Die Brońskis verbrachten den restlichen September in Litauen, auch den Oktober und den halben November. Sie lebten bei Helenas Mutter in Platków.
Nach der stürmischen Fahrt zur Grenze und dank der Erleichterung, nachdem sie sie überschritten hatten, kam ihnen ihre reale Lage erst allmählich zu Bewußtsein. Helena schreibt:
So ist nun das Gefürchtetste und Furchtbarste eingetroffen. Wir sind von Mantuski geflohen, haben unser geliebtes Mantuski verlassen. Das Haus, das Adam wiederaufgebaut hat, die kostbaren Zimmer, die Teppiche, die Möbel, die Bücher – verloren. Unsere geliebte Dienerschaft, die Hunde, die in siebzehn Jahren sorgsam gezüchtete Herde, der Wald, die Bienen, die Obstwiesen, der träumende Fluß, alles verloren. Wir sind heimatlos, bettelarm, gebrochen. Kein Polen. Kein Mantuski. Alles entschwunden wie eine Fata morgana. Und so viele, so viele, die wir zurückgelassen haben: Onkel Nicholas, die Stravinskis . . . Ich glaube nicht, daß ich noch schreiben kann . . .
Zofia unternahm lange Spaziergänge im Wald. Ihre Erinnerung an diese Zeit sind die Bäume und eine überwältigende Traurigkeit. Sie schrieb an Eric:
Wir leben, aber unsere moralische Kraft ist erloschen. Wahrscheinlich kommen die Bolschewisten hierher, darum wollen wir möglichst weit weg. Falls ich nach England komme, hilf mir bitte, eine Arbeit zu finden. Ich kann eine sehr gute Köchin werden, wenn ich ein bißchen lerne, denn jetzt haben wir nichts. Ich hoffe, es geht Dir gut. Wenn wir nicht tot sind oder zu Gefangenen werden, werde ich Dich wohl in diesem Leben wiedersehen.
Leb wohl, Eric.
Drei Generationen warteten in Platków: Helenas Mutter, im Alter gebrechlich und zaghaft; Helena selbst, verwitwet, einundvierzig Jahre alt, wegen ihres Knies an einem Stock humpelnd; und Zofia in weiten Baumwollkleidern, mit langem Zigeunerhaar und blaßblauen Augen.
Die Russen hatten an der litauischen Grenze haltgemacht. Sie unterzeichneten ein Abkommen mit Smetona, und der Druck schwächte sich eine Weile ab. Doch im November traf Helena die Entscheidung, das Land zu verlassen. Ihre Mutter drang in sie, zu bleiben, sagte, es wäre alles bald vorbei und sie würden nach Mantuski zurückkönnen. Aber Helena war einmal zu oft vertrieben worden.
Ende November schrieb Zofia an Eric; sie ließ ihn wissen, daß sie versuchen wollten, nach England zu gelangen:
. . . Eines Tages, wenn wir nicht im Meer ertrinken, wirst Du mich vielleicht auf einer Straße in London treffen, traurig und hungrig. Ich werde sagen: »Hallo, Gugu«, und Du wirst sagen: »Kann ich Dir einen Penny für Brot geben?« Und ich werde sagen: »Aber nein, ich habe massenhaft Geld.« Nun leb wohl, lieber Eric. Wenn ich zwei Monate nicht mehr schreibe, heißt das, daß ich nicht mehr auf dieser Welt bin.
Sie erreichten England im Dezember 1939, über die Route Estland, Stockholm und Oslo. In Bergen fanden sie einen kleinen Kohlefrachter mit Ziel Newcastle. Eric holte sie am Hafen ab. Zofia war erstaunt, wie förmlich er war. »Ich machte damals die Erfahrung, daß ein Engländer in England etwas ganz anderes ist als ein Engländer in einem slawischen Land.«
Die Familie Brónski wurde zerstreut, bei verschiedenen Familien im ganzen Land untergebracht. Zofia landete im Convent of the Holy Family of Nazareth in Enfield. Sie lernte Maschineschreiben, Stenographie, vervollkommnete ihr Englisch und bekam einen Studienplatz für englische Literatur an der Universität Reading.
