10.

Helena verbrachte die nächsten zwei Jahre überwiegend in Petersburg. Über diese Zeit schrieb sie später: »In vielerlei Hinsicht waren dies die glücklichsten Jahre meines Lebens. Ich wurde in Petersburg volljährig, gerade als die Stadt selbst im Chaos versank. Ich hatte nie zuvor solche Pracht gesehen, noch habe ich es seither . . .«

Sie war siebzehn, als sie ankam, naiv, zurückhaltend, die Wälder der Kresy gewöhnt und das provinzielle Leben in Wilna. Die Fotografien von ihr aus dieser Zeit sind alle verlorengegangen, aber in ihren nachträglich geschriebenen Petersburger Aufzeichnungen hat sie sich in Tinte porträtiert, so, wie sie sich in Erinnerung hatte, ein Mädchen im Pelz, mit Pelzmuff und Pelzhut, ein Mädchen von aufrechter Haltung und schlichter Eleganz.

In Petersburg ließ sie sich das Haar kurz schneiden – so, daß es bis zum Nacken reichte –, und diese Frisur behielt sie während ihres gesamten Erwachsenenalters bei. Sie schrieb, sie habe gelernt, »Kleider richtig zu tragen«, indem sie matte Farbtöne und die »klassische Linie« wählte, die ihr Vater sich gewünscht hatte. Es ist klar, daß sie bereits schön war, ebenso klar, daß sie gewöhnlich nicht darauf achtete, welchen Eindruck sie machte – bis es zu spät war. Noch immer geschahen ihr die Dinge. Doch Petersburg öffnete ihr die Augen.

Onkel Augustus – Onkel Priester – fand eine Wohnung für sie in einem Mietshaus unweit der Uliza Pestelja. Die getäfelten Wände waren tief burgunderrot lackiert, der sonstige Anstrich war weiß, und die Wohnung war sehr klein – vier Zimmer für Helena, ihre Mutter, ihre Schwester, die Töchter des Gutsverwalters, Panna Konstancja und Tekla, die in einer Besenkammer neben der Küche schliefen.

Helena teilte sich ein Zimmer mit ihrer Schwester. Das Fenster ging auf einen schmutzigen Hof hinaus. Nachts füllte sich der Hof mit Katzen, die in der Dunkelheit kämpften und gellend schrien. Tagsüber sickerte diffuses Licht in den kaminähnlichen hohen Schacht. In den ersten Monaten war Helena krank; sie verließ kaum das Zimmer. Von ihrem Bett aus sah sie den Schneeflocken zu, die in spiraligen Windungen vom grauen Himmel herabschwebten. Die Tage verrannen und schrumpften zusammen. Der Arzt kam mit Stärkungsmitteln aus Mandelsaft. Einen Großteil der Zeit schlief sie.

Weihnachten 1915 betrat Onkel Augustus die Wohnung mit einem kleinen chinesischen Singvogel in einem Käfig. Der Vogel hatte weißes Gefieder und einen roten Schnabel. Onkel Augustus hängte ihn in Helenas Zimmer auf, und Helena taufte ihn Liki. Anderthalb Jahre trillerte Liki in seinem Messingkäfig am Fenster. Er hüpfte zwischen seinen Sitzstangen hin und her; er pickte nach den Sonnenblumenkernen, mit denen Helena ihn fütterte. Dann kam die Revolution, und Liki verschwand. Sie konnte nie wieder Zeisiggesang hören, ohne an drei Dinge zu denken: den Kulissenglanz von Petersburg, das Geschrei der kämpfenden Katzen und den Anblick ihres Vaters, der sich an der Ecke des Newskij Prospekts auf einen Stock mit Elfenbeingriff stützte.

 

Mit dem neuen Jahr kam Helena zu Kräften. Sie konnte gekochtes Gemüse essen und dann und wann Hering. Der Arzt setzte den Mandelsaft ab und ging zu einer speziellen Butter über, die ihm direkt aus Zentralrußland geliefert wurde.

Die letzten Januartage 1916 brachten einen frostigen Himmel und eine Reihe von polnischen Emigrantinnen in die Wohnung. Sie trugen Zobelpelze und dicke Juwelen, um sich für den Verlust ihrer Besitzungen zu entschädigen. Ihre Männer waren entweder im Krieg oder schon tot. Sie waren außerstande, ihr Unbehagen angesichts der kleinen Räume der O’Breifnes zu verbergen, stellten lauernd Fragen nach Essen, Wäsche und Dienstboten, und beugten sich bei Helena zur Tür herein, um sie zu begutachten.

