4.

In einer feuchten Mainacht überquerten wir die Grenze nach Weißrußland. Der Zug fuhr auf ein Rangiergleis, um auf riesigen hydraulischen Böcken angehoben zu werden – die polnischen Fahrgestelle rollten weg, die sowjetischen rollten darunter. Grenzwachen stiegen zu, um die Papiere zu prüfen; das Schmatzen ihrer Stempel tönte laut durch den Gang.

Nun waren wir in der alten Sowjetunion, und ich machte eine Flasche Wodka auf. Wir tranken auf den Grenzübertritt, und Zofia klopfte gegen die Flasche und sagte: »Ich glaube, wir brauchen sie noch mal. Hältst du sie bitte griffbereit?«

Wir erreichten Minsk etwa um zwei Uhr früh. Der Zug schleuderte uns auf einen dunklen Bahnsteig hinaus und raste dann weiter in die Nacht hinein, auf Moskau zu. Zofia fröstelte. Sie schaute auf die verschwommenen Reihen sowjetischer Gebäude, auf die fremden Formen der kyrillischen Schrift und sagte: »Ach! Was für ein trostloser Ort!«

Ihre Angst vor Rußland war etwas Elementares, Instinktives, etwas, was ihr mit den unwiderlegbaren Vorurteilen von Grenzlandbewohnern anerzogen worden war. Sie war im Schatten der neuen sowjetischen Grenze aufgewachsen, die etwa neunzig Kilometer östlich von Mantuski verlief. In jenen Tagen hatten nur Erzählungen deren Stacheldrahtrollen durchdringen können, Erzählungen und Leichen, die mit dem Gesicht nach unten im Njemen trieben. Zwei Dinge hatte sie intuitiv gelernt: daß flußaufwärts in Rußland Mädchen wie sie, liebe landbesitzende Mädchen, umgebracht wurden; und daß die Gefahr, wenn sie drohte, immer von Osten kam.

»Weißt du eigentlich, Phiilip, daß die ersten Russen, die ich je gesehen habe, die Soldaten in den Bäumen waren, als wir nach Litauen flohen?«

Und nun war sie hier, ein halbes Jahrhundert später, um zwei Uhr morgens, östlich von ihrem alten Zuhause, das erstemal auf sowjetischem Boden.

Kriegsähnliche Finsternis hing über der Stadt. Ich trieb ein Taxi auf, das auf der Suche nach einem Hotel durch die unbeleuchteten Straßen kroch. Im ersten Hotel hieß es »Njet!«. Im zweiten machte die Frau an der Rezeption sich nicht einmal die Mühe, »Njet!« zu sagen, sondern schüttelte bloß den Kopf. Im dritten sagten sie »Njet!«, und der Taxifahrer kam mit hinein, um zu verhandeln. Sie sagten immer noch »Njet!«.

Der Fahrer und ich traten wieder auf die Straße hinaus. In unserer Abwesenheit war ein Mann ins Auto gestiegen. Ich konnte erkennen, daß Zofia sich auf dem Rücksitz duckte. Ich rannte hinüber, als er eben hinaussprang, auf die andere Seite entwischte, auf das Wagendach hämmerte und dann mit den Armen zu schlagen anfing wie ein Vogel. Ehe wir ihn aufhalten konnten, war er unter viehischem Gebrüll auf und davon.

Ich machte die Wagentür auf. Zofia lachte, aber in der Dunkelheit sah ich, daß sie ihre Handtasche fest umklammert hielt. Ihre Hände zitterten.

»Gott sei Dank bist du zurückgekommen! Was meinst du, war der verrückt oder bloß betrunken?«

Wie auch immer, es bestätigte ihre schlimmsten Vorurteile.

Wir kehrten zum ersten Hotel zurück und schafften es schließlich, ihnen zwei Zimmer abzuringen. Dabei stand das Hotel faktisch leer. In einem Zimmer im achten Stock machte ich den Wodka wieder auf und schenkte zwei Gläser ein.

»Also dann, Zosia«, sagte ich, »auf gutes Gelingen!«

»Aufs Gelingen«, sagte sie lahm.

»Hast du Angst?«

Sie sah mich an und nickte.

»Wovor?«

»Ich weiß es nicht, Phiilip. Ich habe nur so eine dunkle Ahnung. Vielleicht ist dies alles Wahnsinn. Ich meine, wie können wir denn dorthin zurück? Wie können wir je dorthin zurück?«

Ich versuchte, es mit ihren Augen zu sehen. Aber wie denn? Helenas Tagebücher zu lesen hatte mich lediglich begreifen lassen, wie weit weg das alles war, wie vollständig 1939 ihrer beider Leben zweigeteilt hatte.

