21.

In einem der ersten Winter – es ist nicht klar, in welchem – verzeichnet Helena die Rückkehr von Onkel Alek nach Mantuski. Sie und Adam saßen spätabends allein in ihrem neuen Wohnzimmer, als eine Reihe dumpfer Geräusche ertönte.

»Wer ist das, Liebster?« fragte Helena, ohne von ihrer Lektüre aufzublicken.

Adam hob stirnrunzelnd die Hand. Beide hörten sie, wie die Türen im Flur zur Küche eine nach der anderen geöffnet und wieder geschlossen wurden. Dann lächelte er. »Onkel Alek . . . Es ist Onkel Alek! Er ist wieder da!«

Aleksander Broński war ein sehr entfernter Verwandter. Er war im ersten Teil des vergangenen Jahrhunderts geboren, wenige Jahre, nachdem Napoleon über den Njemen zurückgejagt worden war. Mit dem siegreichen Zaren als Namenspatron schlug er die Militärlaufbahn ein, zeichnete sich im Kaukasus aus, wo er wagemutige Spähtrupps die Nachschublinien entlangführte, und hielt im Krimkrieg ein uneinnehmbares Reduit, wo er und ein griechischer Pulverbursche als einzige überlebten. 1856 nahm er, hochdekoriert und mit Ruhegehalt, seinen Abschied und kaufte Mantuski.

Aleksander war es, der das alte Haus gebaut hatte. Er riß einen bescheidenen dwórek ab, errichtete ihn neu und erwarb zusätzlichen landwirtschaftlichen Grund und Wald. Er beteiligte sich an den üblichen Kartenspielrunden, Jagden und Banketten und machte Stippvisiten in St. Petersburg, wo er in der Regimentsmesse Wodka trank und »die Zigeunermädchen aufsuchte«. Dann fiel sein Auge auf eine junge Russin, eine nicht allzu vermögende Erbin, die nördlich der Pripjetsümpfe zu Hause war.

Einen ganzen Herbst lang ritt er von Mantuski aus zweimal im Monat dorthin und versuchte sie zu überreden, ihn zu heiraten.

»General Broński«, sagte ihre Mutter zu ihm, »Sie sind ein Mann von Format. Aber Sie sind unpassend für meine Tochter. Sie sind Pole und Katholik und haben schon zu viele Stuten in Ihrem Stall gehabt.«

Doch er blieb hartnäckig. Im Januar stürmte er bei Schneegestöber in einem knöchellangen Wolfspelzmantel ins Haus. Das Mädchen war allein. Er warf den Mantel ab und kniete vor ihr nieder. Unter dem Mantel trug er nichts.

»In all meiner Blöße«, rief er, »bitte ich Sie, mich zu heiraten.«

Nachdem das arme Mädchen ihn so gesehen hatte, fühlte sie sich moralisch verpflichtet, seinen Antrag anzunehmen. Sie zog nach Mantuski. Sie gebar Broński fünf Söhne und führte seinen Haushalt. Aber es dauerte nicht lange, bis der alte General wieder zu vagabundieren begann. Er blieb wochenlang in St. Petersburg und brachte in späteren Jahren eine seiner Geliebten als »Gouvernante« mit nach Mantuski. Um das Gerede der Diener zu unterbinden, mußte seine Ehefrau im selben Raum hinter einem Wandschirm schlafen.

In den Augen der Mehrheit war es Onkel Aleks lasterhaftes Leben, das ihn dafür bestimmte, in Mantuski zu spuken. Aber es gab noch eine andere Theorie. Um seine russische Braut heiraten zu können, hatte Aleksander Broński seinem katholischen Glauben abschwören müssen. Er wurde auf dem orthodoxen Friedhof beigesetzt. Von solch einem heidnischen Ort aus, betonten die gottesfürchtigeren Familienmitglieder, konnte ein Broński unmöglich in den Himmel gelangen.

Laut Zofia war Aleksander Broński ein trauriges Gespenst. Er wanderte in den Fluren des neuen Mantuski, drückte Türklinken herunter, schlurfte durch die Diele, brachte die Treppenstufen zum Knarzen. Die Standuhr in der Diele ging während seiner Besuche immer nach – die einzigen Momente, in denen sie versagte.

Zofia erinnert sich, ihn an ihrem Bettende sitzen gesehen zu haben, in seinem Wolfspelzmantel, eine Kerze in der Hand. »Er sah so unglücklich aus!« Sie begann sich vor seinen Besuchen zu fürchten.

»Wir müssen ihn loswerden«, sagte Helena zu Adam.

