5.

An dem Tag übernachteten wir in dem Städtchen Iwje. Am nächsten Morgen war es heiter und warm. Wir fuhren früh nach Mantuski zurück. Als wir die Straße hinuntergingen, sagte Zofia mit einem Blick auf die leuchtendgelb gestrichenen Häuser: »Gott sei Dank, daß ich gekommen bin! Was sind dies für wundervolle Tage!«

Hinter uns hörten wir eine Pforte zufallen. »Proszę Pani! Pani Zośka!«

Der Alte vom Vortag humpelte auf uns zu. »Proszę Pani, es tut mir leid. Es tut mir leid wegen gestern.«

»Aber das macht doch nichts. Ehrlich.«

»Es war nur, daß ich betrunken war. Ich wollte Ihnen das hier geben. Ich habe es die ganze Zeit aufgehoben.« Er hielt ihr ein altes Silbermesser hin. Es war gebrochen. »Vom dwór, Pani Zośka. Ich habe es beim dwór gefunden. Und für Sie aufgehoben.«

Sie lächelte. »Bitte behalten Sie es.«

Er deutete die Straße hinunter. »Pani Wala möchte Sie sehen, da unten hinter der Schule.«

»Pani Wala – die Näherin?«

Der alte Mann nickte. »Hinter der Schule!«

Wir gingen weiter.

»Ja, ich erinnere mich an Wala«, sagte Zofia. Sie stammte von einem Findelkind ab. Ihre Großmutter war ausgesetzt und von Zofias Großmutter aufgenommen worden.

Wir fanden ihr Haus. Zwerghühner flohen trippelnd aus dem Hof. Ich klopfte an die Tür. Eine alte Frau in einem sonnenblumenbedruckten Kittel erschien. Sie sah Zofia und brach in Tränen aus.

Zofia nahm ihre Hand, und sie setzten sich auf eine Bank in der Sonne.

Pani Wala konnte es nicht glauben. »Pani Zofia . . . dies ist eine Vision, ich habe eine Erscheinung . . .«

Zofia redete ein, zwei Minuten mit ihr, dann fragte sie nach dem Haus.

». . . Ja, sie haben das Haus niedergebrannt, sie haben Kleider, Wäsche, Vorhänge, alles herausgeholt und es dann angezündet.«

»Wer?« fragte Zofia.

Sie schüttelte den Kopf. Dies alles war zu viel für sie. Sie sah Zofia an und wiegte den Kopf hin und her. »Oioioi, Pani Zofia, das ist wie ein Traum, daß Sie da sind . . . so viele Dinge sind geschehen, so viele sind geboren, so viele gestorben . . . die Berge können nicht zueinander kommen, aber die Menschen werden einander wiedersehen . . .«

Zofia wiederholte ihre Frage nach dem Haus.

»Partisanen, die Partisanen waren es . . .«

Partisanen. Jede Geschichte hier führte zu den Partisanen zurück. Es war ein Allgemeinbegriff, etwas, was keiner Erklärung bedurfte, so wie »Tschernobyl« oder »Mafia«. Seit dem Tag, an dem Helena mit ihrer Familie geflohen war, dem Tag des russischen Einmarschs 1939, hatten Gruppen von Dorfbewohnern immer wieder im Wald Zuflucht gesucht. Die Wälder hier waren Urwald, so unzugänglich und gefährlich wie Berge. Erst Jahre nach Kriegsende waren die letzten Partisanen schließlich wieder aus ihnen hervorgekommen.

»Partisanen«, wiederholte Pani Wala, »die Roten Partisanen haben es in Brand gesteckt, als der Boden hart war, sie haben es in Brand gesteckt, und es hat tagelang geraucht . . .«

Als 1941 die Deutschen einmarschierten, stieg die Zahl der Partisanen. Es gab polnische Partisanen, weißrussische Partisanen, jüdische Partisanen, zu den Bolschewisten tendierende Partisanen, nationalistische Partisanen. Sie kämpften gegeneinander genauso wie gegen die Deutschen oder die Russen. Während der deutschen Besetzung waren es die Roten Partisanen, deren Aktivitäten – unterstützt von den Russen – die größte Wirkung zeigten. Damit war eine Datierung möglich: nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941. Also war das Haus im Winter darauf, 1941 / 42, niedergebrannt worden. Verbrennt die Nester, hatte Lenin gesagt, dann kommen die Vögel nicht zurück.

