19.

Anfang Januar 1993 erhielt Zofia einen Brief von einer in Polen lebenden Kusine. Ob sie in diesem Sommer mit ihr für ein paar Wochen in einen litauischen Kurort ginge?

Sie rief mich an, um meine Meinung zu hören. »Weißt du, Phiilip, was ich wirklich gern tun würde? Ich würde gern nach Wilna fahren, wo ich geboren bin. Soviel ich weiß, liegt dieser Kurort nur ungefähr hundertfünfzig Kilometer weiter westlich. Wenn ich einen Bus oder sonstwas fände . . .«

Ich mußte in jenem Sommer nach Rußland. Ich sagte ihr, ich könne hinkommen und sie abholen, und wir könnten zusammen fahren.

Am Vorabend des längsten Tages im Jahr stieg ich also in Birstonas, einem kleinen Litauer Heilbad, aus einem zerbeulten sowjetischen Bus. Ich überquerte den Platz und ging in Richtung Fluß. Die Pappelblätter flatterten im Wind; über der Stadt war gerade ein heftiger Regen niedergegangen, und auf der Straße standen schwarze Pfützen.

Jenseits der Stadt befand sich ein Komplex von Betonhotels. Ich fand das richtige, nahm den Fahrstuhl zum fünften Stock, ging einen schummerigen Korridor entlang und klopfte an die Tür von Zimmer 511.

»Phiilip! Ich habe gedacht, du schaffst es nie!«

Ich küßte Zofia auf beide Wangen und folgte ihr ins Zimmer. Sie trug einen hellblauen Rock, einen marineblauen Pullover und eine Plastikperlenkette. Sie drehte sich um und setzte sich. Ihr Gesicht mit seinem Netz feiner Fältchen, dem eingravierten Vermächtnis eines langen Lebens voll Zauber und Leiden, war gebräunt und leuchtete. Ich sagte ihr, sie sehe gut aus.

»Ja, das tue ich. Aber ich sage dir, zwei Wochen hier, und es reicht! Man ver-blö-det hier. Hätte ich nicht meine Bücher und den Njemen, ich wäre bestimmt wahnsinnig geworden.«

Auf dem Tisch vor ihr lagen zwei oder drei Bücherstapel. Ich entdeckte die Gedichte von Zbigniew Herbert, ein neues Buch von Kapuściński und eine Biographie von Daphne du Maurier: polnisch und englisch, Polen und Cornwall, ihre beiden Welten. Ich fragte sie, ob sie etwas geschrieben habe.

»Ja, ein paar Verse. Aber nur auf polnisch.«

Den Abend verbrachten wir mit ihrer Kusine und einigen anderen polnischen Witwen. Wir saßen in einem ihrer Zimmer und tranken eine Flasche Dubonnet und aßen Schokolade. Die späte Sonne schien zum Fenster herein und fiel auf das graue Haar und die altmodischen Kleider der Witwen; die Flasche machte die Runde, und sie erzählten ihre Geschichten, die fünfzig Jahre alten Geschichten, die immer gleichen Geschichten, auf die früher oder später jedes Gespräch hier hinauslief – die Geschichten von Verschleppung, Exil und Tod –, bis es so schien, als gebe es nichts mehr zu sagen. Schweigen legte sich zwischen uns. Von draußen drang das Geräusch eines Lastwagens herein, der den Gang wechselte, und Zofia sagte lächelnd: »Schluß mit dem Trübsinn! Jetzt wird gesungen!«

Sie sang ihr weißrussisches Lied, und dann stimmte eine der Frauen den »Roten Gürtel« an, und nach und nach fielen die anderen ein. Ihre Stimmen erfüllten den Abend, strömten aus dem offenen Fenster und hinunter zum Fluß. Sie bildeten ein seltsames Gemisch, diese polnischen Witwen, die eine mit einem manierierten Sopran, eine andere mit nuschelnder Klagestimme, noch eine andere lebhaft und schrill. Während sie so sangen, dachte ich an ihre Geschichten und sah in ihre Gesichter – in das derjenigen, die vor einem Monat ihren Mann verloren hatte, derjenigen, deren Schwiegermutter von einem deutschen Panzer zerquetscht worden war, derjenigen, deren gesamte Familie in Auschwitz umgekommen war, und derjenigen, die auf der Deportation nach Kasachstan eine Frau im Viehwagen sich den eigenen Hals hatte aufschlitzen sehen.

Das Singen hörte auf, und ich bemerkte in Zofias Augen den vertrauten Tränenschleier. »Mein Gott«, sagte sie, »denk nur, wieviel Glück wir alle gehabt haben! Was für ein verzaubertes Leben wir hatten!«

»Glück?« platzte ich heraus. »Wie kannst du das nur sagen, Zosia!«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Phiilip. Bedenk doch. Warum sind denn wir verschont geblieben, wo all die anderen zugrunde gegangen sind?«

 

Am nächsten Morgen verließen wir Birstonas und die polnischen Witwen und nahmen einen Bus in ein Gebiet von Seen, Kolchosenfeldern und bewaldeten Horizonten. Zofia war neugierig auf Vilnius. Sie gebrauchte den polnischen Namen Wilno.

