Es dauerte genau drei Jahre, bis Mantuski wieder aufgebaut war. In der Zwischenzeit wohnten Adam und Helena in Druków, im alten Gutskontor von Onkel Nicholas, einem Gebäude, das allgemein die oficyna hieß.
Der erste Winter war der schlimmste, den sie je erlebt hatten – schlimmer noch als die Kriegswinter. Die kumulierten Auswirkungen von Besetzungen, Offensiven, Invasionen und Rückzügen hatten das Land ausgesaugt. Es gab nichts. Weder Kühe noch Pferde noch Schweine noch Hühner noch Getreide; es gab weder Post noch Züge.
Zunächst hatte Helena noch ein paar amerikanische Konserven, die hauptsächlich an Haust verfüttert wurden. Danach gab es nur noch Buchweizen. Dieser wurde zu einer wäßrigen Grütze gekocht, der kasza, dem bewährten Puffer gegen Hunger. »Kasza ist unsere Hoffnung«, war eine volkstümliche Redensart, und Adam wurde nie müde, sie bei Tisch scherzhaft zu wiederholen, wenn er Rymszewiczs junger Tochter Kasia ihr Schüsselchen reichte.
Doch Adam war nur selten in Druków. Jeden Montagmorgen marschierte er in jenem Winter durch den Schnee nach Mantuski. Dort wohnte er die Woche über bei einer Bauersfamilie in einer chata und machte sich daran, auf dem dwór Schutt zu räumen.
Man war sich nicht einig, was mit Mantuski passiert war. Adam trug unterschiedliche Berichte der Dorfbewohner zusammen. Es schien so zu sein, daß nach der Schlacht am Njemen, gegen Ende September 1920, eine große Anzahl russischer Einheiten auf dem südlichen Flußufer den Rückzug angetreten hatte. Polnische Kavallerie hatte ihnen nachgesetzt und sie vor sich hergetrieben. In Mantuski, wo eine Fähre lag, hatte es beim Übersetzen einen Stau gegeben, und es war zu einer Art Schlacht zwischen Polen und Russen gekommen. Als sie vorbei war, stand der dwór in Flammen. Niemand konnte ihm sagen, wer dafür verantwortlich war – die Polen, die Russen oder plündernde Dorfbewohner.
Für Helena, die in Druków praktisch allein war, schleppten die Wochen sich hin. Sie vermißte Adam. Jeden Samstagabend kam er für zwei Nächte von Mantuski zurück, schüttelte sich den Schnee von den Stiefeln und legte sein Gewehr auf den Tisch. Für sie waren diese Nächte in jenem düsteren Winter die einzige Zeit, in der sie sich wirklich lebendig fühlte.
Im Februar 1921 fing Helena an, die Dorfkinder zu unterrichten. Sie brachte ihnen Lesen und Schreiben bei, und kleine Geschenke fingen an, bei ihr einzutrudeln: ein Stück Speck, etwas spelziges Brot, Getreide, das einer hatte verstecken können, eine Knolle rote Bete. Und eines Tages ein Zettel in nahezu unverständlichem Polnisch mit der Bitte, die Großmutter eines Mädchens zu besuchen.
Die Großmutter war eine unförmig breite Frau, und sie war sehr krank. Sie lag in einer kleinen Hütte im Wald auf dem Ofen. Ihre Familie war, weil tatarisch, in den Kriegsjahren nach Osten geflohen, und jetzt war nur noch dieses eine Mädchen da.
»Bitte, helfen Sie ihr«, flüsterte die Frau im Liegen. »Mit mir ist es bald vorbei.«
Helena tat, was sie konnte. Sie schickte ihnen etwas zu essen, wenn es irgend etwas gab. Die Tatarin blieb am Leben. Ihr Zustand war immer gleich, wenn Helena kam, sie lag bleich und teilnahmslos, wenn auch lebend, auf ihrem warmen Lager.
