Im Herbst 1916 gab es viele Streiks. Die Tore der Petersburger Gießereien und Tuchfabriken blieben oft geschlossen. Gruppen von Arbeitern versammelten sich davor, wärmten sich die ausgestreckten Hände über Kohlenbecken. Bei den Docks standen gewisse Männer auf umgedrehten Fischkörben und hielten Reden über Dinge, die nur wenige ihrer Zuhörer zu verstehen schienen. Die Tage wurden kürzer; die Reden länger.
Manchmal waren berittene Polizeitrupps überall in der Stadt postiert. Sie führten lange Spieße mit sich und trugen Überzieher, die sich über den Sätteln bauschten. Die Pferde stampften ungeduldig, aus ihren Nüstern dampfte der Atem. Helena gesteht in ihrem Bericht, daß sie von den zunehmenden Spannungen nichts gemerkt habe. Immer aber habe sie die Pferde wahrgenommen.
Sie bestand die Prüfung mit Auszeichnung. Die Leiter der englischen Schule – ein seltsames Paar, bekannt als Miss Sanders und Mr. Pike – sagten, es sei im Krieg nicht möglich, Lehrer aus England zu holen, wie es ihrer pädagogischen Linie entspräche, ob sie vielleicht eine Klasse übernehmen könne?
»Die herrliche Sprache Shakespeares verbreiten«, seufzte Miss Sanders. »Gewißlich eines der edelsten Dinge, die ein junger Mensch tun kann.« Und Helena fühlte sich genügend geschmeichelt, um einzuwilligen.
Angetan mit einer grauen Strickjacke, stieß sie daher am Montag darauf um fünf Uhr nachmittags eine Milchglastür mit der Aufschrift »FORM IV – Berkshire (Only English spoken)« auf. Ein Pulk starr auf sie gerichteter russischer Augen begrüßte sie. Man hatte ihr eine Klasse mit dreiundzwanzig Kanzleibeamten zugewiesen.
Sie stellte sich auf englisch vor. Die Augen starrten weiter.
Sie stand vor der Tafel und legte die Hände auf die Lehne ihres Stuhls. »What is this?«
Die Augen blinzelten.
»This is a chair.«
»A sheer . . . a cheer . . . a jair . . .«
Die erste Stunde war eine zähe Angelegenheit. Keiner aus der Klasse konnte ein Wort Englisch, und Helena war schüchtern. Sie war nie mit so vielen Männern allein in einem Raum gewesen.
Doch in den nächsten Wochen machten sie Fortschritte. Die Kanzlisten erwiesen sich als wißbegierig und gutmütig. Helena fing an sie zu mögen, und manchmal dehnte sie den einstündigen Abendunterricht auf zwei oder sogar drei Stunden aus. Bald lasen sie schon die Äsopschen Fabeln und führten stockende Diskussionen über Ziegen, Löwen und Vögel. Der Schnee lagerte sich bogenförmig an den Fenstern ab und dämpfte die Straßengeräusche.
Vielleicht hat Miss Sanders recht, dachte Helena. Sie erwog, Lehrerin zu werden, um die »herrliche Sprache Shakespeares« verbreiten zu helfen.
In Petersburg verfügten die O’Breifnes nur über sehr wenig Geld. Ihr Leben war bescheiden und einfach, und Helena störte das. Als sie ihr erstes Gehalt bekam, sagte sie zu ihrer Mutter: »Schluß mit der Sparerei!«, ging in den Gostinyj Dwor und kaufte ihr eine Armbanduhr. Es war ein Geschenk mit Widerhaken. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter verschlechterte sich zusehends. Eines Sonntagnachmittags kam Helenas Mutter dazu, wie diese sich am Telefon bei Andrzej beklagte. Sie schrie sie an: »Nur Näherinnen telefonieren mit Männern!« und riß ihr den Hörer aus der Hand.
Helena drehte sich zornig zu ihr um. »Mama, er hat etwas gesagt . . . Andrzej hat gesagt, er habe Papa gesehen. Wieso weiß ich nichts davon? Warum wohnt er nicht hier bei uns?«
»Das geht dich nichts an. Er ist krank.«
»Er ist mein Vater! Ich möchte ihn sehen.«
»Das werde ich nicht zulassen.«
Doch über Tante Ziuta fand Helena heraus, daß er sich eine kleine Wohnung am Newskij Prospekt genommen hatte. Auf der Stelle ging sie dorthin. Im Hof war der Schnee nicht geräumt. Sie stieg die Treppe hinauf, und als er die Tür öffnete, mußte sie sich zusammenreißen, um ihn normal zu begrüßen. Er sah sehr krank aus. Sein Gesicht war ausgezehrt und fahl; die Uniform hing ihm lose um Schultern und Hüften. Er hatte schwarze Flecken unter den Augen, und doch wirkte er seltsam verjüngt. Er wies Helena einen Schreibtischstuhl an und setzte sich ihr gegenüber.