Eine dieser Frauen war Pani Józefina Pawełowska, laut Helena »eine berühmte Schönheit«. Eines Tages erschien sie in einem knöchellangen Silberzobel. Sie blieb einen Augenblick an Helenas Bett stehen, die Hände ausgestreckt und die Augen halb geschlossen.

»Blau – ich sehe eine blaue Aura um dich!«

Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und zog an den Fingern ihrer schwarzen Handschuhe. »Ich habe von deiner Mutter einiges über dich gehört. Aber sie hat nicht gesagt, wie schön du bist. Niederträchtiges Weib! Hast du erst wieder ein bißchen Fleisch auf den Knochen, wirst du außergewöhnlich hübsch sein. Helenka, ich glaube, ich liebe dich schon! Versprich mir zu schreiben, wenn es dir besser geht, und ich schicke dir meinen Kutscher.«

Anfang Februar war Helena fast gänzlich wiederhergestellt. Jedesmal, wenn der Arzt mit seinem Musselinbeutelchen Butter ankam, bat sie ihn, sie nach draußen gehen zu lassen. Eines Februartages drehte der Arzt sich zu ihrer Mutter um und sagte: »Ça va! La jeune fille va bien.«

Eine Woche später hielt ein Schlitten im Hof und brachte Helena ins Pawłowskische Haus an der Moika. Sie stieg aus und betrachtete das Gebäude. Es war eher ein kleines Palais als ein Haus. Die Mauern waren blaßgrün, mit einer strengen Reihe kannelierter Pilaster zwischen den Fenstern. Eine große Kuppel, patiniert und voll Vogeldreck, krönte das Ganze.

Pani Józefina war in ihrem smaragdgrünen Boudoir mit Näharbeiten beschäftigt.

»Hela«, sie stand auf und küßte sie, »du siehst hundertmal besser aus.«

»Vielen Dank, Pani Józefina –«

»Aber nein! Für dich bin ich Tante Ziuta.«

»Ja, Tante Ziuta.« Helena ließ sich auf einem Rohrstuhl nieder.

»Fühlst du dich besser?«

Helena nickte.

Tante Ziuta lächelte ihr furchterregendes Beinahelächeln. Sie trug ein weißes Seidenoberteil und einen grauen Faltenrock. Alles an ihr wirkte frisch und elegant; sie sprach bestes Warschauer Polnisch und war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden.

»Also, jetzt möchte ich alles über dich wissen. Ich denke mir, daß du vom Leben nicht die geringste Ahnung hast. Deine Mutter! Ich nehme an, sie hat dir ein paar gute Gebete beigebracht und dir gesagt, du sollst dich vor Männern in acht nehmen. Hab’ ich recht?«

Helena nickte.

»Nun ja, da du nun einmal hier in Petersburg bist, nehme ich dich unter meine Fittiche. Du wirst Teil meiner Familie sein. Mit mir wirst du das Leben kennenlernen.« Diesem letzten Wort verlieh sie eine eigenartige, zweideutige Betonung. Dann lächelte sie. »Und als Gegenleistung brauche ich deine Hilfe.«

»Hilfe, Tante Ziuta?«

Diese lächelte und fuhr sich mit der Hand über ihren Schwanenhals. »Du wirst erfahren, Hela, daß es für mich nur eins gibt, für das sich zu leben lohnt, und das ist die Musik. Mein ältester Sohn hat eine Engelsstimme, einen Baß, der einem das Herz brechen kann. Er ist einsfünfundneunzig und macht mich ziemlich wahnsinnig. Er meint, er sei Sozialist. Er spaziert durch sämtliche Fabriken seines Vaters und predigt den Arbeitern. Sie halten ihn alle für verrückt. Er singt jetzt nicht mehr. Unsere Musikabende waren berühmt, aber jetzt hat er keine Zeit dafür. Und hier kommst du ins Spiel – verstehst du?«

Helena schüttelte den Kopf.

»Natürlich nicht – du hast keine Ahnung von Männern. Aber ich garantiere dir, wenn du anfängst, uns zu besuchen, wird er zu Hause bleiben, dich anstarren und sich heiser singen.