Sie machte sich an ihrem Uhrarmband zu schaffen, den Blick gesenkt. »Ich weiß nicht, Phiilip, ich weiß einfach nicht . . .«

Als sie wieder aufsah, sagte sie: »Erinnerst du dich daran, was Konrad Lorenz über diese Ratten gesagt hat, wie sie, wenn eine getötet wird, die Stelle mit ihrem Urin markieren? Dann wissen die anderen, daß sie nicht dahin zurückdürfen . . . und ich bin hier – und im Begriff zurückzugehen! Es ist Wahnsinn!« Sie ergriff ihr Glas. »Noch einen Wodka, Phiilip! Dann gehe ich ins Bett.«

Ich stolperte über den kaum beleuchteten Flur in mein Zimmer zurück. Ich konnte nicht schlafen. Ich stellte die Flasche auf den Fenstersims und schaute hinaus. Minsk zwinkerte matt in der Nacht. Diese niedergetrampelte glücklose Stadt! Zweimal zerstört – einmal im ersten Krieg, noch einmal im zweiten. Achtzig Prozent der Städte und Dörfer Weißrußlands waren im zweiten Krieg zerstört worden; jeder vierte Einwohner war umgekommen. Zofia war damals siebzehn; beim erstenmal war Helena siebzehn gewesen.

Ich mußte über die Muster nachdenken, die die Lebensläufe dieser beiden quer über dieses dunkle Jahrhundert gezogen hatten. Helena war mit ihm volljährig geworden, hatte zugleich mit ihm ihre Unschuld verloren, erlebte 1917 in St. Petersburg den Beginn seines großen und glorreichen Experiments, desselben Experiments, das sie mehrmals zwang zu fliehen, um ihr Leben zu retten. Zofia und das neubegrenzte Polen wurden im selben Jahr geboren, polnische Zwillinge, und beide waren sie siebzehn, als die Grenzen zerbrachen: siebzehn, 1917, der 17. September, die 17 auf dem fernen flatternden Großsegel der Memory.

Czesław Miłosz war zehn Jahre vor Zofia in derselben Stadt, in Wilna, zur Welt gekommen. »1914«, schrieb er einmal, »war die Manifestation aller Schwächen Europas und seines Endes . . . der ersehnte Krieg der Nationen hatte Polen als postume Schöpfung wieder zum Leben erweckt.«

Während ich meinen Blick über die unbelebten dunklen Pfade des modernen Minsk schweifen ließ, an Helena als junges Mädchen dachte, an Zofia als junges Mädchen, an das Rußland Turgenjews und Tolstois, das Polen Mickiewiczs und Reymonts, erschien mir das eine zwingende Idee: in einem postumen Europa zu leben, einem Europa, das im Tod genau die Fehler wiederholte, die es im Leben begangen hatte.

 

Am nächsten Morgen war es heiter; von meinem Fenster aus konnte ich auf den Stadtseen noch den Frühdunst liegen sehen. Zofia war schon auf, war schon im Frühstücksraum des Hotels, umgeben von Kaffee, Büchern und Brot, und schon im Gespräch mit einem Mann namens Wladimir.

Wladimir war ein Riese. Er hatte dichtes schwarzes Haar und behaarte Bärenpranken. Seine Geschichte, so wie er sie erzählte, begann 1940, als ein polnisches Mädchen, ein zartes polnisches Dorfmädchen, zum erstenmal das kleine Bündel in Armen hielt, das einmal Wladimir werden sollte. Sein Vater, erzählte sie ihm, war ein russischer Offizier. Der Krieg hatte ihn in das Dorf gebracht, der Krieg hatte ihn wieder mit fortgenommen. Lange Jahre hatte Wladimir sich gefragt, wer dieser Mann war, dieses Phantom von Mann, das sein Vater war. Während seines Militärdiensts begann er mit der Suche: sie dauerte fünfzehn Jahre. »Fjunfzehn Jahrren suchen!«

In Moskau hatte er einen gewissen Erfolg. Er spürte einen weiteren Sohn dieses Mannes auf. Anscheinend hatte Wladimir zwölf über die gesamte Sowjetunion verstreute Halbbrüder. Mittels einer Reihe von Briefen kamen sie überein, sich alle in Moskau zu treffen.