»Hela, meine liebe Hela!« Er lehnte sich vor und ergriff ihre Hand. »Du bist erwachsen, Helenka. Du siehst wohl, daß deine Mutter und ich nicht miteinander auskommen.«
»Aber warum, Papa?«
»Ich sollte ihr versprechen, die Frau nie wiederzusehen, die ihr Tante Janienka nennt. Das Versprechen konnte ich ihr nicht geben, also will sie nichts mehr von mir wissen. Sie braucht mich nicht mehr.«
»Wie können wir uns sehen? Ich muß dich sehen, unbedingt!«
Er hob die Hände und lächelte. »Schon gut, Hela, laß uns folgendes tun. Ich werde dich jeden Abend von der Englischschule abholen, wir gehen zu mir und essen hier zu Abend, und danach bringe ich dich nach Hause. Erzähl deiner Mutter, daß du in der Schule ißt, und niemand wird Fragen stellen.«
Seither saß er jeden Abend auf einer Holzbank im Eingangsflur der Englischschule und wartete darauf, daß Helenas Unterricht zu Ende war. Und unter den grinsenden russischen Kanzlisten und dem spärlich bestückten Kollegium begann das Gerücht umzugehen, dieser Mann, dieser schneidige Achtundvierzigjährige, sei in Wirklichkeit ihr Verlobter.
Sie tat nichts, um das in Abrede zu stellen. In ihrer Gegenwart nannte sie ihn Józef. Er wiederum gewöhnte sich an, ihr Geschenke mitzubringen, Pralinen oder Blumen; bisweilen warf er sich in Uniform, und Miss Sanders flüsterte Helena zu: »So ein gutaussehender Mann. 1917 wird Ihr Jahr, Miss O’Breifne, ich weiß es! Eine wunderschöne Frühlingshochzeit!«
Mr. Pike legte ihr onkelhaft den Arm um die Schulter und warnte sie vor Männern, die »Schürzenjäger und Schufte« seien.
Doch unterdessen wurde Helenas Vater immer schwächer. Weihnachten gaben sie ein Fest in ihrer Wohnung, und er kam und saß in einer Ecke. Mit zwanzig Personen war die Wohnung voll. Sie machten sich über die zwei Gänse her, die Tekla irgendwo aufgetrieben hatte. Laute Trinksprüche und lautes polnisches Singen erfüllten die Räume.
Auf dem Höhepunkt des Fests sah Helena sich um und stellte fest, daß ihr Vater fehlte. Sie ging in die hinteren Räume und fand ihn in ihrem Zimmer. Er saß auf ihrem Bett, über einen Eimer gebückt, und erbrach sich. Er versuchte das lachend herunterzuspielen: »Die Ärzte haben mir gesagt, daß mein Magen sich verengt. Die Lösung ist ganz einfach, Hela, ich muß nur weniger essen!«
»Geschichte«, hatte Tante Ziuta an einem jener Sommerabende an der Moika gesagt, »ist wie ein Hase, der im Gebüsch wartet.«
Jetzt war es Winter. Die Moika war zugefroren. Petersburg pflügte sich durch die Eiswüsten des neuen Jahres. Die Sonne schien gelb auf der Unterseite der Wolken. Manchmal wehte ein scharfer Wind, er blies heftig über die leeren Plätze und suchte in den Straßen nach lockerem Schnee. Schlitten fuhren hin und her und hielten nur widerwillig an; niemand ging einkaufen, da es nichts zu kaufen gab. Die Newa, auf der erst etwa einen Monat zuvor Rasputin durchs Eis gerammt worden war, erstreckte sich gleich einem weißen Niemandsland durch die Stadt. Berittene Polizei hatte die Brücken abgeriegelt; entfernte Rufe hallten vom Fluß her. Der Hase wartete im Gebüsch.