Der Rest meiner Familie ist uninteressant. Bei meinem Mann dreht sich alles immer nur ums Geschäft, Geschäft, Geschäft. Vermutlich wirst du meinen jüngeren Sohn Florian mit seinen großen Kalbsaugen recht gutaussehend finden. Aber er vergeudet seine Zeit mit naturwissenschaftlichen Büchern. Er hat überhaupt kein musikalisches Gehör.«

 

»Hela, kochana!« begrüßte Tante Ziuta Helena bei ihrem zweiten Besuch. Sie führte Helena durch eine Zimmerflucht voller Blumenarrangements in eine Bibliothek und einen langgestreckten Ballsaal. Am äußeren Ende dieser höhlenartigen Räume befand sich ein Arbeitszimmer. Dort, über einen Eichenschreibtisch gekrümmt, residierte der große Pan Pawłowski.

Als Tante Ziuta diesen Mann heiratete, wurde das in Warschauer Kreisen mehrheitlich als mésalliance betrachtet. Er hatte, wie Helena berichtete, ein schroffes Benehmen, war untersetzt und in seinen Gewohnheiten ziemlich animalisch. Es hieß, sein Großvater sei ein Posener Bauer gewesen. Doch er erwies sich als glänzender Finanzier und baute eine Reihe russischer Fabriken auf. Er häufte ein Vermögen an. In Petersburg fand man sich mit seinen weniger feinen Machenschaften ab: »Ce cher Pawłowski est tellement original. C’est un original – enfin!« Und Gesandte wie bakkenbärtige Aristokraten kamen, um in seinen tiefen Sesseln und Sofas Vertraulichkeiten auszutauschen.

Als Helena sein Arbeitszimmer betrat, erhob Pan Paw/ lowski sich und ergriff ihre Hände. Er sah sie durchdringend an und sagte: »Du besitzt große Schönheit, mein Kind. Was hast du damit vor?«

»Ich möchte an der Universität studieren.«

Er schüttelte den Kopf und lachte. »Nein, nein, doch das nicht. Mädchen wie du gehen nicht auf die Universität!«

Helena sagte nichts.

Später lernte sie seine zwei Söhne kennen. Sie gaben ein seltsames Paar ab. Der eine, Waldemar, war groß, dunkelhaarig, verbeugte sich, als sie ihm die Hand reichte; der andere, Florian, war über einen Kopf kleiner, mit riesigen grauen Augen, mit denen er sie auf eine verstörende Art und Weise anstarrte.

In jenem Frühjahr fand Helena ihr Leben beherrscht von der dominierenden Figur Tante Ziutas. Sie verbrachte sehr viel Zeit im Haus der Pawłowskis. Sie wurde zu allen Musikabenden eingeladen, und tatsächlich begann Waldemar weniger Zeit für Politik zu haben und mehr fürs Singen.

Manchmal holte Tante Ziuta Helena in der Nachmittagsdämmerung ab und machte mit ihr eine Fahrt durch die Stadt, zunächst im Schlitten und dann, im März, in einer alten und allzu reich verzierten Kutsche. Die Sonne duckte sich am Horizont; Petersburg ruhte auf seinem Morast. Es schwamm wie ein Schiff, und seine orangeroten, zitronengelben und limonengrünen Fassaden und Zuckergußkuppeln kamen Helena vor, als wären sie nichts als Akteure in irgendeinem bizarren Kostümstück.

Das ist das Leben, dachte sie. Das war, was Tante Ziuta gemeint hatte. Sie hatte bis dahin nur Wilna, Krakau und Warschau gekannt, aber Petersburg und seine Menschen schienen auf einer anderen Stufe zu stehen. In ihrem Kopf verbanden sich die Stadt und die Pawłowskis: Petersburg war so anziehend und so herzlos wie Tante Ziuta.

Sie sahen die Wachen im Paradeschritt vor dem Winterpalast auf- und abmarschieren; sie sahen Peter den Großen auf seinem sich aufbäumenden Bronzeroß. Tante Ziuta hatte lebhafte Ansichten über die russische Geschichte und erzählte Helena die interessantesten Anekdoten und Skandale. Sie führte sie durch die hellerleuchteten Geschäfte am Sabalkanskij Prospekt; sie kauften Pralinen und probierten Hüte, Pelze und Schuhe. Auf dem Trottoir des Newskij Prospekts zeigte Tante Ziuta ihr die Botschaftergattinnen, die Generäle, die Dumasozialisten. Einmal erhaschten sie einen Blick auf Rasputin, als er aus einer Kutsche torkelte.

Ende Februar lud Tante Ziuta Helena und ihre Mutter zu einer Galavorstellung von Schwanensee im Marientheater ein. Der Abend war eisig kalt. An allen Ecken häuften sich Schneeverwehungen. Alles schien dem Theatereingang zuzustreben. Koslinskij, ein Günstling des Zaren, tanzte die männliche Hauptrolle.

