Den ganzen Sommer, den Sommer 1934, blieb Helena in Mantuski. Ein Strom von Besuchern zog durch das Haus. Alle wußten sie guten Rat und erteilten ihn reichlich: Onkel Bischof mit geflüsterten Andachtsübungen, Helenas Mutter (»Du hast eine Treuepflicht gegenüber deinen Kindern«), Panna Konstancja (»dieser Knochenmann«), Onkel Nicholas (»Wir sind die nächsten, die gefällt werden«).
Helena machte weiter. Sie machte mechanisch weiter. Sie stand jeden Morgen auf, zog sich an, verbrachte Zeit mit den Kindern, sah nach dem Rechten in den Pferdeställen, bei den Kühen, in der Käserei. Sie bewegte sich auf Mantuskis staubiger Sommererde wie ein Geist. Vom Geruch der Ställe wechselte sie zum Eimergeklirr beim Melken und von da in die Mittagskühle des Hauses. Doch nach ihrer eigenen Erzählung fühlte, hörte und roch sie nichts.
Der Juli war unerträglich heiß. Das Vieh wälzte sich in den Untiefen, stand knietief im Schlamm. In der gelben Nachmittagsödnis, wenn es zu hell war zum Arbeiten, unternahm Helena Spaziergänge und schwamm im Fluß – ein hoffnungloses Sichklammern an die Zipfel ihres alten Lebens.
An einem Augusttag ging sie an den brachliegenden Feldern entlang. Sie blieb stehen und schaute zurück, über die wirren Knäuel verdorrter Quecke, über den Roggenflaum; sie fühlte sich eins werden mit dem Hitzeglast, aufsteigen wie Dunstschwaden, sich hinaufschrauben wie eine Windhose. Sie schloß die Augen, reckte den Kopf, und alles war wieder orange – wie die Wilija, wie das Zimmer, in dem Adam gestorben war, in dem sie sich verlobt hatten, orange wie der Tag 1914, als sie in Klepawicze unter den Birkenzweigen gelegen hatte, der Tag, als der Krieg begonnen hatte und die Mauern ihrer ersten Welt gefallen waren.
Mit der ersten Herbstkühle kehrte Helena zur Erde zurück. Ein kleines Feuer hatte eine der Scheunen beschädigt. Ein neuer Stier wurde geliefert. Pflugscharen rissen die Stoppeln und die oberste Bodenschicht auf, und Winterroggen wurde gesät. Aus Warschau kam eine neue Erzieherin.
Helena wußte, daß ihre Mutter recht hatte; ihre erste Pflicht galt ihren Kindern. Sie schrieb eine Liste mit guten Vorsätzen:
-
Bete gegen negative Gedanken (schlimmer als böse Gedanken).
-
Sei nach außen fröhlich und heiter.
-
Bete für Adam, bete für die Kinder.
-
Sprich mit jedem Haushaltsmitglied, mach Besuche im Dorf.
-
Beklage dich nicht.
-
Beschäftige dich! Geh so oft wie möglich spazieren, reiten, schwimmen.
An einem Tag Anfang Oktober ritt sie am Njemen entlang und dann in den Wald, wobei sie ein Büschel Birkenzweige beiseite schob. Einige wenige Vögel sangen noch, und einen Augenblick lang fühlte sie sich davon emporgetragen. Sie spürte das vertraute Einswerden der Sinne, eine Empfindung, die der Wald ihr immer bereitete, und wußte, daß sie zumindest hier, inmitten der Bäume, sicheren Trost fände. Dann hörte sie das Tocktock einer Axt. Es war Sonntag: da hätte nicht gefällt werden dürfen.
Sie ritt dem Geräusch nach, und stieß auf einer Lichtung auf drei Männer neben einer frisch gefällten Birke.
»Was tun Sie da?« fragte sie. »Das Holz hier gehört dem dwór.«
Einer der Männer sah kurz zu ihr auf, bevor er seine Arbeit wiederaufnahm. »Der dwór hat jetzt keinen Herrn mehr.«
»Ich bin verantwortlich für den dwór!«
Der Mann schwang seine Axt, und sie blieb im Stamm einer anderen Birke stecken. Er hebelte sie heraus. »Mantuski ist kein Platz für eine alleinstehende Frau.«
»Es hat sich nichts verändert!«
Der Mann ließ die Axt sinken. Er sah wieder zu Helena auf, sagte aber nichts.