Sie fuhr fort, sich mit Eric zu treffen. Sie nahmen oft Bezug auf die beiden Sommer in Mantuski. So vieles veränderte sich; das allein schien beständig. Zofia schrieb ihm im Mai 1940:
Enfield.
. . . Straßen Straßen und Häuser und Schornsteine und eine so ungemütliche Sonne in dieser Stadt Stadt Stadt . . . Ich sitze am Fenster und versuche, mir vorzustellen: Es ist Mantuski – ich gehe im Moor spazieren, und das Wasser macht ein ulkiges leises Geräusch unter meinen Füßen, und das Singen des Waldes ist um mich herum. Du bist auch dort, Eryk, weil ich hier nicht glücklich bin, wo ich den Bahnhof von Enfield sehe und die schmutzigen alten Häuser und einen braunen Zug, der lärmend vorbeirast. Und Du bist auch nicht glücklich, und Du mußt zur Armee, und Du kannst nicht mehr frei sein – also wollen wir uns etwas vorstellen . . . Oh, das Leben ist viel zu wirklich und verdrießlich!
Zuerst, während der Monate des Sitzkriegs, war Eric seinem Pazifismus treu geblieben. Doch als die Kämpfe ernstlich anfingen, meldete er sich mit dem plötzlichen Eifer des Neophyten zum Kriegsdienst. Ende 1941 wurde er nach Fernost abkommandiert. Vom Schiff aus schrieb er an Zofia:
. . . Es ist Abend, und alles lehnt an der Reling und beobachtet verträumt die Wellen. Seit ich Dir das letztemal geschrieben habe, sind wir in zwei Häfen gewesen, und es gibt so viel zu erzählen, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Weißt Du, dieses ständige Unterwegssein und für ein paar Tage Haltmachen in diesen Märchenstädten ist wundervoll, und wenn es dann weitergeht, steigt so eine verrückte Erregung in Dir auf, und Du hast das Gefühl, die ganze Welt liegt Dir zu Füßen und all die herrlichen Orte, von denen Du irgendwann gehört hast, stehen Dir offen . . . Du hast immer viel mehr Phantasie gehabt als ich. Du hast immer in die entlegensten Winkel der Erde reisen wollen, und ich habe die polnischen Wälder geliebt und die Schweizer Alpen und war zufrieden, dort zu sein. Liebe Zosia, wie sehr würde Dir dies hier gefallen . . .
Anfang 1942 war Eric mit einer Panzerabwehreinheit in Singapur stationiert. Die Japaner hatten ihren Angriffskrieg begonnen.
Eigenartigerweise bin ich wohl von Anbeginn an in alle großen Gefechte mit einbezogen worden und auch in eine Menge kleinerer. Irgendwie kriege ich keine Angst, weil ich zu viel zu tun habe, aber ich komme mir kein bißchen wie Rupert Brooke vor. Ich glaube überhaupt nicht an Vorbestimmung, sondern nur an die blinde Göttin des Zufalls.
Weißt Du, Zosia, neulich im Einsatz und seitdem immer wieder habe ich plötzlich das wunderschöne Mantuski vor mir gesehen. Es ist sonderbar. Einen kurzen Augenblick lang sehe ich die Zweige der Fichten, die am Waldsaum nah dem Haus stehen, in der Sonne winken, aber meistens den Fluß, die Sandbank und die Flußbiegung gegenüber dem Dorf, den Fluß in den Auwiesen und die strudelnde Oberfläche und die Geräusche des Wassers.
Gerade eben hat es ein paar Meilen entfernt besonders starkes Granatfeuer gegeben, und mir war nach Weinen zumute, als ich schrieb. Ich glaube, das lag am Kontrast. Ich muß jetzt aufhören. Leb wohl, liebste Zosia. Ich nehme an, Du wirst mich natürlicher finden, wenn ich zurück bin.
In Liebe. Eryk.