Pani Wala starrte vor sich hin. Die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Die Jahrzehnte türmten sich hinter ihren Lippen; sie war außerstande, sie zurückzuhalten, und mit einemmal verfiel sie in einen tranceähnlichen Monolog, der zu zwei Teilen Gedicht und zu einem Teil Lied war:

»Boże, mój boże, was für ein Leben war das damals, wir haben Himbeeren gepflückt und Johannisbeeren und die Birnen, Sie brachten uns Birnen in Ihrem Hut . . . auf dem Tennisplatz sangen die Mädchen und Sie mit Ihren Büchern im Schatten, Sie mit Ihren Büchern und ich, dunkler als eine Bierflasche, und die Kleider, die ich aus Wilnaer Stoff gemacht habe . . . Aber, o Gott, was dann geschah, was dann geschah, als die Russen kamen . . . Sie haben die Pferde genommen und sind geflohen, und die Deutschen rückten mit ihren Maschinen an, und die Russen waren im Fluß . . . dann kamen die Russen wieder, und die Deutschen waren im Fluß mit ihren Maschinen, ertranken wie wilde Tiere, ertranken im Fluß, trieben im Fluß wie Fallaub . . .«

Sie hielt inne. Zofia und ich schwiegen.

». . . Dann die Partisanen am Fenster und die brennenden Häuser, und wer mußte nicht alles nach Rußland . . . mein Kazik ohne Stiefel im Schnee . . . Gott, mein Gott, und gerade letzte Woche das Mädchen im Wald, tot, mit zerschnittenen Brüsten . . .«

Pani Wala wandte sich um und sah Zofia an. Ihre Augen waren rotgeweint. Mit beiden Händen ergriff sie Zofias Hand und umklammerte sie heftig. »Pani Zofia, ich werde die ganze Nacht weinen, weil ich an Sie denken muß! Pani Zośka, Sie mit Ihren kleinen Zöpfen und dem strahlenden Gesicht und dem roten Kleid mit den Flamencofalten, das ich genäht hatte . . .«

 

Pani Wala erzählte uns von einer alten Frau, die allein im Wald lebte. Man kannte sie als Pani Jadzia, sie hatte eine Holzhütte am Rande eines Roggenfelds. Hinter der Hütte lag der Wald. Das Ganze war sehr abgelegen.

Als wir ankamen, stand sie gerade an ihrem Brunnen. Zofia erklärte, wer sie war, und Pani Jadzia nickte, ohne zu lächeln. Sie nahm den Eimer vom Haken und machte sich daran, ihn zur Hütte zu tragen.

Ja, sie erinnerte sich an die Brońskis. Sie erinnerte sich daran, wie sich ihre Schafe auf deren Land verirrt hatten und Pan Adam sie gefunden hatte; sie erinnerte sich, wie er herübergeritten kam und sie seinen Zorn erwartet hatte und er sich statt dessen nach den diesjährigen Lämmern erkundigte und sich an den Tisch gesetzt und mit ihrem Vater kwas getrunken hatte.

Pani Jadzia trug ihr Wasser hinein und kam wieder in die Sonne heraus. Wir setzten uns auf eine Bank an der Hauswand, und sie sah uns beide nacheinander an.

Sie mußte weit über achtzig sein. Von ihrer kleinen Schulterwölbung stand der Kopf nicht nach oben ab, sondern nach vorn. Ihr Gesicht war unbewegt, gegen die Welt verhärtet. Wenn sie sich entspannte, was sie am Ende ihrer Musterung tat, konnte man erkennen, daß sie lächelte, nicht weil sie lächelte, sondern weil ihre steinerne Miene kaum merklich weicher wurde.

Sie erzählte ihre Geschichte ohne Gefühlsregung. Viele hatten uns erzählt, wie gut das Leben früher war, das Leben vor dem Krieg. Pani Jadzia hatte keine derartigen Illusionen: es war ganz genauso schlecht gewesen.

Während der deutschen Besetzung war sie eines Morgens zur Kirche gegangen, der Kirche von Gawja, die eine gute Viertelstunde weit weg war. Auf dem Heimweg hatte sie Schüsse gehört. Als sie zu Hause ankam, waren die Soldaten schon fort. Ihr Vater, ihre Mutter, drei Brüder und zwei Schwestern lagen tot bei den Buchen.

Pani Jadzia schwieg einen Augenblick, aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos.

Kurz nach dem Mord an ihrer Familie heiratete Pani Jadzia. Ihr Mann zog zu ihr in den Wald. Er half ihr, die Schaf- und Bienenhaltung und die Feldarbeit zu übernehmen. Jede Woche ritt er nach Nowogródek, um Vorräte zu besorgen. Eines Tages kehrte er nicht zurück; er war von einem deutschen Panzer überfahren worden. Dann kamen die Roten Partisanen aus dem Wald und brannten alles nieder.