Im Februar wurde Helenas Englischklasse immer kleiner. Sie lasen The Water Babies von Kingsley, und aus den dreiundzwanzig grinsenden Kanzleibeamten wurden zwanzig, dann fünfzehn, dann zehn. Auf dem Newskij Prospekt wurde geschossen, und danach erschienen nur noch fünf; und an einem Tag, als es heftig geschneit hatte und die Straßen voller Truppen waren, schaffte es nur noch einer durchzukommen, Iwanienko, ein ernster Russe aus dem Uralgebiet. Er zog einen Topf Himbeermarmelade aus dem Mantel und gab ihn Helena. »Oh Miss! For you the jam! You must not go to hunger . . .«
In dem Augenblick wurde die große Eingangstür aufgestoßen, und Helenas Vater stand außer Atem auf der Schwelle. »Schnell, Hela . . . In den Straßen wird gekämpft . . .«
Draußen hörte man Artilleriefeuer. Gruppen von Männern rannten durch die Straßen; einige waren mit Eissplittern von der Moika bewaffnet.
Die drei hasteten aus der Schule. Sie überquerten offene Plätze, Kreuzungen, passierten mit Brettern vernagelte Geschäfte und vereiste Straßenbahnen; sie kamen Straße für Straße voran, Einfahrt für Einfahrt. Helenas langer Rock war steif vom Schnee und schwang wie eine Glocke gegen ihre Filzstiefel. Die beißende Kälte griff ihren Rachen an.
»Schnell!« redete ihr Vater ihr gut zu. Aber auch er hatte Schmerzen. Er hielt sich die Seite. Iwanienko lief voraus, den Topf Himbeermarmelade fest gegen die Brust gepreßt, und hielt an jeder Ecke erst nach Barrikaden Ausschau.
Auf einer Brücke über den Gribojedowkanal standen drei Männer auf einem Lastschlitten. Sie sprachen zu einer kleinen Schar von Arbeitern und Soldaten mit Gewehren. Einige feuerten in die Luft. Iwanienko hielt einen Arm vor Helena und hielt sie auf. Sie gingen ein Stück zurück.
Auf der Rückseite des Gostinyj Dwor stolperten sie über eine Gruppe, die rote Fahnen hielt. Jemand sang die Marseillaise. Iwanienko drückte Helena in eine Einfahrt. Die Männer hatten einen Halbkreis um einen Polizeioffizier zu Pferde gezogen und brüllten ihn an. Er versuchte, seinem Pferd die Sporen zu geben, aber er war umzingelt. Einer aus der Gruppe erwischte die Zügel, und die anderen zerrten ihn aus dem Sattel. Der Offizier rutschte ab. Er versuchte wegzulaufen, aber sie stießen ihn zu Boden. Einer packte ein etwa faustgroßes Stück Eis und begann es dem Mann gegen den Kopf zu schlagen. Der Kopf sackte vornüber. Jemand zog ihn am Haar nach hinten. Sie schlugen auf ihn ein, bis er tot war.
Helena vergaß diese Szene nie; nie den Blick seiner Augen, nie sein Blut im Schnee. Es war der Augenblick, in dem die Welt für sie endgültig ihre Unschuld verlor.
Eine Zeitlang herrschte in der Stadt Chaos. Helena verließ das Haus nicht, nicht einmal um ihren Vater zu besuchen. Tekla kam nach stundenlanger Lebensmittelsuche oft nur mit einem einzigen Brotlaib oder etwas eingelegtem Gemüse zurück. Sie fütterte sie mit den neuesten Gerüchten – daß das Regiment der Wolhynier gemeutert hatte, daß Chabalow einen Gegenangriff vorbereitete, daß das Kadettenkorps den Winterpalast verteidigte, daß der Zar fort war; daß der Zar abgedankt hatte.
Und dann kehrte wieder eine Art Ordnung ein. Die Straßenbahnen und Busse fuhren wieder, und einige wenige Lebensmittel fanden den Weg in die Läden. Helena nahm ihren Unterricht wieder auf, und ihre Kanzlisten kamen wieder, einer nach dem anderen, abgemagert, mit schmalerem Grinsen, bis sie schließlich wieder dreiundzwanzig waren. Sie beendeten die Water Babies und gingen zu Kipling über.
Eines Nachmittags – es war ein Samstag, und die Linden überzog ein zarter Grünschimmer – ging Helena über das Marsfeld nach Hause. Sie erinnerte sich an die dunklen Wolken über ihr und an das elastische Knirschen des Schnees unter ihren Füßen. Sie hatte die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. In einer Ecke am anderen Ende des Geländes erblickte sie eine Menschenansammlung. Davor stand ein Mann auf einer Holzkiste. Er trug keinen Hut, die Kälte schien ihm nichts anzuhaben. Sie näherte sich und konnte einzelne Worte ausmachen:
»Jeder Mensch ist Herr seines Geschicks . . . Er muß sein Schicksal selber gestalten und das seines Landes zu gestalten helfen . . . Eure Zeit ist gekommen . . .«
Wieder zu Hause, fand sie Onkel Augustus vor dem Kachelofen stehen.
