Die Jahre vergingen, und wir fuhren nicht mehr nach Cornwall. Ich brach eine langwierige Ausbildung ab, zog nach London, und Zofia und Polen versanken in dem fruchtbaren Urschlamm halbvergessener Orte und Menschen. Ich erhielt noch dann und wann Nachricht von ihr – eine Betrachtung aus Spanien über das Thema »heiße Sonne und geistige Trägheit«, Anrufe, bei denen sie wissen wollte, ob ich verliebt sei, und mit der Post Stengel von Grasnelken und Meersenf, damit sie und Cornwall mir nie gänzlich aus dem Sinn kämen.
Dann rief sie an, sie werde für ein halbes Jahr nach Australien fahren: ob ich ihr wohl bei der Abreise behilflich sein könne?
»Natürlich«, sagte ich.
»Ich reise Sonntag in einer Woche. Um zwölf Uhr mittags.«
»Von Heathrow?«
»Nein! Von Tilbury.«
Sie hatte sich eine Koje auf einem polnischen Frachter genommen. Ich schleppte ihre beiden Koffer die Gangway hinauf. In dem einen war ihre Kleidung (Wollsachen für den Golf von Biscaya, Baumwollkleider für die Tropen), in dem anderen Bücher. Sie stieß ihre Kabinentür auf und setzte sich auf das Bett. Vom Niedergang drangen die Rufe der Besatzung, polnische Rufe, und Zofia sah mich traurig an und lächelte: es erinnerte sie an zu Hause.
Ich ließ sie an Bord zurück und sah zu, wie der graue Schiffskörper themseabwärts davonglitt. Ich stellte sie mir beim Bücherauspacken in ihrer Kabine vor und dachte zum erstenmal darüber nach, was das Exil wirklich für sie bedeutete – jene fortwährende Wurzellosigkeit, das unablässige Gefühl, nicht dazuzugehören, das Abwehren bitterer Gedanken. In den nächsten Monaten fiel eine Reihe dicker Briefumschläge durch meine Tür – abgestempelt in Genua, Alexandria, Dubai und angefüllt mit Zofias »Seegedichten«. Sie waren eine Bestätigung meiner Gedanken und trugen dazu bei, mir klarzumachen, daß das Exil ebenso wie lange Seereisen – diese ganze allmähliche Verflüchtigung eines festen Orts – insgeheim die Möglichkeit für Entdeckungen in sich bargen.
Im Jahr darauf schrieb ich Zofia, ich ginge von London weg. Ich wolle nach Cornwall ziehen.
Postwendend kam ein Brief. »Ich fürchte«, schrieb sie, »die Furien haben dich doch noch zu fassen bekommen.« Aber sie freute sich.
An einem trüben Januartag kam ich bei Einbruch der Dämmerung ins Dorf zurück. Es war stürmisch. Wellenberge türmten sich in jähen Eruptionen über der Kaimauer, schwappten die Straße hinunter und durchnäßten die bretterverrammelten Häuser. Ich schloß das kleine Haus auf, lud mein Zeug ab und stieg den Hügel hinauf, um Zofia zu besuchen.
Braganza war unverändert – die Fotografien, die Bärenfelle, die Samoware. Die Araukarie stand unbewegt im Sturm. Aber eine gewisse Ruhe hatte sich über das Haus gelegt. Aus den Räumen hallte Abwesenheit. Wo waren die käsegesichtigen Männer mitsamt ihren altväterischen Anzügen, die finnische Köchin, die sommerlichen Horden französischer Kinder? Wo der alte polnische Kavallerieoffizier, der Maler aus Krakau und der geheimnisvolle Dichter aus Posen?
Zofia war allein. Sie saß in einem Lehnsessel und las. Bei meinem Eintreten legte sie ihr Buch hin und nahm rasch die Brille ab. »Phiilip, wie schön, dich zu sehen.«
Sie war inzwischen verwitwet. Ihre Tochter lebte in Frankreich, ihr Sohn war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Memory war an einen Richter verkauft worden. Etliche Hundegenerationen waren gekommen und gegangen. Auch das Ulmenrund draußen war fort, von Baumkäfern zu Tode genagt. Auf ihrem Kaminsims stand eine Sperrholzfahne mit der Aufschrift »SOLIDARNOSC«; es war die Zeit des Kriegsrechts in Polen.