Ihren zweiten Mann hatte Pani Jadzia kurz nach dem Krieg geheiratet. Eines Abends lehnte sich jemand durchs Fenster und erschoß ihn; es gab Gerüchte über die eine oder andere Geliebte. Ihr dritter Mann war Trinker, und sie verließ ihn. Vor einigen Jahren war eine Wisentherde durch ihren Zaun gebrochen, hatte ihre Pflanzen zertrampelt und die Bienenkörbe umgeworfen. Jetzt hatte sie nur noch ihre Bienen, ihre Hunde und eine Kuh, und zur Heumahd kam ihr Sohn und half ihr. Ja, sagte sie, Gott habe sie mit einem guten Sohn gesegnet, einem wohlgeratenen, starken und tüchtigen Sohn, der ihr beim Heuen half.

Bei unserem Aufbruch schenkte sie uns einen kleinen Krug Honig; ich habe nie einen solchen Honig gekostet wie den von Pani Jadzia.

 

Auf dem Rückweg nach Mantuski schloß sich der Kiefernwald wieder um uns. Wir kamen an einer Gruppe von Dorfbewohnern vorbei, die Kartoffeln aus einem Erdkeller holten.

»Das Hundegrab«, flüsterte Zofia.

»Was?«

»Wenn sie fragen, was wir hier tun, sagen wir ihnen: ›Wir suchen nach dem Hundegrab.‹ Sie werden uns aus hundert Augen beobachten und sich notfalls sofort auf uns stürzen.«

Für mich war das Silber inzwischen fast belanglos geworden. Aber ich hätte es für schäbig gehalten, nicht wenigstens den Versuch zu machen.

»An dem Morgen damals«, erläuterte Zofia, »hieß es, die Russen seien so um fünf einmarschiert. Alle waren in Panik, alle rannten herum wie die Irren. Mama und ich gingen in den Wald. Das Silber hatten wir in Pilzkörben dabei. Wir gingen etwa fünfzehn Minuten, bis wir zu einer Schonung gelangten.«

Wir waren wieder bei den Überresten des Hauses angekommen und lenkten unsere Schritte in den Wald.

»Ja, es war in dieser Richtung. Erst kamen Bäume, dann offenes Gelände und dann die Schonung.«

Die Bäume hörten eher auf, als Zofia erwartet hatte. »Ah . . . Sie müssen hier ein Stück Wald gerodet haben . . . Da lang! Nach links.«

Wir gingen am Wiesenrand entlang, bis wir die Bäume auf der gegenüberliegenden Seite erreichten. Es waren hohe, in Reihen gepflanzte Kiefern.

»Hier muß es sein!« sagte Zofia. »Die Schonung! Und nun: siebzehn für mein Alter, einundvierzig für Mamas. Die siebzehnte Reihe und der einundvierzigste Baum!«

Ich fing an zu zählen. Bei siebzehn ging ich quer in die Baumreihen hinein und fand mich sofort umgeben von jener eigentümlich ahnungsvollen Stimmung des Waldes. Der Boden war bedeckt von einem dicken Kissen aus Kiefernnadeln. Spinnweben hingen in der unbewegten Luft. Ein oder zwei Bäume waren umgefallen und ihre schlanken Stämme ins Unterholz eingesunken. Wo Lücken waren, fiel die Sonne durch den Nadelbaldachin auf den Waldboden wie Licht in eine Kathedrale.

Neunundzwanzig, dreißig . . . Bei einunddreißig gelangte ich an einen schmalen Pfad. War er vor fünfzig Jahren schon dagewesen?

Ich hörte Zofia vom Rand der Pflanzung rufen. »Da kommt jemand. Beeil dich!«

Auf der anderen Seite des Pfads gingen die Bäume weiter. Fünfunddreißig, sechsunddreißig, eine Lücke bei siebenunddreißig, neununddreißig, vierzig, einundvierzig.

»Beeil dich, Phiilip!«

Ein dicker Ast lag quer über dem Graben, ich zerbrach ihn. Ich grub etwa einen halben Meter tief. Der Boden war weich und krümelig. Nichts zu finden. Ich grub etwas tiefer. Noch immer nichts.

»Phiilip!«

Mit jeder Station unseres Wegs hierher war mein Vertrauen in Zofias Orientierungssinn weiter geschwunden. Daß die Richtung vom Haus aus stimmte, daß dies wirklich die Schonung von damals war, daß die Reihen unversehrt geblieben waren, daß ich die Bäume richtig gezählt hatte, daß dreiundfünfzig Jahre vergangen waren, ohne daß jemand den Schatz gefunden hatte; all das bezweifelte ich so sehr, daß ich ehrlich glaube, daß, wäre er dagewesen – wären die Silberleuchter und Salzschälchen schimmernd zwischen jenen Wurzeln aufgetaucht – die schiere Unwahrscheinlichkeit des Funds mich um den Verstand gebracht hätte.