Das war sein letzter Brief. Damals arbeitete Zofia in der polnischen Abteilung der BBC in London. Erics Schwester rief sie dort an. Sie erzählte ihr, was sie wußte: daß Eric während der japanischen Offensive in Gefangenschaft geraten war, zusammen mit einem Amerikaner hatte fliehen können, von Dorfbewohnern verraten und von den Japanern gezwungen wurde, sein eigenes Grab zu schaufeln, in das sie ihn mit Bajonettstichen hineinbeförderten.
Ich fragte Zofia, ob sie Eric geheiratet hätte.
»Phiilip, ich weiß es wirklich nicht. Natürlich haben wir von der Zukunft gesprochen, aber wir haben nie Pläne gemacht. In jenen Tagen geschah alles so schnell. Wäre ich mir mit Eric sicher gewesen, hätte ich wohl hinterher nicht so schnell geheiratet.«
Ein Jahr nach Erics Tod heiratete Zofia einen Spitfirepiloten, einen Polen. Die Trauung fand in der katholischen Kirche in der Fulham Road statt. Helena konnte nicht kommen; sie hatte eine schwere Angina. Die Flitterwochen verbrachten sie in Wales, in einem Hotel an einem See, das polnischen Fliegern freie Kost bot. Zofia erinnert sich an eine Folge schöner Herbsttage und an feuchten Adlerfarn. Es war ein kurzer Augenblick des Glücks, den sie den braunen Kriegsgreueln gestohlen hatten. Und es war ein Anfang.
Nach zehn Tagen mußte ihr Mann wieder zu seinem Geschwader in Northolt; Zofia kehrte nach London zurück. An den Abenden, an denen er nicht flog, telefonierten sie miteinander. Eine Woche nach ihren Flitterwochen flog er einen Einsatz über Frankreich. Seine Spitfire war auf dem Heimflug, als sie abgeschossen wurde. Sie waren nicht einmal drei Wochen verheiratet gewesen. Mit dreiundzwanzig war Zofia Witwe.
Nach dem Krieg heiratete sie einen amerikanischen Diplomaten. Sie ließen sich in Cornwall nieder und wurden Hotelbesitzer und kauften Braganza. Zofia war für die Weinkeller zuständig, schrieb Gedichte und segelte – miserabel – die Memory. Sie pflanzte Rosen, Escalloniahecken und Kamelien, und sie hatten zwei Kinder. Aber das Lebensmuster Verlust setzte sich fort. Ihr Sohn kam mit einundzwanzig bei einem Autounfall ums Leben. Sie machten Pleite und verloren die Hotels. Zofias zweiter Mann starb mit achtzig eines natürlichen Todes.
In Braganza hängt ein Bild von ihrem Sohn, eine Pastellzeichnung. Er trägt einen Schnurrbart. Er hatte für das Porträt versucht, sein Haar zu bürsten, aber man sieht, daß es nichts gebracht hat: es war zu wirr und buschig, um sich zu fügen. Er hat Zofias schwere Augenlider.
Ich habe das gleiche Gesicht noch einmal gesehen, in St. Petersburg. Es war ein gerahmtes kleines Bild in der Heldengalerie der Eremitage. Dort hängen Einzelporträts aller Generäle, die 1812 dazu beigetragen haben, Napoleon hinter den Njemen zurückzutreiben. Zar Alexander I. beherrscht eine ganze Wand. Seine Generäle füllen die Wände zu beiden Seiten. Links auf halber Höhe ist einer, der als einziger den Porträtisten nicht ansieht. Er hat den gleichen Schnurrbart, das gleiche nicht zu bändigende Haar.
Unter dem Bild steht in kyrillischen Buchstaben: General I. O. O’Breifne.
1992, mehrere Monate nach unserer Rückkehr aus Weißrußland, saßen Zofia und ich eines Abends in ihrem Wohnzimmer in Braganza. Das Bild von Mantuski hing über ihr. Es dämmerte, und der Wind rüttelte an den Türen; ein Sommersturm war im Gange. Vom Fenster aus sah man einen der Trawler in die Bucht zurückkehren. Neben dem Fenster stand im Halbdunkel die Araukarie.