Helena hatte keine Erinnerung an das Ballett selbst – nur an einen Halbkreis von Fürsten und Großfürsten in weißer Gardeuniform auf dem roten Teppich im Foyer. Daß Zar Nikolaj II. höchstpersönlich in dessen Mitte stand, nahm sie kaum wahr. Seine Würdenträger überragten ihn. Sie glichen Unsterblichen, einem ordengeschmückten Pantheon, Wesen aus einer anderen Welt. Unter ihnen befand sich auch Fürst Jussupow (der später Rasputin ermordete), und sein Anblick war es, den sie im Gedächtnis behielt. »Ich habe nie einen so schönen Mann gesehen«, schrieb sie später. »Gott hat die Form zerbrochen, nachdem er Jussupow erschaffen hatte.«

Samstags gaben die Pawłowskis Tanzabende. Einen davon, kurz vor Beginn der Fastenzeit, ernannte Tante Ziuta zu einem Ball. Es war Pan Pawłowskis Geburtstag. Waldemar hatte sich überreden lassen, seiner Mutter zuliebe zur Eröffnung des Abends einige Mozartarien zu singen und anschließend, seinem Vater zuliebe, polnische Volkslieder zur Balalaika.

Hinterher trat er mit schweißglänzender Stirn zu Helena.

»Bravo!« sagte sie. »Dein Vater war begeistert.«

»Das ist mir ganz gleich. Ich habe nur für dich gesungen, Helenka.«

»O Waldemar, was für ein Blödsinn!«

Später tanzte sie mit ihm – eine Polka –, es war ihr erster Tanz auf einem Ball. Danach suchte sie ihre Mutter. Sie fand sie in Tante Ziutas Salon, wo sie in einer Gruppe von Polinnen saß und sich Kühlung zufächelte.

»Mama! Du hast den Tanz verpaßt. Ich habe mit Waldemar getanzt, und du hast es verpaßt!«

»Hat es dir gefallen, Liebes?«

»Oh, ja!«

»Nun, du wirst nicht noch einmal mit ihm tanzen.«

Der Abend ging weiter. Tante Ziuta saß, flankiert von einem Paar junger Husaren, vor den Musikern. Ein Lächeln knitterte ihr kaltes Gesicht. Vor ihr wirbelten Mitglieder des Kadettenkorps über das Parkett. Mit ihren herausgeputzten Partnerinnen tanzten sie Polkas und Quadrillen, eine Écossaise und einen Pas de châle. Waldemars Mähne hüpfte über den Köpfen der Russen. Ein- oder zweimal durchquerte Pan Pawłowski den Ballsaal, die Hände auf dem Rücken, unempfänglich für alles ringsum, in tiefem Gespräch mit diesem oder jenem Minister.

Für Helena war der Höhepunkt des Abends die Heimfahrt. Vor ihr lag das mondbeschienene Petersburg; die Dächer waren weiß von Rauhreif, die Newa bugsierte ihre Fracht Eisschollen in den Finnischen Meerbusen. Helena, noch schwindlig vom Tanzen, lauschte unter ihren Pelzen dem Sirren der Kufen und dachte, wie schön es doch war, wieder allein zu sein.

Bald darauf nahm Tante Ziuta sie eines Abends beiseite. »Hela, ich weiß nicht, was los ist. Halb Petersburg ist in dich verliebt, und du nimmst nicht die geringste Notiz davon! Sieh dir deine Kleider an. Schämst du dich wegen deines Aussehens?«

»Nein.« Aber sie wußte, daß sie es tat.

»Wovor hast du Angst?«

»Ich weiß nicht.«

»Vor mir?«

»Nein, vor dir nicht«, sagte sie.

»Vor deiner Mutter?«

»Vielleicht.«

»Und sicher auch vor dieser eurer unglückseligen Kirche! Du mußt lernen, unbekümmert zu sein, Helena, merk dir das.«

»Unbekümmert?«

»Du mußt lernen, deine Schönheit wie einen Scherz zur Schau zu tragen. Je größer die Leichtigkeit, mit der du damit umgehst, desto mehr werden die Männer dich anbeten. Mach dir immer klar, daß Männer wie Hunde sind.«

Mit einemmal begriff Helena, daß sie nicht recht hatte. »Aber ich liebe Hunde, Tante Ziuta! Über alles!«

»Genau«, sagte diese, und ein träges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.