»Helena!«

»Nein, Adam. Er muß weg. Das wäre das Beste für ihn wie für die Kinder. Ich schreibe an Onkel Bischof.«

Also kam Onkel Bischof von seinem Amtssitz angereist. Er hievte seinen stattlichen Korpus von Zimmer zu Zimmer, in den Händen Gebetbuch und Aspergill; in jedem Raum schlug er das Kreuzzeichen, murmelte ein Gebet und sprengte Weihwasser auf den Boden.

Den ganzen Winter hindurch machte das Gespenst sich nicht mehr bemerkbar. Den folgenden auch nicht. Zofia schlief gut. Die Nächte waren ruhig. Und man nahm an, daß trotz aller weltlichen Sünden, trotz des nackt vorgetragenen Heiratsantrags, des Ehebruchs und des Abfalls von Rom sich im Himmel doch noch ein Winkel für den armen alten Onkel Alek und seinen Wolfspelzmantel gefunden hatte.

Doch mehrere Jahre später bemerkte Helena eines Morgens, daß die Uhr fünfunddreißig Minuten nachging. In der folgenden Nacht sah sie draußen ein Licht, das sich zwischen den schneebedeckten Büschen bewegte. Sie hörte das Knarren der Dielenbretter und dann einen Schrei aus Zofias Zimmer. Sie öffnete die Tür.

»Er war da, Mama, an meinem Bett . . . Warum kann er nicht fort? Warum, Mama? Wenn er tot ist, warum kann er dann nicht in den Himmel?«

 

In Mantuski trafen Zofia und ich eine Frau namens Pani Cichonia, die in einem neuen Haus gegenüber der Ruine des dwór wohnte. Sie hatte knallrote Backen und immer einen ängstlichen Gesichtsausdruck.

»O ja, das Gespenst. Es wurde etwas von einem Gespenst gemunkelt, als wir hierherzogen. Und wissen Sie, Pani Zofia«, ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, »im Winter ist manchmal ein Licht dort in den Bäumen, ein Licht, das da drüben hin und her schwingt . . .« Und sie nickte in Richtung des Gestrüpps, das auf den Trümmern von Mantuski gewachsen war.

Zofia seufzte im Weggehen. »Er hat immer eine Windlaterne dabeigehabt, wenn ich ihn sah . . .«

Also schien der arme alte Onkel Alek trotz allem, trotz Krieg, Niederbrennen des Hauses und Jahren des Kommunismus noch immer keinen Ausweg aus seinem ruhelosen Umherirren auf Erden gefunden zu haben.

 

In Zofias Wohnzimmer in Braganza hängt ein Bild von Mantuski. Es ist die Kopie einer Fotografie und wurde nach dem Krieg in Auftrag gegeben. Es zeigt die langgestreckte, niedrige Fassade, den Turm mit den Fenstergauben, den von Geißblatt und Rosen umrankten hölzernen Vorbau. Das Bild hat ein wenig von der glatten Hübschheit einer Pralinenschachtel. Als es 1946 gemalt wurde, wußte keiner, daß das Haus schon zerstört war. Nun ist es alles, was davon übrig ist.

Eines Nachmittags in Braganza, als Zofia unter diesem Bild saß, erzählte sie mir, sie habe eine Reihe von Notizen gefunden, die ihre Mutter vom Alltagsleben in Mantuski gemacht hatte. Sie holte aus den Tiefen eines Schranks einen Ordner mit maschinegeschriebenen Blättern. Die Blätter waren mit den Jahren vergilbt, und auf dem Umschlag stand »Der Gutsbetrieb in Mantuski«:

 

Im März 1924 brachen Adam und Bartek von Mantuski nach Westpolen auf. Nach sechs Wochen kamen sie mit einem Dutzend junger Holländerkühe und einem Stier zurück, die sie vor sich hertrieben. Der Stier hatte ein schwarzes Mal auf dem Rücken, das genau der Form eines Sattels entsprach. Diese Rinder bildeten die Grundlage der Milchviehherde von Mantuski. 1939 lag der Bestand bei 120 Kühen und 60 Färsen. Die Milch wurde zu Käse verarbeitet, den Broński-Käsen, die jede Woche in Kisten verpackt und mit Pferdewagen nach Lida transportiert wurden und von dort in die Läden von Wilna und Warschau gelangten.

 

Zu Mantuski gehörten zweitausend Hektar Kiefernwald und etwa eintausend Hektar Heuwiesen und Weideland, hauptsächlich entlang des Njemen. Die Krume war magerer Sandboden; das war der Grund für die allgemeine Armut der Dörfer. Hafer und Buchweizen waren am einfachsten zu ziehen, aber da es reichlich Rindermist gab, wurde immer wieder mit neuen Feldfrüchten experimentiert.