»Genau hier, erinnere ich mich«, sagte Zofia, »habe ich vor fünfzehn Jahren mit Mama gesessen. Auf dem Rasen spielten lautstark die Enkelkinder – ihre Urenkel. Nicht eines von ihnen sprach ein Wort Polnisch. Englisch, Französisch – aber kein Polnisch. Keiner ihrer Nachkommen hatte einen polnischen Partner geheiratet. Mama war damals schon fast blind. Sie drehte sich zu mir um und sagte ganz sachlich: ›Manchmal frage ich mich, ob es richtig war, euch alle aus Polen herauszubringen. Vielleicht wäre es das Beste gewesen, einfach auf die Russen zu warten.‹«
Im Exil hatte Helena sich in einem Winkel von Surrey niedergelassen. Sie teilte sich dort ein großes Haus im Tudorstil mit einer Freundin und mehreren Katzen. Es war ein unauffälliges Haus in einer unauffälligen Gegend. Mit einer Ausnahme. Auf den Bildern, die Zofia mir gezeigt hat, war es von genau den gleichen Kiefern- und Birkenwäldern umgeben, wie sie Mantuski umgeben hatten.
»Im Alter ließ ihre Sehkraft nach. Sie wurde sehr anspruchsvoll. Ihre eigene Mutter war kurz nach dem Krieg in Dublin gestorben. Daß sie eine O’Breifne war und damit eine – wenn auch nur angeheiratete – Nachfahrin berühmter irischer Emigranten, der Wild Geese, hatte sie dort zu einem Kuriosum gemacht. Bei meiner Mutter war es anders. Sie hat mehr als vierzig Jahre hier gelebt, ist aber nie richtig heimisch geworden. Sie hat immer versucht, mich dazu zu bewegen, nach Surrey zu ziehen, aber wie hätte ich das tun können? Ich hatte hier meine eigene Familie. Schließlich zog sie im Januar 1981 hierher.
Bei ihrer Ankunft trug sie eine dunkle Brille und hielt eine Katze unter dem Arm. Ich hatte mir vorgestellt, sie jahrelang bei mir zu haben. Aber nach nur drei Wochen war sie tot. Liebe Mama . . .«
Zofia blickte aus dem Fenster. Es war inzwischen fast dunkel. Die Bäume waren bloß noch Schatten vor dem Hintergrund der Bucht. Von Westen breitete sich Nebel aus. Vom Leuchtturm klang das Stöhnen des Nebelhorns herüber.
Fern in Mantuski stand die Lärche immer noch. Daneben befand sich das Haus von Pani Cichonia. Zweimal war sie eingeschritten, um die Leute vom Amt abzuhalten, sie zu fällen.
»Sehen Sie.« Sie hatte auf den Stamm gedeutet, »Sie können die Axtkerben erkennen.«
Pani Cichonia hatte nach der Familie gefragt, nach Zofias Tanten und Brüdern, nach ihrer Mutter und was mit ihnen geschehen war. Plötzlich beugte sie sich vor und unterbrach Zofia. »Ja, vor elf Jahren sind die Kinder hier beim Spielen gewesen, und da hat es auf einmal geblitzt. Aus heiterem Himmel, und der Blitz hat in den Baum eingeschlagen! Nadeln und kleine Zweige sind heruntergewirbelt« – Pani Cichonia machte eine Spiralbewegung in der Luft –, »es muß damals gewesen sein – es muß um die Zeit gewesen sein, als Pani Helena starb!«
Zofia rupfte drei der grünen Samenzapfen vom Baum. Zu Hause in Braganza versuchten wir sie zu ziehen. Wir setzten sie im Gewächshaus in Töpfe ein, doch in den Töpfen wuchs nichts als etwas Unkraut. Erst im folgenden Frühjahr, als man die Töpfe halb vergessen im Gewächshaus am Boden fand, stellte sich heraus, daß das Unkraut winzige Lärchenschößlinge waren.