Doch nichts davon hatte Zofias Elan Abbruch getan. Sie schien wie immer, nicht verbittert, kraftvoll. Ihre Sprache hatte sich die Honigtöne bewahrt, ihre Gegenwart ihre Anziehungskraft. In den kommenden Monaten fand ich sie noch immer voll Schalk, noch immer schrieb sie, war noch immer von jener slawischen Aura umgeben – und von ihren Hunden, drei an der Zahl, die gleich Engeln ihr zu Füßen schliefen. Wenn überhaupt, schien sie glücklicher.
»Ja, Gott sei Dank! Es ist viel besser, siebzig zu sein, als so alt wie du.«
»Warum?« fragte ich.
Sie beugte sich zu mir hin. »Nicht mehr dieses Durcheinander mit dem Sex!«
Eines Nachmittags kam ich nach Braganza hinauf und fand Zofia auf dem Boden kniend vor, neben sich Kladden und Ordner. »Die Aufzeichnungen meiner Mutter«, seufzte sie und fing zum erstenmal an, mir von ihr zu erzählen. Sie wurde lebhaft; ihr polnischer Akzent verstärkte sich. Ihre Arme hoben sich beim Heraufbeschwören alter Kümmernisse, fielen herab bei dem Gedanken an das, was verloren war. Sie schimpfte über die unmöglichen Forderungen, die ihre Mutter gelegentlich gestellt hatte. »Und doch war sie einer der außergewöhnlichsten Menschen, die ich je gekannt habe.«
»In welcher Hinsicht?«
Zofia dachte nach. »In beinahe jeder Hinsicht. Sie konnte einen Falken von einem Baum herunterlocken. Sie war eine brillante Gesprächspartnerin. In ihrer Gegenwart war alles gelöster, heiterer. In mancher Hinsicht war sie fast wie eine Heilige. Aber was ist alles um sie herum passiert, mein Gott!«
»Was alles?«
Zofia drehte sich zu mir um. Sie zögerte; die Frage war zu groß für eine Antwort. »Kriege . . . Unglücke . . . Flucht . . .« Dann schob sie die Papiere quer über den Teppich. »Aber es ist alles da! Es ist alles da drin! Warum liest du nicht einfach selber?«
Ich nahm die Papiere mit nach Hause, die Kladden, Briefe und Tagebücher, sogar einige kurze Erzählungen. Vieles davon war auf englisch; anderes hatte Zofia übersetzt. Eine Woche lang las ich diese Aufzeichnungen, las sie wieder. Die schemenhafte Welt von Zofias Vorkriegsvergangenheit erwachte zum Leben. Die Szenen, die sie Jahre zuvor für mich heraufbeschworen hatte, formten sich neu, gewannen Fleisch und Blut auf den Hunderten von Seiten in der blaßblauen Schrift ihrer Mutter.
Feuchter Waldgeruch stieg von den Kladden auf, während ich sie las, auch Leidenschaft und Verrat. Das alte Europa war zwischen diesen vergilbenden Seiten wie eine Fliege gefangen und zerquetscht worden. Zofias Mutter schlug mich in Bann.
Sie wurde am 17. Juli 1898 in den nördlichen Gebieten des russischen Teils von Polen in einem Haus mit dem Namen Platków geboren. In ihrer Geburtsnacht fegte ein wilder Sturm über die Wälder hinweg, der die Kiefern wie Zündhölzer verstreute. Lange Jahre danach lagen die Bäume noch da, wo sie hingefallen waren, und Zofias Mutter nahm darum an, daß Verwüstung ein natürlicher Zustand war.
Sie wurde Helena getauft. Von seiten ihrer Mutter stammte sie aus einer traditionellen polnischen Gutsbesitzerfamilie, mit einer traditionellen Gutsbesitzerabneigung allem Fremden gegenüber. Dies war die Welt, auf die Helena Anspruch hatte, für die sie geboren war, in der sie sich bequem hätte einrichten können, wären da nicht zwei Dinge gewesen: Jene Welt ging, wie sie immer spürte, ihrem Ende entgegen. Und sie hatte einen ausländischen Namen geerbt.
Ihr Vater hieß O’Breifne. Er war der direkte Nachkomme von Lochlainn, dem letzten König von East Breifne. Lochlainn hatte im fünfzehnten Jahrhundert über das Land bis knapp südlich von Ulster geherrscht. Doch zweihundert Jahre später, nach dem Untergang des Königreichs, mußten seine Erben nach der Schlacht an der Boyne vor den Engländern fliehen und sich nach Frankreich absetzen.