 

In den ersten zwei Jahren wurde nur genug Käse für das Haus und die parobcy hergestellt. Helena selbst befaßte sich damit, brachte die Milch zum Gerinnen, teilte den Bruch mit einem Käsespatel in Würfel, preßte sie und wendete sie täglich auf ihren Regalen in dem Spezialkeller nahe dem Flußufer.

 

Der dwór hatte keinen Strom. Adam hatte gesagt, wenn das Dorf Strom bekomme, dann auch Mantuski, aber nicht vorher. (Letztlich erreichte die Stromversorgung erst 1961 die Kolchose Mantuski.)

 

In der Küche regierte Urszula. Den Sommer über legte sie Gurken ein und kochte Kompott aus Kirschen, Pflaumen und Birnen. Sie war eine hervorragende Köchin, beklagte sich jedoch beständig über Helenas Hunde. »Zu was sind Hunde nütze?« war ihre Rede. »Sie geben weder Pelz noch Milch, noch Fleisch.«

 

Helena legte die Obstgärten 1924 an. Sie gediehen rasch. Apfelbäume, Birnbäume, Kirschbäume und mittendrin die von Druków mitgebrachten Bienenstöcke. Zur selben Zeit pflanzte sie auch eine Lärche (die als einziger Baum den Krieg überstand und uns zu den Trümmern des Hauses geleitet hatte). Es gab Gewächshäuser mit Tomaten und sogar Melonen. Jeden Mittwoch verkaufte Waldek den Überschuß in Iwje auf dem Markt und kam mit Salz, Paraffin, Petroleum und »Kolonialwaren« wie Zucker und Kaffee zurück.

 

In Mantuski gab es einen Zimmermann und einen Hufschmied. In gemeinschaftlicher Arbeit bauten sie alle Karren und Kutschwagen und in den Anfangsjahren einen Großteil der Möbel. Von Lida wurden jeden Winter Eisenstangen geliefert, die geschmolzen und zu Ofentüren, Teilen fürs Pferdegeschirr und Nägeln geschmiedet wurden. Der Schmied war ein hochgewachsener und ernster Mann, der zurückgezogen lebte und dem man das Zweite Gesicht nachsagte.

 

Pferde. Mantuski war berühmt für seine Pferde. Jeder der parobcy war für zwei Arbeitspferde verantwortlich. Helena bot einen hohen Bargeldbonus für das am besten gehaltene Paar. Sie war gewöhnlich entsetzt von den klapperdürren Tieren, die sie auf anderen Gütern sah. Der gute Gesundheitszustand der Pferde von Mantuski habe sie 1939 gerettet, sagte Zofia.

 

Es waren immer Bücher im Haus, paketweise aus Wilna mitgebracht. Bücher auf französisch, englisch, deutsch und polnisch. Wochenzeitungen kamen mit der Post, und in späteren Jahren lag stets ein Exemplar der Pariser Revue des deux mondes, die sie abonniert hatten, auf einem runden Holztisch in der Bibliothek. Dies, fügte Zofia hinzu, war die Zeitschrift, die immer die interessantesten Gespräche auslöste.

 

Nach dem Frühjahrshochwasser im April weidete die Herde auf den Flußwiesen. Sie verließ die Kuhställe jeden Morgen nach dem Melken um 4 Uhr früh. Zum Mittagsmelken wurden die Milchkannen zu den Weiden hinausgefahren, die Kuhmägde saßen auf den Wagen. Unmittelbar danach wurde die Milch aufgeteilt, ein Teil wurde für das Haus, die Kälber und die parobcy beiseite getan, der Rest zum Käsen verwendet.

 

Im Sommer schwamm Helena jeden Morgen im Fluß. Nach dem Frühstück machte sie ihre »Runden« ritt zur Käserei, den Kuhställen und besuchte Kranke im Dorf.

 

Mehr als alles andere zeigen Helenas Aufzeichnungen aus dieser Zeit ihre innige Beziehung zum Land. Wenn sie vom Land sprach, dann immer mit Leidenschaft, wenn nicht Ekstase. Und doch schrieb sie 1933:

 

Die Einsamkeit von Mantuski! Sie ist kein Spaß. Niemand kommt im Winter. Keine verwandte Seele, mit der man reden könnte. Niemand, den man um Rat fragen kann. Adam ist immer fort, und wenn er sonntags zurückkommt, stehen die Leute Schlange, um ihn zu sprechen. Ich bin noch jung und Geselligkeiten, Theater und Unterhaltung gewöhnt. Und alles, was es hier gibt, sind Dörfer mit weißrussischen Bauern, die einen Groll auf uns haben. Ich bin für jedes menschliche Wesen und für jedes Tier im unmittelbaren Umkreis und für die Lösung jedes Problems verantwortlich. Die eisige, weiße, schweigende Einsamkeit dieser Winter, die endlosen grausamen Winter. Sie haben mich gebrochen, und ich fühle mich ständig krank und unglücklich . . .