An einem nebligen Märztag kehrte sie in der Dämmerung von der Hütte der alten Frau zurück. Ein Soldat in zerlumpter Uniform trat aus dem Nebel und ging neben ihr her.
Es war ein polnischer Soldat. Er hatte im Wald gelebt, seit seine Einheit beim letzten russischen Vormarsch zerschlagen worden war. Er hatte gehört, es sei Frieden, glaubte es aber nicht.
»Gott hat dieses Land verlassen«, sagte er.
»Gott ist noch immer da, wenn man genau hinsieht.«
»Zwischen den Bäumen sehe ich nur Gespenster. Die Männer, die gefallen sind. Nur die kenne ich. Gespenster.« Er schaute auf seine Bastschuhe und schüttelte den Kopf. »Ich habe niemanden. Niemanden, nur Gespenster. Bleib stehen, hier bei mir.«
Sie sagte nichts.
»Bleib stehen«, wiederholte er und baute sich vor ihr auf. Sie war gezwungen anzuhalten. Er streckte seine geschwärzte Hand aus und griff nach ihrer Schulter.
Der Wind seufzte in den Zweigen über ihr; es dunkelte. Helena sah ihm in die Augen. »Auch ich bin ein Gespenst. Und wer sich mit einem Gespenst einläßt, kann nie ins Land der Lebenden zurück.«
Der Arm fiel herunter.
Tage danach hörte Helena die Geschichte eines Deserteurs, der mit weit aufgerissenen Augen aus dem Wald gerannt war und zähneklappernd von einem Gespenst erzählte, einem seltsamen und liebebedürftigen Gespenst, das versucht hatte, ihn anzusprechen.
Um diese Zeit traf Stefan aus Platków ein. Er führte zwei Stuten mit, Siwka und Gniadka, dieselben Pferde, die Helena und Adam nach ihrer Hochzeit gezogen hatten. Helena erkannte sie kaum wieder; sie standen im Hof, und die Reifen ihrer Rippen stachen aus ihren von Ausschlag bedeckten Flanken hervor. Stefan sagte, sie wären reif für die Wölfe, aber er wußte, sie würde Verwendung für sie haben.
»Oioioi!« Sie schlug sich mit der Hand ans Kinn. »Diese Gerippe!«
So krank sie auch waren, Siwka und Gniadka waren die beiden einzigen Pferde überhaupt in diesem toten Landstrich. Helena säuberte die Drukówer Ställe von altem Stroh und Spinnweben. Dreimal täglich schrubbte sie die Pferde mit einer Tabaklösung; sie betupfte die wunden Stellen mit Borsäure. Ihre Freundin, die Tatarin, förderte etwas Leinöl zutage, und damit rieb sie sie ein; jemand anders brachte Salz, und so bekamen sie Salz. Sie wechselte die Streu, pflegte sie, fütterte sie, redete mit ihnen, betete für sie – und allmählich, ganz allmählich, kehrte ein wenig Leben in ihre müden Augen zurück.
Mitte März drehte der Wind auf Süden; die Schneeflecken im Park tauten; ein, zwei milde Tage schlichen sich zwischen den Frösten ein. Die unbeweideten und ungepflügten Felder schienen den Wechsel der Jahreszeiten nicht wahrzunehmen.
Unterdessen regte sich in den Kresy erstes Leben. Einmal pro Woche fuhr ein Zug nach Wilna, und hin und wieder brachte jemand aus Nowogródek einen Brief mit. Helena erhielt einen ihrer Mutter. Er war vom 20. März datiert und kam aus Wilna:
Tante Anna ist hier, schrecklich unglücklich. Alle Welt gereizt wegen der allgemeinen Knappheit. Wir haben das Haus in der Mała Pohulanka zurückerhalten. Komm nach Wilna, Liebes, solange Adam Mantuski wieder aufbaut. Dein Zimmer ist noch da. In ein paar Jahren bist du runzlig wie eine alte baba, wenn du weiter da draußen lebst . . .
Helena lehnte ab.