»Onkel.« Sie reckte sich, um ihm einen Kuß zu geben, und fing dann an, sich die Handschuhe auszuziehen. »Auf dem Marsfeld hat heute ein komischer Mann geredet. Aber was für eine schöne Stimme er hatte! Und er schien sehr intelligent zu sein!«
»Wer war es?«
»Angeblich heißt er Lenin.«
Aber die Lage hatte sich nicht wirklich gebessert. Noch immer lungerten überall Männer mit finsterem Blick herum, noch immer wurde auf den Straßen geschossen. Wenn Helena mit einer Feldflasche mit Teklas Gemüsebouillon zur Wohnung ihres Vaters lief, sah sie in den Toreinfahrten häufig Leichen, die man dort hingeworfen hatte wie Abfall.
Auch ihr Vater war nach wie vor in beunruhigend labiler Verfassung. Helena verbrachte die Sonntagnachmittage bei ihm. Wenn er Schmerzen hatte, hielt er sich einen handtuchumwickelten Samowar an den Magen. Sobald die Schmerzen nachließen, schlief er ein. Sie beobachtete ihn beim Schlafen. Sie lauschte auf die französische Uhr aus Goldbronze, die Stunde um Stunde läutete. Immer kam der Punkt, wo seine Hände vom Samowar herabsanken, sein Kopf auf eine Seite rutschte und die Haut um die Wangen weicher wurde; dann schien er für eine Weile friedvoll zu sein.
Im April nahm Tante Ziuta Helena in ein Ballett im Marientheater mit. Obwohl sich in der Stadt vieles in Auflösung befand, war der Zuschauerraum voll, die Aufführung makellos. Für Helena hatte das Ganze kaum etwas von einem Spektakel an sich – ohne Seidengewänder und Juwelen, ohne Großfürsten, ohne Jussupow.
Hinterher kam auf dem Theaterplatz eine babuschka auf sie zu. Sie hatte blaue Augen und Maulwurfsfinger. Einen davon stieß sie nach Helena. »Ich habe einen Hut für dich, Mädchen, einen Trauerhut aus Krepp.« Sie stopfte Helena ein Stück Papier in die Hand.
Tante Ziuta führte Helena weg. »C’est rien. La femme est folle.«
Später glättete Helena den Papierfetzen. Eine Adresse stand darauf, irgendwo hinter dem Theater. Mehrere Tage danach machte sie sie im vierten Stock eines rußgeschwärzten Hauses ausfindig. Im Hausflur war ein Rohr leck, und das Wasser tröpfelte unablässig den Treppenschacht hinunter. Die Zimmer waren voller Menschen, die auf Strohmatratzen lagen. Sie wollte schon wieder gehen, als ihre babuschka mit einem Hut in der Hand über eine Reihe von Schlafenden auf sie zuhumpelte.
»Ihr Hut, Fräulein. Ich habe ihn für Sie gemacht.«
»Aber ich brauche keinen Hut.«
»Sie werden ihn brauchen«, sagte sie lachend, nahm die Kupons aus Helenas linker Hand und ließ sie mit dem Hut stehen.
Unterdessen ging es ihrem Vater immer schlechter. Er konnte nicht einmal mehr Teklas Brühe bei sich behalten. Die Ärzte entschlossen sich, ihn zu operieren, und am 10. Mai – dem 27. April nach dem alten Kalender – wurde er in ein großes Militärkrankenhaus gebracht. Helena, ihre Mutter, Onkel Augustus und Panna Konstancja warteten draußen.
Der Nachmittag war schon halb vorbei, als der Chirurg herauskam. Er lächelte; die Operation war erfolgreich verlaufen. Helenas Vater wurde auf einer Bahre hinausgerollt, und sie warteten darauf, daß er aufwachte.
Nach einer halben Stunde schlug er die Augen auf. Er drehte den Kopf Helena und ihrer Mutter zu und lächelte. Dann fiel er wieder in Schlaf. Kurz darauf öffneten sich seine Augen plötzlich erneut. Diesmal sah er überrascht aus. Der Professor stürzte zu ihm. Er faßte sein Handgelenk, beugte sich über seine Brust. Er rief nach einer Krankenschwester, und gemeinsam hämmerten sie auf seine Brust. Dann kniff der Professor den Mund zusammen und zog seinem Patienten das Laken über das Gesicht.