»Wenn ihr Brennholz braucht«, sagte sie, »dann kommt zum dwór. Es ist reichlich da. Aber dieses feige Stehlen werde ich nicht zulassen!«
Der Mann lächelte flüchtig. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Mitleid. Er rief seine Männer, und sie gingen miteinander weg. Es wurde nicht mehr gestohlen.
Wie ein stummer Fremder schob sich die Vereinsamung unmerklich immer näher an Helena heran. Der Winter war erträglich, doch im Sommer, dem zweiten Sommer nach Adams Tod, spürte sie das erste Flüstern des Wahnsinns.
»Arbeit«, sagte sie zu sich. »Ich muß in Arbeit ertrinken.« Und sie konnte nicht umhin zu lächeln: Adam hatte derartige Heilmittel immer »die Zuflucht der Kalvinisten« genannt.
Sie verbrachte die Zeit damit, einen genauen Aufforstungsplan für die Wälder auszuarbeiten. In Wilna entdeckte sie eine bestimmte Sorte russischer Pflaumen und setzte neue Obstbäume. Sie kaufte zwei neue Bienenstöcke, schwamm am Morgen, ging abends spazieren, besuchte die Messe; und es gab Abende, an denen sie für eine ganze Stunde vergessen konnte.
Doch Anfang September traf sie in Lida einen Arzt, der sich die dunklen Flecken unter ihren Augen ansah und sagte: »Madame Brońska, Sie leiden an nervöser Erschöpfung.«
Er empfahl eine Heilquelle. Karlsbad, meinte er, ein sehr gepflegter Kurort. Sie fuhr mit dem Zug dorthin und nahm ein Zimmer in einem Hotel mit hohen Decken und scheppernden Leitungen. Seit einem Besuch mit ihrer Mutter vor etlichen Jahren hatte Karlsbad in ihrer Vorstellung in zwei zufälligen Bildern überlebt: die zündholzschachtelgroße Stadt, wie man sie von der schwankenden Seilbahnkabine aus sah, und eine Ziege, die sie in der Nähe des Hotels beobachtet hatte, wie sie sich durch die Seiten einer Bibel fraß.
Der Speisesaal ihres Hotels war voller Gäste, die allein an Tischen mit rosa Tischdecken aßen. Neben der Tür standen Schusterpalmen, Decken und Wänden trugen Kaskaden von Rokokostuck. Abends thronte ein Schwan aus Eis auf dem angerichteten Büfett.
Tagsüber saß sie auf der Terrasse. Sie trank schlückchenweise Heilwasser und sah Europas müßige Horden an ihrem Tisch vorbeiflanieren: geschniegelte Deutsche, Tschechen, Österreicher, Schweden und, ein wenig abseits vom Rest, Juden und Engländer, denen man die innere Distanz ansah.
Helena fand es angenehm, an einem Ort allein zu sein, wo alle anderen auch allein waren. Aus irgendeinem Grund kam sie besser damit zu Rande als die Menschen um sie her. Morgens bekam sie Dampfbäder und, nach einer Woche, den Heiratsantrag eines schnurrbärtigen Pariser Anwalts. Sie sagte nein, sie habe Kinder und ein Haus in Polen – aber noch Tage danach spürte sie einen steinschweren dicken Knoten in ihrer Brust.
An einem Nachmittag wanderte sie in den Bergen. Sie ging an der letzten Seilbahnstation vorbei und weiter in den Wald hinein. Die Dämmerung nahte; kein Mensch weit und breit. Der Abend war erfüllt von ersten schalen Herbstgerüchen. Ein Hase schoß über den Weg, und sie hielt inne, um eine enge Schlucht hinunterzusehen, wo das V der Hänge sich zu einem weiten dunklen Meer von Baumwipfeln öffnete. Wie sehr sie Mantuski vermißte! Sie dachte an die Kinder, die Kuhställe, die Käserei, die Feuchtigkeit an den Flußufern und den letzten Herbst mit Adam vor zwei Jahren.
Als sie wieder aufblickte, sah sie, daß der Weg hangaufwärts eine scharfe Biegung machte. Ein Stein rollte in Sprüngen durch das Unterholz. Sie bemerkte die Gestalt eines Mannes in einem flaschengrünen, langen Mantel, der rasch den Weg in ihre Richtung heruntermarschierte. Sie begegneten sich in der Kehre. Trotz der anbrechenden Dunkelheit konnte sie seinen kahlen Rundschädel erkennen. Sie wollte ihn schon grüßen – da sah sie, als er um die Biegung kam, daß er eine schwarze Samtmaske trug, die nur Augen und Lippen frei ließ.