An einem Samstag Ende April tauchte Adam nach einer Woche in Mantuski mit langen Schritten auf der Auffahrtsallee auf, unter dem Arm eine sechs Tage alte Zeitung. Er rief den Haushalt zusammen – Pan Rymszewicz und seine Frau und die Familien einiger von Helenas Schülern. In der niedrigen Nachmittagssonne stand Adam auf den Stufen und schob seine Mütze nach hinten.
»Vom Sejm in Warschau! ›Im Namen Gottes des Allmächtigen!‹« las er. »›Wir, das Volk Polens, voll Dank gegen die Vorsehung für die Befreiung aus anderthalb Jahrhunderten der Knechtschaft, in dankbarem Gedenken an die Tapferkeit, die Ausdauer und die selbstlosen Kämpfe vergangener Generationen . . . wir verkünden und genehmigen hiermit dieses Verfassungsstatut in der Gesetzgebenden Versammlung der Republik Polen.‹«
Ein zögerndes Hurra stieg von der kleinen Schar auf, und die Frauen küßten einander. Pan Rymszewicz eilte ins Haus. Mit Wodka und einem Tablett klirrender Gläser kam er wieder heraus.
»Ein Hoch«, rief Adam, »auf Piłsudski! Auf Polen!«
»Auf Polen! Auf die Republik!«
Doch ein oder zwei Nichtpolen waren dabei, die seine Begeisterung nicht teilten und sich murmelnd ins Dorf, in ihre Häuser mit den leergefegten Regalen davonstahlen.
Nach jenem Winter hatten Helena und Adam das unausgesprochene Gefühl, daß es nie wieder so schlimm kommen würde. Zwischen ihnen war nur von der Zukunft die Rede. Die Vergangenheit war ein Schattenort, und keiner von beiden hatte den Wunsch, ihn wieder aufzusuchen.
Im April wanderte Helena mit Adam nach Mantuski. Es war eine Woche vor Ostern. Der Njemen führte Hochwasser, und der Fährmann Gregory mußte ziemlich kämpfen, um sie über den Fluß zu setzen.
Am Bauplatz waren kaum Fortschritte zu sehen. Er war geräumt; neben den Bäumen lag ein Stoß verkohlter Balken; die alten Mauern waren abgerissen, und die parobcy hatten angefangen, die Steine zu sortieren. Aber es mangelte ihnen an allem – an Material, Werkzeug und Zeit. Helena war ganz elend bei dem Gedanken, wie lange es dauern würde. Sie kehrte voller Pläne nach Druków zurück, und einer davon war, eine Bienenzucht anzufangen.
Etwa eine Woche später entdeckte Pan Rymszewicz einen Schwarm im Stamm einer alten Eiche. Sie hackten den Teil nachts heraus, setzten ihn im Obstgarten auf Holzständer und bauten am frühen Morgen einen Bienenkorb und drei Rahmen. Nun ging Helena daran, den Schwarm in den Bienenkorb umzusiedeln. Während sie ein rauchendes Schilfbündel schwenkte, schnitt sie das Wachs mit den Eiern darin heraus, trug es zum Bienenkorb und legte es hinein. Dann ließ sie das Schilf fallen und floh.
Aber die Bienen waren unter ihren Schleier geraten; sie wurde böse gestochen. Noch drei Tage danach konnte sie kaum sehen. Ihre Temperatur stieg auf 40 Grad. Nach einer Woche kam ein Arzt aus Nowogródek. Pani Rymszewicza führte ihn zur Bibliothek, wo Helena auf dem Sofa lag. Er untersuchte sie, wusch sich die Hände und sagte, sie werde sich bald erholt haben. Und er verkündete zudem, daß sie im dritten Monat schwanger war.
»Großer Gott!« Pani Rymszewicza mußte sich setzen. »Und das nach all den Bienenstichen! Was für eine Art von Geschöpf werden Sie zur Welt bringen?«
»Ein leidgewöhntes«, meinte Helena scherzend.