»So, wann ich sie sehen«, erklärte Wladimir, »wann ich sie sehen auf Bahnhof, ich alle umarrmen. Zwjolfmal umarrmen! Und kommen Trränen und mir rrollen an Wangen herrunter wie Errbsen. Wie diicken grroßen Errbsen!«

Nachher, als Wladimir seine Aktentasche in die neuen Ungewißheiten des Morgens mitgenommen hatte, sagte Zofia mißbilligend: »Mein Gott, wie diese armen Leute weinen!«

Später fand ich sie auf ihrem Zimmer über ein Buch gebeugt; auch sie hatte geweint.

»Die Hunde . . . Bei der Flucht, weißt du, mußten wir sie zurücklassen, wir haben sie allein gelassen . . .«

Sie las gerade den Bericht eines verwundeten Partisanen, der sich 1940 in einer Höhle versteckt hielt. Ein zum Skelett abgemagertes Geschöpf war am Eingang der Höhle aufgetaucht, hatte dem Partisanen das Gesicht geleckt und sich dann neben ihm zusammengerollt, tot.

»Vielleicht war es einer von unseren . . .«

Und die Tränen liefen ihr wie Erbsen die Wangen herunter.

 

Wir verließen Minsk ein paar Tage danach auf einer von blau-, grün- und gelbgestrichenen Holzhäusern gesäumten Straße. Unsere Verbindungsleute hatten einen Lada und einen russischen Fahrer namens Andrej aufgetrieben.

Wir fuhren nach Westen, ließen die Ausläufer der Stadt hinter uns und kamen in den Wald. Den Morgen verhängte ein trüber, regenträchtiger Himmel. Das Land unter ihm hatte sich flach gemacht und in die Schatten verkrochen. Wir sprachen nicht. Der Wald wurde dichter, die Ortschaften wurden seltener, wichen dann gänzlich der Puszcza Nalibocka, einem ausgedehnten Waldgebiet voller Wisente, das die Größe einer kleinen Grafschaft hat. Der Regen begann in dicken Tropfen zu fallen, die sich über die Windschutzscheibe verteilten. Andrej hielt, sprang hinaus, preßte mit der einen Hand seine Jackenaufschläge zusammen und befestigte mit der anderen die Scheibenwischer.

Die Wolke sank tiefer. Sie wickelte sich um die Kiefernspitzen. Dann und wann kamen Lichtungen, doch jenseits davon wieder Bäume, wieder Wald. Der Eindruck war der einer unerbittlichen Ewigkeit.

Zofia seufzte. Sie schaute aus dem Fenster, sah die Bäume vorbeihuschen. Ich spürte ihren inneren Aufruhr, sah in ihren Augen einen Schatten der Katastrophe von damals. Wir redeten nicht.

Die puszcza hörte auf, und die Bäume wichen Feldern. Vieh sprenkelte die feuchten grünen Flächen, und dann auf einmal brachen die Wolken auf, und die Sonne schien. Sie beschien Wiesen und Feldwege, die dampfenden Strohdächer von Heuschuppen. Der Njemen war jetzt ganz nah. Mantuski war keine Stunde mehr entfernt.

Zofia drehte sich zu mir und flüsterte lächelnd: »Weißt du, Phiilip, ich kann es kaum glauben! Noch vor Sonnenuntergang werde ich in Mantuski sein, nach dreiundfünfzig Jahren – und ein Russe fährt mich dahin, der überhaupt nicht darauf aus zu sein scheint, mich umzubringen!«

 

Wir bogen von der Hauptstraße ab und fuhren über einen spärlich geschotterten Weg auf das Dorf Mantuski zu. Es bestand aus einer langen Straße mit zwei Reihen von Holzhäusern. Zwischen den Häusern blinkte das blasse Fischrückenblau des Njemen.

Wir hielten neben dem Dorfbrunnen. Ein alter Mann kam gemächlich die Straße heraufgetrottet, mal im Schatten der Kastanien, dann wieder nicht. Die Sonne stand tief hinter den Bäumen.

Nach einer Weile langte der alte Mann bei uns an. Mit schiefgelegtem Kopf musterte er uns nacheinander. Zofia gab ihm die Hand und sagte zu ihm: »Ich bin Panna Brońska. Zofia Brońska.«

Der alte Mann blinzelte. »Was?«

»Ich bin Zofia Brońska.«

»Zofia Brońska?«

»Ja.«

Er nahm seine Mütze ab, zwinkerte wieder. Sah sie an und runzelte die Stirn. »Die kleine Zośka?«

Sie nickte.

»Nie . . . nie prawda . . . nie prawda, die kleine Zośka auf ihrem Pony! Am Fluß, in einem roten Kleid und mit Zöpfen . . . Panna Zośka, Panna Zośka, nie prawda, nie prawda . . .«

Die Tränen überkamen ihn, und er konnte nicht weitersprechen.