 

Ich kehrte mit leeren Händen zu Zofia zurück. Drei Bauern standen um sie herum. Sie wirkte nervös.

»Nichts«, sagte ich.

Sie wandte sich zu den Männern. »Das Hundegrab, verstehen Sie. Hunde . . . grab . . .« Aber sie waren keine Polen und verstanden nichts. Sie lehnten sich gegen ihre Sensen. Kratzten sich am Kopf. Einer von ihnen sagte etwas, und die anderen lachten. Wir gingen unter den Bäumen zurück.

Es war ein heißer Morgen; Fliegen schwebten in den Sonnenstrahlen. Alles war braun und staubig. Ein Kuckuck schrie von weit her aus den Bäumen. Wir folgten einem sandigen Weg, der sich durch die Kiefern schlängelte, durch das Halbdunkel, und am Flußufer herauskam. Vor uns erstreckte sich das Wasser, glitzernd und stahlblau.

Wir gingen ein kleines Stück stromaufwärts. Der Wald trat zurück; die Uferböschung verbreiterte sich zu einer federnden Grasnarbe. Zofia sagte: »Oh, ist das nicht wunderschön, genau so habe ich es in Erinnerung . . .«

Helenas Aufzeichnungen waren voll von Beschreibungen dieses Orts; bisweilen schien sie ihn fast mehr zu lieben als ihre Familie. Der Wald war ihr Palliativ, der Fluß ihr Orakel. Sie erquickte ihre Lebensgeister an dem kräftigen Tonikum dieser Landschaft. Sie war ihre Zuflucht. Hier, wo ich sie leibhaftig sah, verstand ich, warum.

Am anderen Ufer wurde Heu gemacht. Ein Mann stand oben auf einem Karren und breitete das Gras. Andere zogen mit ihren Sensen Schneisen durch die Wiesen.

»Irgendwo hier«, sagte Zofia, »hatten wir eine Stelle . . . um diese Zeit sind wir immer dahin gegangen. Ja, da, in den Bäumen!« Vor uns am Uferrand war gerade eine kleine Birkengruppe aufgetaucht. Dahinter machte der Fluß eine scharfe Biegung nach links. »Wir nannten sie Philosophenwinkel. Hier haben wir immer gesessen und geredet – lange große Gespräche!«

»Worüber?«

»Ach, na ja – das Leben!« Sie sprach das so genüßlich aus – »Le-ben« –, als wäre es eine Leibspeise.

Wir setzten uns bei den Birken ans Ufer. Die Uferschwalben zwitscherten vom Wasser her; andere flogen vor und zurück, tauchten kurz unter und vollführten Sturzflüge über dem träge dahinströmenden Fluß.

»Tja«, sagte sie, »kein Haus und kein Silber!« Sie klang nicht enttäuscht.

»Aber die Menschen hier, die sich an dich erinnern?«

»O ja, das ist viel mehr wert.«

»Zosia«, fragte ich, »weißt du jetzt, warum du hierherkommen mußtest?«

Sie betrachtete eine Weile den Fluß, dann nickte sie.

»Warum?«

»Neugier.«

»Das ist alles?«

»Ja.«

»Bloß Neugier?«

Sie antwortete nicht gleich. »Weißt du, wenn wir das Silber gefunden hätten und die Bauern hätten es haben wollen und uns umgebracht, dann wäre das wegen meiner Neugier gewesen – es tut mir leid! Frauen sind neugieriger als Männer.«

»Meinst du?«

»Wir haben hier immer etwas gespielt, hör mal.« Sie wölbte ihre Hände vor und rief über den Fluß: »Kto zjadłjabłko z drzewa?« Vom anderen Ufer kam das Echo: »ewa, ewa . . .« »Verstehst du?«

»Nein.«

Sie lächelte belustigt und rief wieder, diesmal lauter: »KTO ZJADŁ JABŁKO Z DRZEWA . . . EWA . . . ewa . . .wa . . .«

»Nein!«

»›Wer hat vom Baum den Apfel gegessen?‹ Und das Echo ruft: ›Eva!‹ Wie du siehst, Neugier. Sie hat den Apfel aus Neugier gegessen.«

»Und bedenke, was dann passiert ist!«

»Ja. Aus dem Paradies vertrieben. Genau wie wir.«

Ich fragte sie, ob es für sie wirklich ein entschwundener Garten Eden war.

»In gewisser Weise schon.«

»Aber es ist doch ein unwirtlicher Ort.«

»Ja«, sagte sie, »das auch. Ein unwirtliches, beschädigtes Paradies.«