Helena war starr vor Schock. Der Mann stand vor ihr. Sie sah, wie er mit beiden Händen in den Mantel fuhr. Er schlug ihn auf; sein runzlig-bleiches Geschlechtsteil war entblößt. Er keuchte irgend etwas in einem viehischen Deutsch – und stürzte sich auf sie. Er stieß sie gegen einen Kiefernstamm, fummelte an ihrer Kleidung herum, preßte seine Hüften heftig an ihren Körper. Und die ganze Zeit, nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, starrte die unbewegte schwarze Maske sie lüstern an.
Sie versuchte, sich ihm zu entwinden. Der grüne Mantelstoff rieb rauh an ihrer Wange. Er nahm eine Hand von ihrer Schulter, und sie duckte sich; der Mann strauchelte, und sie war frei.
Sie rannte. Sie rannte den Berg hinunter, an der Seilbahnstation vorbei. Im Hotel ging sie auf ihr Zimmer und ließ sich ein Bad ein; sie hatte das Gefühl, ihre Haut wäre eine dicke Schmutzschicht, und sie verbrachte lange Zeit damit, sich im Wasser von oben bis unten abzuschrubben.
Zwei Tage danach sah sie den flaschengrünen Mantel wieder, wie er einen der kopfsteingepflasterten Plätze überquerte. An seinem Arm führte er eine Tschechin, mit der Helena sich im Hotel unterhalten hatte. Auch ihr Mann war kürzlich gestorben.
»Witwenschaft«, hatte sie Helena anvertraut, »ist etwas, was man nicht allzu lange ertragen möchte.«
Helena war im Wald, unweit vom Dorf Mantuski, an einem Frühlingstag, an dem der Frost der ersten richtigen Wärme des Jahres gewichen war. Sie ging mit einer Frau aus dem Ort spazieren, und sie redeten über Hunde, Bücher und die unaufhörlichen Prüfungen des Lebens.
Diese Frau war angeblich die uneheliche Tochter eines weißrussischen Generals. Sie war nach dem Krieg in Mantuski erschienen und hatte einen schweigsamen Waldarbeiter geheiratet. Wegen ihres plötzlichen Auftauchens hegten die Dorfbewohner einen leisen Argwohn gegen sie und nannten sie nie anders als »die Russin«. Doch hatte sie in der Unbedingtheit ihres Auftretens etwas von einer weisen Frau, und viele – Helena eingeschlossen – hatten gelernt, in Krisenzeiten ihrem Wort zu vertrauen. Unter einem Kopftuch trug sie eine Krone sandblonden Haars, und ihre Augen waren von einem auffallenden Zartbraun.
Im selben Monat, in dem Adam in Wilna gestorben war, hatte man den schweigsamen Waldarbeiter der Russin aufrecht stehend in einem Graben in der Nähe des Njemen erfroren gefunden. Zwei Tage war er darin gewesen. Sein Arm ragte aus einer tiefen Schneewehe vor, zu einer Birkenwurzel gereckt, die ihm geholfen hätte freizukommen.
»Nein«, sagte die Russin ruhig. »Ich werde nie wieder heiraten.«
»Wie können Sie nie sagen?«
Sie zuckte die Schultern.
»Aber wir sind nicht dazu gedacht, allein zu leben!«
»Das glaube ich nicht, Pani Helena. Ich halte mein Leid und meine Freude jetzt für zu groß, als daß ich sie mit irgendwem außer Gott teilen könnte.«
»Und was fängt Gott damit an?«
Die Russin warf Helena einen Blick zu. »Verlieren Sie nicht den Glauben. Verlieren Sie ihn nie.«
Wie dieser Rat sie wütend machte! Sie hatte ihn von einem Dutzend Priestern gehört; sie hatte ihn von Onkel Bischof gehört. Sie wußte, daß sie recht hatten, und das machte sie nur noch rasender.
Im Herbst 1936 kam Helenas Mutter zu einem längeren Aufenthalt. Arme Mama! Wenn Helena jetzt an ihre Mutter dachte, dann immer als »arme Mama«, diese zerbrechliche Frau, die von nichts anderem redete als von Polens großen Familien – den Radziwiłłs, Potockis, Zamoyskis – und nur die frühen Mystiker las – Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Thomas von Kempen. In Mantuski verbrachte sie ihre Tage in einem Ledersessel am Fenster. Sie schaute blinzelnd auf den Fluß, während sie Helena drängte, wieder zu heiraten.