Zofia beugte sich zu dem alten Mann und küßte ihn, auch sie weinte. ». . . mein Pony, ja, Sie erinnern sich daran, und an das rote Kleid . . .«

Der alte Mann machte sich wieder von ihr los. Mit nassen Augen sah er sie an. »Aber warum«, stotterte er, »warum sind Sie so alt?«

 

Ich fragte ihn nach dem Haus.

»Das Haus? Der dwór?« Der alte Mann versuchte mühsam, sich eine Zigarette anzuzünden. »Nie ma!« sagte er und inhalierte heftig. »Nie ma domu.«

Das war es also: nie ma domu. Es gab kein Haus. Ich sah zu Zofia hin; sie schien zu benommen, um das in sich aufzunehmen.

»Wir sollten auf jeden Fall nachsehen«, sagte ich.

Wir fuhren weiter, durch das Dorf hindurch, an den letzten Häusern vorbei. Zofia paßte genau auf.

»Es war ein ganzes Stück weit weg vom Dorf . . . diese Hütten sind neu . . . da war ein Kreuz, Michałs Kreuz hieß es bei uns, ich weiß nicht mehr genau, wo . . . und dann kam die Auffahrtsallee. Aber ich kann hier nichts davon erkennen . . .«

Wir kamen wieder in den Wald. Zu unserer Linken, in einiger Entfernung hinter den Bäumen, war der Njemen. Wir fuhren langsam weiter, und der Wald machte einem großen Kartoffelacker Platz.

»Nein, das muß schon zu weit sein.«

Wir nahmen eine Abkürzung durch den Wald zum Fluß und am Fluß entlang zurück.

»Oh, der Njemen . . . sieh doch nur . . .« Zofia schaute auf das ungestüm dahinwirbelnde Wasser. »Vielleicht ist ja vom Haus einfach nichts mehr übrig, wirklich gar nichts . . .«

Ich ärgerte mich über ihre Nonchalance, über die Nonchalance des alten Dorfbewohners. »Irgend etwas muß dasein!« sagte ich. »Bist du sicher, daß du hier nichts wiedererkennst?«

»Nur sehr vage . . . den Fluß . . .«

»Was ist mit diesen Gebäuden?« Vor uns lagen einige niedrige landwirtschaftliche Gebäude.

»Ganz entfernt . . .«

Aber ich sah, daß sie neu waren. Möglicherweise hatte sie recht. Und möglicherweise machte es nichts. Vielleicht war es bloß Pedanterie meinerseits, das Bedürfnis, wenn schon nicht nach Mauern und Dach, so doch zumindest nach irgendwelchen Trümmern, nach einem Leichnam zu empfinden.

»Warte mal.« Zofia lehnte sich nach vorn. »Das da muß die Ziegelei gewesen sein. Dann war das Haus irgendwo hier in der Nähe.«

Wir fuhren durch den Hof einer Kolchose. Zwei Pappeln erhoben sich an einem Brunnen.

»Nein, nein, hier ist es nicht richtig.« Zofia ließ sich zurückfallen. »Es ist alles so verändert.«

Hinter der Kolchose unterbrach ein struppiger hoher Baum den Horizont. In Helenas Tagebüchern hatte auf dem Rasen vor dem Haus eine Lärche gestanden.

»Die Lärche da, Zosia. Was meinst du?«

Sie lehnte sich wieder vor. »Ich glaube, du könntest recht haben – ja . . . ja, das ist sie!«

Wir stiegen aus und gingen über einen grasbewachsenen Weg durch eine Obstwiese darauf zu. Die Lärche stand auf einer niedrigen Erhebung.

»Das ist die Lärche!«

»Wo ist dann das Haus?«

»Dort!«

Ich folgte ihrem Blick: der eine oder andere Busch, einige große Haselnußsträucher und darunter die kümmerlichen, grasüberwachsenen Reste irgendwelcher Mauern. Das war alles.

Zofia legte eine Hand an die Wange. »Du meine Güte! Das arme Haus hat sich davongeschlichen!«

Sie stieg auf die Trümmer, zog einen kleinen Plastikbeutel aus ihrer Manteltasche und füllte ihn mit Erde. »Um sie über meinen Sarg zu streuen«, erklärte sie und mußte plötzlich über sich selbst lachen, über die Bäume, die Absurdität des Ganzen, über den unfaßlichen Abstand zwischen ihren zwei Leben.