»Das zeigt dir ganz gut, wie dumm und gedankenlos ich als Mädchen war. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, daß Wilna irgend etwas anderes als Polen sein könnte. Nie hat uns jemand in der Schule erzählt, daß Piłsudski einfach daherkam und es von Litauen annektierte – und das nur ein Jahr vor meiner Geburt!«

Wir fuhren über eine Hügelkuppe, und vor uns breitete sich Vilnius aus – ein Archipel alter Kirchtürme in einem Meer neuer grauer Hochhäuser.

Wir suchten nach dem Krankenhaus, in dem Zofia geboren worden war, aber ohne Erfolg. Wir überquerten den Platz vor dem alten KGB-Hauptquartier und gelangten zur St. Jakobskirche. Sie wurde gerade restauriert. Innen wuchs ein Netz hölzerner Baugerüste gleich einer kunstvollen Treppe bis zu den Gewölbedecken hinauf. Eine Gruppe von Frauen fegte den Baustaub vom Steinfußboden.

Zofia ging zu ihnen hin. »Wissen Sie«, sagte sie, »daß mein Vater vor zweiundsiebzig Jahren in der Nacht vor meiner Geburt hierher, in diese Kirche, gekommen ist und so intensiv gebetet hat, daß er über Nacht eingeschlossen wurde? Stellen Sie sich das vor!«

Die Frauen lächelten Zofia an und schauten auf ihre Kleidung. Sie verstanden keine Silbe Polnisch.

 

»Wenn ich nur wüßte«, sagte Zofia, als wir aus der Kirche traten. »Irgendwo hier war die Mickiewicz-Straße. Wir hatten da eine Wohnung – Nummer 62.«

Ich fragte einen Eisverkäufer nach dem Namen der Straße.

»Gedimino.«

»Und davor?«

»Davor?« höhnte er. »Stalin, Lenin, Hitler, suchen Sie sich’s aus . . .«

»Und vor dem Krieg? In der polnischen Zeit?«

»Ach damals! Damals hieß sie Mickiewicz.«

»Dann also«, sagte Zofia, »steht der Block am anderen Ende. Der letzte vor dem Fluß.«

Es war ein langer Weg. Kleine blaue Plaketten verkündeten die Nummern. Wir folgten den geraden auf der linken Seite. Nummer 60 war gegenüber dem neuen Parlamentsgebäude. Aber eine Nummer 62 gab es nicht, nur einen weiten Platz, die Straße und den Fluß.

Wir gingen zur Mitte des Platzes vor. Er war leer. Zofia blickte sich um und schüttelte den Kopf.

»Es ist alles so sonderbar, Phiilip! Weißt du, wenn ich mich jetzt als Sechzehnjährige hier über die Straße spazieren sähe, ich glaube wirklich, das Mädchen wäre mir vollkommen fremd.«

 

Wir gingen im Halbkreis am Fluß entlang zurück in die Altstadt. Zofia wollte die Wundertätige Muttergottes sehen. Die Kapelle, in der sie hängt, steht oberhalb eines der alten Stadttore, dem »Spitzen Tor«, der Ostra Brama. Davor tummelten sich Scharen von Bettlern und eine Gruppe autistischer Kinder. Eine Frau mühte sich auf den Knien die Stufen hinauf.

Im Innern der Kapelle stand Zofia mehrere Minuten vor dem Bild. Das Kerzenlicht spielte auf ihrem Gesicht. Um sie war das Andachtsgemurmel der Alten, Kranken, Neugierigen, der wenigen neuen Anhänger des postsowjetischen Katholizismus.

Das Bild selbst war ganz außergewöhnlich. Wenn man es betrachtete – das von Silber umschlossene, talgig verblaßte Gesicht mit den halbgeschlossenen Augen und der leicht geneigten Kopfhaltung (das angeblich das Gesicht der Barbara Radziwiłłóna zum Vorbild hat) –, wurde es immer trauriger und trauriger und noch trauriger, bis es schien, als sei keine Traurigkeit zu umfassend, kein Leiden zu groß, als daß die Heilige sie nicht auf sich nehmen könnte. Die Andächtigen und die Pilger hielten die Perlen ihrer Rosenkränze zwischen den Fingern und wiederholten inbrünstig Beschwörungsformeln, während sie sie wie in unentrinnbarer Trance anstarrten.

Zofia stand abseits, ohne Rosenkranz in der Hand, ohne Beschwörungsformeln auf den Lippen; ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von Verlorenheit, der so typisch für sie war, daß er einer Signatur glich. Ich habe nie entscheiden können, ob er dem Weinen näher war oder dem Lachen.