Helenas Mutter lebte in der ständigen Furcht, die Russen würden kommen. In Wilna, wo sie eine große Wohnung unterhielt, suchte sie die beruhigende Gesellschaft von Priestern und Obersten. Freunde und Familie hatten sich als Enttäuschung erwiesen. Sie hatte sich schließlich auch mit Tante Anna zerstritten, die nach Südamerika gegangen war und einen jüdischen Komponisten geheiratet hatte.
Helena hatte alles mögliche versucht, um ihre Mutter aufzuheitern. Sie hatte Bridgeeinladungen und Mittagessen mit Gästen arrangiert, hatte die Kinder eine Reihe biblischer Szenen aufführen lassen. Es glitt alles an ihr ab.
Erst als sie anfing, sie in den Gutsbetrieb mit einzubeziehen, zeigte sie so etwas wie Interesse. Helena ging die Bücher durch, die Milcherträge, die Käseherstellung, den Holzeinschlag, besprach die Fruchtfolge mit ihr, Viehfutter, Löhne, neue Maschinen.
An einem Nachmittag bei tiefhängendem stahlgrauen Himmel wickelte Helena ihre Mutter in Pelze und nahm sie mit hinaus, um sich die Herde anzusehen. Die Kühe waren für den Winter eingestallt. Ein Ende des Stalls war gerade ausgebaut worden, weil geplant war, etwa zwanzig Färsen von den Frühjahrskälbern zusätzlich unterzubringen. Die neuen Boxen waren noch leer mit Ausnahme der letzten, einer größeren, in der die dösende Gestalt Goliaths stand.
Goliath hatte Smok als Mantuskis Zuchtstier ersetzt. Er war als verspieltes rotbuntes Kalb gekommen und dank der bewährten Ernährung mit Rüben und Vitaminen zu gewaltiger Größe angewachsen. Er war tief kupferrot gezeichnet, um die Augen hatte er weißen Flaum und weiter oben einen Puschel, der ihm auf der Stirn tanzte. Er stand in seiner Box wie ein großes Schiff im Trockendock.
Die alte Dame lehnte sich an die Querstange, tätschelte seine Lende und lächelte seit Wochen zum erstenmal. Helena erglühte vor Tochterstolz.
Von irgendwo weit her im Stall kam das gedehnte Stöhnen einer Kuh, und Goliath schnaubte.
»Achtung, Mama!« rief Helena. Goliath warf den Kopf hoch, drehte sich um und drückte dabei mit dem Hinterteil gegen die Stange. Metall rasselte, und Holz ächzte. Helenas Mutter machte einen Schritt zurück. Ihr Fuß verfing sich in der Abflußrinne, verdrehte sich, und sie fiel auf den Steinboden. Ihr Kopf landete ungefährdet auf Stroh. Aber ihr Bein steckte sonderbar abgewinkelt fest.
»Jesusmaria!« zischte sie. »Ich kann mich nicht bewegen.«
Mit Hilfe Barteks und eines Stallknechts transportierten sie sie in einem Schubkarren in die Klinika. »Hab’s ja gewußt, Pani Brońska«, sagte der Stallknecht, »daß das mit den neuen Ställen nix is, die sin ja gar nich geweiht worden.«
Helenas Mutter hatte sich das Bein gebrochen. Sie schienten es und brachten sie auf einer Strohunterlage zum Bahnhof. In Wilna ließ sie sich den Bruch einrichten, und nach drei Monaten konnte sie wieder gehen. Aber nach Mantuski kam sie nie wieder.
Im Dorf hatte sich die Nachricht schnell verbreitet. Ein solcher Unfall geschah zweifellos nicht zufällig, und die übereinstimmende Meinung war, daß irgend etwas nicht in Ordnung war.
Der Stallknecht hatte nicht ganz unrecht: Sie hatten nicht die vorschriftsmäßige Prozedur durchgeführt, bevor das Tier eingestallt wurde. Kein Gebet war auf der Schwelle gesprochen, kein Besen oder Beil in die Fundamente eingemauert worden. Entweder das Gebäude war schuld oder der Stier.
Widerstrebend holte Helena einen Priester, um den ausgebauten Kuhstall und die verschiedenen Gegenstände und Amulette segnen zu lassen, die nun darunter verborgen waren.
Doch im folgenden Frühjahr breitete sich eine merkwürdige Krankheit in der Herde aus, und vier Kühe mitsamt ihren ungeborenen Kälbern starben in schneller Folge. Die parobcy begannen dunkel etwas von einem »bösen Stier« zu murmeln. Da sie ihn nicht verkaufen konnte, war Helena gezwungen, ihn schlachten zu lassen.