 

Mehrere Jahre später fand sie zu einer gemäßigteren Einschätzung:

 

In diesen letzten Jahren habe ich gelernt, Mantuski zu führen. Ich habe gelernt, mit den Leuten umzugehen. Alles ist gut gelaufen, alles geht glatt und leicht. 1937  38 hat sich die Lage des Guts stetig verbessert, es ist zu Wohlstand gekommen. Ich bin jetzt glücklich, wenn ich hier allein bin, mehr als glücklich, umgeben von Freunden und Liebe. Gezähmte Menschenwesen, gezähmte Tiere.

 

Und das ist der Eindruck, der bleibt. Trotz des »brodelnden Kessels«, trotz Mühsal und Enttäuschungen, trotz des Murrens in den Dörfern war Mantuski Helenas Leben. Das Land, das Haus, ihre Familie, das neue Polen gehörten zusammen, waren miteinander verbunden in einem dichten Zusammenwirken von Erneuerung und Wachstum, das sich während der zwanziger Jahre Bahn brach. Und erst gegen Ende und in ihren dunkleren Momenten gestand sie sich ein, daß sie alle von geborgter Zeit lebten.

 

Zofia hat ein paar ganz deutliche Erinnerungen an die frühen Jahre in Mantuski.

In der ersten bringt eine Gouvernante sie zu Bett. Die Gouvernante sagt zu ihr, sie müsse immer mit den Händen auf der Decke schlafen. Auf der Decke! So! Das verwirrte Zofia, und sie fragte, warum. Um Unreinlichkeit zu vermeiden! Aber es bedeutete doch nur, daß die Hände kalt wurden. Sie steckte sie unter die Decke, sobald die Gouvernante gegangen war. Das ergab alles sehr wenig Sinn.

Dann erinnert sie sich an die Ankunft ihres ersten Ponys. Zofia werden gerade die Haare gewaschen. Sie sieht das Pony vom Fenster aus und rennt hinaus, mit klitschnassem Haar, aus dem das Wasser rinnt und tropft. Sie springt auf und kantert rund um den Rasen unter der Lärche. Das Pony ist sehr klein; es heißt Karmelek, was Karamelbonbon bedeutet.

Die dritte Erinnerung ist die früheste. Sie liegt in einem Kinderwagen in einer Art Laube. Es ist Herbst, und die Blätter fallen; sie fallen auf den Kinderwagen, in den Schlafsack, rund um ihren Kopf – papierene Kastanienblätter, die vom Himmel herabschweben.

»Weißt du«, sagte sie zu mir, »wenn ich an Mantuski denke, habe ich dabei immer dieses Unterwassergefühl. Diese Blätter haben etwas von flachen Steinen, die in einem Fluß zu Boden sinken . . . Alles ist in Grün getaucht, die riesigen Linden, alles in langsamer Bewegung . . .«

An noch eine Szene erinnert Zofia sich aus jenen frühen Jahren. Sie stand bei der Lärche vor dem Haus. Sie war neun oder zehn Jahre alt. Der Gärtnersohn kam über den Rasen auf sie zu. Er schlug mit einem Stock gegen den Lärchenstamm und sagte dann: »Weißt du, woher die kleinen Kinder kommen?

»Ja«, sagte Zofia.

»Woher denn?«

»Die Störche«, antwortete sie. »Die Störche bringen sie in ihren Schnäbeln aus Afrika.«

Der Gärtnersohn lachte. »Und das glaubst du?«

Sie nickte lahm.

»Das ist Quatsch!«

»Woher denn dann?«

»Willst du das wirklich wissen?«

»Ja.«

»Bestimmt?«

»Ja.«

Er beugte sich vor, um es ihr ins Ohr zu flüstern. Sie fühlte seine gewölbte Hand an ihrer Wange und seinen warmen Atem auf ihrer Haut.

»Oi-oi!« rief sie aus.

»Es stimmt! Ich habe es selber gesehen!«

Zofia runzelte die Stirn. »Und was kostet es?«

»Hundert Złoty für ein Mädchen, dreihundert für einen Jungen.«

Sie konnte es sich nur schwer vorstellen. Was für ein unglaubliches Bild! Aber, schloß sie, nicht weniger plausibel als Störche. Sie verwünschte die Gouvernante, die ihr dieses Märchen eingeredet hatte, und glaubte noch Jahre danach, daß es wirklich eine alte Frau gab, die auf dem Markt in Iwje kleine Kinder verkaufte.