich Flug, wie die polnische Fluggesellschaft, und hat etwas Schwereloses an sich. Aber es meint auch einen bestimmten Charme, etwas Siegesgewisses – es hat etwas damit zu tun, daß man tapfer und verwegen ist, daß Ungemach einem nichts anzuhaben scheint.«

»Und deine Mutter hatte polot

»O ja, das hatte sie.«

In ihrem Buch Lost in Translation führt Eva Hoffman zwei Momente von polot an. Der erste war 1939, als die deutschen Panzerdivisionen nach Polen hineinrollten und die Polen die Kapitulation verweigerten und Kavallerieattacken gegen die Panzer ritten. Der zweite 1944, während des Warschauer Aufstands: Als die Nazis die letzten Widerstandsnester ausräumten, stellten die Polen Lautsprecher in den Straßen auf und spielten Chopin.

Noch andere Ereignisse der polnischen Geschichte blieben mir im Gedächtnis haften. Etwa die Siegesbotschaft, die König Jan Sobieski dem Papst nach der Belagerung von Wien schickte: »Venimus, Vidimus, Deus Vicit.« Und das Erlebnis eines 1945 nach Warschau entsandten Beobachters der Alliierten: Der Ort sei voller Blumenstände, schrieb er – kein Gebäude heil, überall Schutt, Brot für die meisten unerschwinglich, aber Blumen, Stände über Stände frisch gepflückter Wiesenblumen.

Und der alte polnische Witz (angeblich der Lieblingswitz Paderewskis, 1919 Ministerpräsident des soeben befreiten Polen): Ein Professor an einem internationalen College läßt seine Studenten eine große Arbeit zu dem allgemeinen Thema »Der Elefant« schreiben. Die Arbeiten kommen mit folgenden Titeln zurück:

Der Engländer: Der Elefant und wie man ihn jagt.

Der Franzose: Das Liebesleben des Elefanten.

Der Deutsche (nach längerer Forschungsarbeit): Einführung in vorbereitende Studien zu den gastronomischen Möglichkeiten des Elefanten.

Der Russe (nach selbstquälerischem Paffen von Zigaretten): Der Elefant – existiert er?

Der Pole: Der Elefant und die Polnische Frage.

Doch die Geschichte, die sich mir am deutlichsten eingeprägt hat, betrifft die Enthüllung des Denkmals für Adam Mickiewicz in Warschau. Wie Puschkin ist Mickiewicz ein Nationaldichter, und seine Statue sollte ein Nationaldenkmal sein.

Der Zeitpunkt der Enthüllung war kurz nach dem Polnischen Aufstand von 1863, und der russische Gouverneur war nervös. Er ließ seine Artillerie auffahren, die dabei mehrere Häuserzeilen zum Einsturz brachte. Zehntausende von Polen hatten sich auf dem Platz versammelt. Henryk Sienkiewicz bestieg das Podium. Aus seiner Rocktasche zog er die Blätter mit der Rede, die zu halten ihm untersagt worden war. Er schwenkte die Blätter im Wind. Allgemeines Schweigen. Er enthüllte die Statue. Noch immer Schweigen. Die Russen starrten auf die Polen, und die Polen starrten auf die Russen. Kein Laut.

Dann war aus der Mitte der Menge das Schluchzen einer Frau zu vernehmen. Dann ein weiteres Schluchzen, dann noch eins und noch eins und immer so fort, so daß alles, was man im Herzen Warschaus anläßlich der Enthüllung des Mickiewicz-Standbilds hören konnte, eine leise kollektive Klage war.

Mickiewicz ist in Nowogródek geboren. Ganz in der Nähe des größten Platzes befindet sich das Dom Mickiewicza, eine Erinnerungsstätte für ihn. Zofia sagte, ihre Mutter sei 1915 jeden Sonntag nach der Messe dahin gegangen, und fand in ihren Aufzeichnungen diese Beschreibung:

 

Das Mickiewiczhaus wurde von zwei Frauen bewohnt und betreut. Sonntags gaben sie große Essen, zu denen jeder kommen konnte. Die Frauen hatten nie einen müden Rubel, und jedesmal, wenn sie Geld brauchten, gingen sie zu Onkel Nicholas. Eine der Frauen schielte und war für ihre guten Werke und ihre häufigen Gebetsanfälle bekannt. Die andere hatte braune Löckchen und lag Pralinen essend und Romane lesend auf dem Sofa. Mit der Zeit schwoll sie auf über zwei Zentner an und tyrannisierte ihre Gefährtin . . .

 

An einem Morgen in Nowogródek hatten Zofia und ich versucht, das Dom Mickiewicza zu besuchen. Es war kürzlich wiederhergerichtet worden, aber an jenem Morgen war es geschlossen, ringsum lagen umgestürzte Bäume. Ein nächtlicher Sturm hatte die ganze Stadt wegen umgestürzter Bäume unpassierbar gemacht. (Umgestürzte Bäume: Helena war in der Nacht des großen Sturms 1898 zur Welt gekommen, und es hatte Jahre gebraucht, die Bäume wegzuräumen.)

Aus Braganza bekam ich wieder Helenas Aufzeichnungen, die Kladden, die maschinegeschriebenen losen Blätter, die Zeitungsausschnitte. Auf der Kiste, in der sie zu mir gelangten, stand »GEEST BANANAS«. An einem Januarmorgen – einem Morgen, an dem heftige Windstöße in den Dachrinnen meines Hauses rumorten und ruhelose Wellen am Strand nagten – griff ich in die Kiste und zog die erste dieser Kladden heraus. Die Ecken waren etwas abgestoßen, eine war angebissen, von einer Maus oder einem Hund. Der Einband war weinrot, und auf die Vorderseite hatte Zofia ein Etikett geklebt: »Recycling-Papier – DIESES ETIKETT RETTET BÄUME.« Darunter hatte sie geschrieben: »Mamas Leben, Band I.«

Innen wiederholte sich der Titel leicht abgewandelt in der Handschrift ihrer Mutter:

 

Mein Leben – Band I

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, ist sein Kennzeichen hauptsächlich eine sonderbare Einsamkeit. Ich war ein einsames Kind – ohne Freunde oder Gefährten –, ein Kind, das irgendwie kein Eigenleben hatte, das sich kaum seines Daseins bewußt war, so sehr war es in Anspruch genommen vom Leben seiner Tiere und seiner Freunde, die alle Erwachsene waren – Tanten, Panna Konstancja, alle Menschen in Platków und Mutter Immaculata.

Ich wurde sehr spät erwachsen, war glücklich und umschwärmt in St. Petersburg, wurde vom Krieg von Ort zu Ort gehetzt, war einsam in der Ehe und glücklich schließlich einzig in Mantuski . . .

 

Als ich Helenas Aufzeichnungen in jenem Winter wiederlas, schienen zwei Dinge, zwei Muster zutage zu treten. Das eine war die seltsame Symmetrie zwischen ihren eigenen Lebensumständen und den weiter ausgreifenden Turbulenzen um sie her (die Parade ihrer Verehrer in den Jahren nach dem ersten Krieg beispielsweise schien das Kommen und Gehen der Armeen widerzuspiegeln). Das andere war das Gefühl eines dauernden Wechsels, das Werk unsichtbarer Kräfte: genau das Gefühl, das einen beim Anblick vom Wind verstreuter Bäume befällt.

Sechzehn Jahre hatte Helena ein relativ ruhiges Leben geführt. Aber eines Mittags im Sommer 1914 in Klepawicze fand das alles ein Ende.