Helenas Mutter starrte auf die Bahre. Sie hatte sie zuvor im Traum gesehen, nach seinen »Besuchen« in ihren frühen Ehejahren. Diese flüchtigen Begegnungen hatten sie immer mit solchem Abscheu erfüllt, daß sie danach blind war, und das einzige, was diese Dunkelheit aufbrechen konnte, war dies: die Vision von ihrem Mann, wie er, nunmehr unschädlich, in ein weißes Leichentuch gewickelt auf einem Tisch lag.
In Polen war es Sitte, die Toten zu Hause aufzubahren und eine chapelle ardente abzuhalten, zu der Angehörige und Freunde kommen und beten konnten, bevor der Verstorbene begraben wurde.
Helena hätte gern eine chapelle ardente gehabt, aber ihre Mutter lehnte es ab. »Die Zeiten sind gefährlich, Liebes. Wir lassen das besser.«
Den ganzen nächsten Tag blieb Helena in der Wohnung. Sie saß da und trennte die Stickerei auf einem Kissen auf; Liki zwitscherte über ihrem Kopf. Gegen Abend konnte Panna Konstancja es nicht mehr mit ansehen. Sie nahm sie beiseite und sagte ihr, wo ihr Vater lag.
Der dwornik schob die Eichentür auf. Es war zehn Uhr nachts und sehr kalt. Sie zog sich das wollene Schultertuch über den Mund und hastete den Kanal entlang. Niemand sonst war auf der Straße.
An diesen Weg hatte Helena nur verschwommene und bruchstückhafte Erinnerungen. Mechanisch folgte sie der Strecke. Sie überquerte die Newa, der Mond war im kabbeligen Wasser in Stücke zerbrochen. Dann war da ein weißbärtiger Nachtwächter, der sie unter freundlichem Gemurmel in einen Raum mit niedrigem Gewölbe und schlichten, in Nischen verborgenen Altären einließ.
Der Raum war voller Leichen. Sie lagen auf Steinsockeln und Tischen; sie lagen zwischen den Tischen auf Bohlen und losen Laufbrettern. Einige waren in Laken und Sackleinen gewickelt, andere hatten noch ihre Kleider an.
»Konterrevolutionäre!« flüsterte der alte Mann.
Ihr Vater lag in einer Ecke für sich. Er war noch immer in das Kliniklaken gewickelt. Sie nahm eine Kerze, setzte sich zu ihm und legte eine Hand auf das Laken. Der Kattun fühlte sich auf ihrer Haut warm und klebrig an. Ihre Fingerspitzen waren voll frischem Blut. Sie sprang auf. »Sehen Sie doch, er blutet! Er lebt!«
Der Nachtwächter ging zu ihr und schüttelte den Kopf. Er ließ Helena mit einer Handvoll Kerzen zurück, und sie saß die ganze Nacht da. Immer wieder döste sie kurz ein. Dann schlief sie richtig, und als sie aufwachte, waren die Kerzen heruntergebrannt, und die Schatten hatten sich zurückgezogen. Die Dämmerung war in dieses dumpfe Gelaß eingedrungen, und das Gesicht ihres Vaters war grau.
Die Wärter kamen die Treppen herunter. Sie gingen zum Waschbecken hinüber und schwatzten, während sie sich die Unterarme schrubbten. Dann zogen sie die Toten von den Sockeln herunter auf Steinplatten.
Wie betäubt sah Helena zu, wie die Leichen gewaschen wurden. Wie betäubt sah sie Tekla eintreten und Panna Konstancja und Onkel Augustus, der in einer der höhlenartigen Nischen die Totenmesse sprach. Sie blieb reglos auf ihrem Hocker sitzen, unfähig, irgend etwas anderes wahrzunehmen als das blasse schöne Gesicht Tante Janienkas, die sich vor dem Altar verneigte, und ihre träge, katzenhaft geschmeidige Art sich zu bewegen: dies war die Frau, die ihr den Vater genommen hatte. Es war das einzige Mal, daß sie sie sah.
Und dann, schreibt Helena, kam die nächste große Gedächtnislücke. Sie erinnerte sich weder an die Beerdigung noch an die letzten Tage in Petersburg, noch an den Güterzug, der sie in Eile fortbrachte. Sie hatte nur das Bild von sich selbst vor Augen, wieder in Piesków – eine teilnahmslose Gestalt in Schwarz, zu müde, um auch nur ein Wort von Dickens’ A Tale of Two Cities in sich aufzunehmen, das ungelesen in ihrem Schoß lag.