Unter dem Bild hing gleich einem Lächeln eine silberne Mondsichel. Rundherum waren Täfelchen über Täfelchen mit Gold- und Silberherzen, eingravierten Namen, betenden Figuren, silbernen Armen, Beinen, Händen und Füßen – und Mitteilungen: »Dank für die Erhörung meiner Herzensgebete. St. Petersburg 1912.«

Das war das Jahr gewesen, in dem Helena erstmals allein hierhergekommen war. Sie war dreizehn und hatte eben angefangen, mit ihrer Mutter die Klingen zu kreuzen. In der Ostra Brama, schrieb sie später, hatte sie ihre jugendliche Wut in einer Atmosphäre offensichtlichen Verständnisses herauslassen können.

Draußen regnete es, ein sanftes Nieseln, das die Umrisse der Gebäude verschwimmen ließ und wie Tautropfen an Zofias grauem Haar hängenblieb. Sie setzte einen wasserdichten Hut auf, den sie unter dem Kinn zuband.

»In den schlimmsten Kriegsjahren in London habe ich ein Gedicht über diese Muttergottes geschrieben. Es hat irgendeinen Preis bekommen. Ich weiß eigentlich nicht, warum, so gut war es nicht . . .« Und sie lächelte, als wir über das Kopfsteinpflaster zum Tor hinausgingen.

 

An einem Abend in Vilnius trafen wir uns mit einem polnischen Geschäftsmann und dessen Frau. Sie waren Freunde von Warschauer Freunden. Sie hatten eine Firma gegründet, die erfolgreich Fertignahrung aus Frankreich und Deutschland importierte. Nein, sagten sie, es gebe für die polnische Minderheit in Vilnius keine Probleme, jedenfalls nicht, solange man gute Geschäfte mache.

Wir aßen in einem neuen Restaurant. Die Zahl der Kellner übertraf die der Gäste mindestens im Verhältnis zwei zu eins. Wir saßen auf ledergepolsterten Stahlrohrstühlen an Rauchglastischen. Der Geschäftsmann tupfte sich den Mund mit der Serviette ab, berührte Zofias Arm und sagte: »Nachher möchten wir eine kleine Fahrt mit Ihnen machen, wir würden Ihnen gern die Neubauten zeigen.«

Es dämmerte. Wir fuhren aus der Altstadt hinaus, an der Allee vorbei, wo Helena 1915 gewohnt und die Ankunft der Zuchtpferde erlebt hatte; vorbei an der Kirche, in der sie 1918 fromm gebetet hatte, das Chaos möge enden, und wo sie ihren Rosenkranz so fest umklammerte, daß er, wie sie sich erinnerte, tiefe rote Male in ihrer Hand hinterließ.

»Meine Mutter hat hier irgendwo gewohnt«, sagte Zofia zu dem Geschäftsmann. »1915 und dann wieder 1918.«

»Tatsächlich?« sagte er.

»Und ich bin in einem Krankenhaus irgendwo dort geboren . . .«

»Interessant!«

Aber er verlangsamte keineswegs das Tempo.

Zum Stadtrand hin begannen die Neubauten. Sie füllten den Horizont, standen reihenweise vor dem dunkler werdenden Himmel, die Fenster schwach erhellt, die starr angeordneten Fassaden trotzig und kalt, eine Reihe hinter der anderen, wie Heizkörper, die darauf warten, eingebaut zu werden.

Die Frau des Geschäftsmanns drehte sich zu uns um. Sie lächelte. »Schön, nicht?«

Ich nickte.

Und dann waren wir mittendrin. Überall waren Kräne, Stapel von Spannbetonblöcken, aufgerissener Boden. Das Grau der Gebäude verschmolz mit dem Grau des Himmels. Die Bauten schienen endlos. Wir fuhren um einen Komplex von Häuserblocks herum, und dann kam der nächste und wieder der nächste, bis ich mir vorstellte, wir wären in einer Art finster-modernistischem Labyrinth, wo der Minotaurus ein gelber Erdbagger, Theseus ein Bauaufseher und das Wollknäuel nichts anderes als das verlängerte Maßband eines Baumeisters wären.

»Wenn Sie bedenken«, sagte der Geschäftsmann, vor Freude grinsend, »vor fünf Jahren war das hier nur ein Dorf. Ein Dorf! Und sehen Sie jetzt!«

Wie um seine Bemerkung zu veranschaulichen, erreichten wir den Ausgang des Labyrinths, und plötzlich sank der Horizont wieder bis zu den Waldwipfeln herab. Und da, zwischen aufgetürmten Grassoden und Betonrohren, stand auf einem höher gelegenen trockenen Eiland unberührten Bodens, von Obstbäumen halb verborgen, ein Holzhaus. Ein Hund war an einer Wand angekettet, und in einem der Fenster leuchtete ein einzelnes Licht durch die Vorhänge.