Von Frankreich gingen drei Brüder O’Breifne nach Rußland, auf Einladung von Zarin Elisabeth, um deren Offizieren die tatarische Wildheit abzugewöhnen. Einer der Brüder, Cornelius, der als einziger Nachkommen hatte, ließ sich dort nieder. Obwohl seine Familie in Rußland blieb, wurden sie nie naturalisiert. Cornelius’ Sohn wurde ein berühmter General (sein Porträt hängt in der Petersburger »Galerie von 1812«), bei dessen Kindern Zar Alexander I. Pate war. Doch er brachte es nicht über sich, das eine aufzugeben, was er aus seiner alten Heimat beibehalten hatte: seinen Glauben.
»Vergiß nie«, hatte sein Vater ihm gesagt, »daß du Katholik und Ire bist.«
Da er im Fall der Heirat mit einer Russin zum orthodoxen Glauben hätte übertreten müssen, hatte er nur die Möglichkeit gehabt, eine Polin zu heiraten. Drei Generationen taten es ihm nach. Das irische Blut wurde verdünnt. Doch in dem Klima der Engstirnigkeit, das in den Großgrundbesitzerfamilien Ostpolens herrschte, waren Helena und die O’Breifnes immer Außenseiter. Zum einen lasen sie Bücher. Einige von ihnen waren Anhänger der liberalen Ideen Tolstois. Sie erörterten so gefährliche Dinge wie eine Landreform. Und dann war da noch der Name.
Die O’Breifnes waren, wie das Bühnenflüstern verstaubter Adelswitwen Helena ständig mahnte, »keine echten Polen«.
Auch Zofia erinnerte sich an das Geflüster. »All diese vornehmen Polinnen taten immer so, als könnten sie den Namen nicht aussprechen. ›Orbrefna? Orbrefska? Was für eine Art Name ist das? In Irland gibt es Dutzende davon . . . hausen da überall in irgendwelchen Löchern . . .‹«
Bei einem Besuch in Braganza gab Zofia mir einen Briefumschlag. Aus dem Umschlag fielen zwei Fotos. Es waren die einzigen, die den Krieg überstanden hatten.
Das erste Bild war 1936 an einem Waldrand aufgenommen worden. Helena bückte sich, eine Hand auf dem Rücken eines Hundes. Sie blickte zur Kamera auf, ein angedeutetes Lächeln in den Mundwinkeln. Eine Art trunkener Lebenslust ging von ihr aus.
»Das ist nah dem Haus in Mantuski aufgenommen worden, mit Barraj, einer der dänischen Doggen.«
Das andere Bild war ein Studioporträt, 1919 in Warschau angefertigt. Helena war zwanzig. Ich betrachtete ihr hochgeschlossenes weißes Kleid, den stolz aufgerichteten Kopf, das Lächeln, die schmalen Augen und ihren merkwürdigen glatten Teint.
Zofia deutete mit dem Finger darauf. »Siehst du, wie sie hier, unten am Hals, mit ihrer Kette spielt? Sie sagte immer, damit könne man Männer in sich verliebt machen.« Zofia senkte die Stimme. »Weißt du, ich glaube, es stimmt! Ich habe es sogar ein paarmal ausprobiert . . .«
Ich sah die beiden Bilder genau an. Ich versuchte mir einzureden, daß es etwas anderes war. Es waren die Tagebücher, die Briefe, ihre außergewöhnliche Geschichte; es war die Art und Weise, wie diese Frau, Helena O’Breifne, die steilsten Höhenlinien unseres Zeitalters gequert hatte; es war, daß für mich, der ich in ebeneren Jahrzehnten lebte, in einem ruhigeren Winkel Europas, ihre Welt all das verkörperte, was verlorengegangen war, ein Land rückständiger Dörfer, verdreckten Viehs, uneingezäunter Felder, ein Land, wo man das Vergehen der Zeit nur vor dem Hintergrund der Jahreszeiten wahrnahm, ein Land, in dem das Leben aus Übertreibungen bestand – Übertreibung im Wohlstand, in der Armut und im Leid –, Lebensläufe, die von einer Geschichte herumgestoßen wurden, die niemand unter Kontrolle zu haben schien: Helenas Welt war größer, grausamer, eine Welt halbverrückter Adliger, die von geborgter Zeit lebten, und würdevoller Bauern, die außerhalb der Zeit lebten, es war ein anderes, ein älteres Europa.
Aber Zofia hatte natürlich recht. Mein Interesse war auch ein sehr viel banaleres. Es hatte ebensoviel damit zu tun, wie Helena mit ihrer Halskette spielte.