Doch in Wahrheit hatte sie schreckliche Angst. Sie schickte eine Nachricht nach Mantuski, und zwei Morgen später stürmte Adam in ihr Zimmer, nachdem er die Nacht hindurch marschiert war. Sein Haar war strähnig, und als er seine czapka abnahm, standen einige Büschel kreuz und quer ab. »Ich will ein Dutzend Kinder!« rief er.
»Nein, Adam Broński! Ich bin keine Maschine.« Aber auch sie lächelte.
Adam breitete die Arme aus und stieß einen Juchzer aus.
Zunächst war Helena häufig übel. Sie nahm ab, und ihre Wangenknochen traten spitz unter ihrer blassen Gesichtshaut hervor; sie wurde sehr schlechter Laune.
Im Mai wurden in Druków die Kartoffeln ausgegraben; die schlammverkrusteten weißen Knollen waren das erste wirkliche Lebenszeichen des toten Landes. Am See blühte der Flieder auf, und Helena wurde etwas kräftiger; sie ging spazieren, so oft sie konnte, und ließ ihre Hände durch das hohe Gras schleifen.
Um die gleiche Zeit war das Leben in Druków auf dem Weg zu seiner alten Vorkriegsnormalität. Onkel Nicholas kehrte von Warschau zurück. Das Hausmädchen Helenka und die Angorakatzen Kiki und Risetka kamen mit dem Zug aus Wilna; Pan Rymszewiczs Bruder, der 1916 in den russischen Schützengräben einen Arm verloren hatte, war wieder da. Rymszewicz selbst reiste Richtung Westen nach Posen und kehrte nach drei Wochen mit zwanzig Kühen und drei Pferden zurück. Onkel Nicholas schenkte Adam eines der Pferde und drei Kühe für Mantuski. Den restlichen Sommer über gab es in Druków Milch und Butter und den ersten Käse, und Helenas Wangen rundeten sich wieder; sie wurde kurzatmig und schwerfällig.
Im September schließlich erschien, von Helenas Mutter geschickt, Panna Konstancja in einer zerbeulten alten taczanka mit zwei zehnpfündigen Schinken auf dem Sitz neben sich.
Man kam überein, daß das Baby in Wilna geboren werden sollte, und Anfang Oktober machte Helena sich mit Adam und Haust dorthin auf. Sie wohnten in dem Haus in der Mała Pohulanka. Mit den ersten Frösten setzten Helenas Wehen ein, und Adam brachte sie in die Dr.-Rymsza-Klinik. Den ganzen Nachmittag hielten die Wehen an. Die Schmerzen entsetzten Adam. Bei Einbruch der Dämmerung, als er es nicht länger mitansehen konnte, stahl er sich fort, in die St. Jakobskirche, um dort zu beten. Er betete, betete und betete. Dann schlief er ein. Als er aufwachte, stellte er fest, daß man ihn eingeschlossen hatte. Die ganze Nacht saß er in der Kirche fest, und als er endlich erlöst wurde, um acht Uhr morgens, eilte er zum Krankenhaus in der sicheren Erwartung, Helena tot vorzufinden.
Aber sie saß aufrecht im Bett. Sie hatte ein neuneinhalbpfündiges Baby bekommen, eine Tochter. Adam fiel neben dem Bett auf die Knie und weinte.
Adams Vater und Helenas Mutter, ihre beiden noch lebenden Elternteile, waren die Paten. Das Mädchen wurde in Wilna getauft: Zofia Aleksandra.
Als sie nach Druków zurückkamen, erwartete sie dort im Hof eine Kutsche. Aus dem Fenster schaute ein Gesicht, das an einer Möhre kaute. Es war das bärtige Gesicht einer Ziege. Der Kutscher händigte Helena einen Brief aus, der im Kopf das Brońskiwappen trug:
»Eine Ziege zur Geburt Eurer Tochter Zofia Aleksandra. Stanisław Broński.«