27.

Sie ließen die Allee und Michałs Kreuz hinter sich und fuhren weiter durchs Dorf. Vor der Kirche hatten sich Menschen versammelt. Sie standen in formlosen Gruppen und warteten. Einige lehnten sich auf Sensen, andere hielten ihre Mützen in Händen, kleingefaltet wie Ausweispapiere. Als sie die Fuhrwerke hörten, schlurften sie schwerfällig auf die Seite. Sie verstummten, und die Pferde trabten an ihnen vorbei.

Helena konnte es nicht ertragen hinzusehen; sie konnte es nicht ertragen, ihren Haß zu sehen – und konnte noch weniger den Anblick derjenigen ertragen, die sie nicht haßten. Wieder dachte sie: ich kann nicht fort, ich bringe die Kinder in Sicherheit und komme zurück.

Sie hielten sich nördlich des Njemen. Die Straßen waren leer. Eine atemlose Hitze lag auf dem Land, und die Wolken waren schwer und gewittrig. Unter ihnen standen unbewegt die Wälder. Aus der Ferne hörte man das dumpfe Geräusch von Granatfeuer.

Helenas Plan war, nach Wilna durchzukommen. Dort lebte eine große Anzahl von Polen. Sie würde dort abwarten können, bis klar war, was geschah. Aber in dem ersten Dorf, das sie erreichten, mußten sie erkennen, daß das nicht mehr möglich war: die Straße nach Wilna war schon von den Russen blockiert.

Sie fuhren weiter zum dwór eines Freundes. Als sie aus der langen Auffahrtsallee herauskamen, fanden sie die Fensterläden geschlossen, die Eingangstür versperrt, die Ställe leer.

Sie kehrten zur Straße zurück und suchten in einer leeren Scheune Zuflucht, während die Pferde rasteten. Ihre Möglichkeiten, erkannte Helena, schrumpften. An diesem Punkt spielte sie das erstemal mit dem Giftfläschchen in ihrer Jackentasche.

Nach etwa zwanzig Minuten hörten sie das Rattern eines anderen Fuhrwerks, und Helena spähte durch einen Spalt im Scheunentor. Ein Priester, ein älterer Mann, fuhr in einem Ackerkarren auf sie zu. Sie trat aus der Scheune, um ihn zu begrüßen. Sie beäugten einander nervös.

»Vater.« Helena nickte zu ihm hinauf.

»Dzień dobry«, murmelte der Geistliche.

»Woher sind Sie?«

»Aus Lipniszki. Und Sie?«

»Von Mantuski.«

Er sah sie genauer an. »Sie sind Pani Brońska?«

Sie bejahte.

Der Priester sagte, er habe im letzten Krieg mit Adam zusammengearbeitet. »Ein wunderbarer Mensch!«

Aus seiner Soutane zog er eine Landkarte. Er stieg ab und breitete sie am Straßenrand aus. Mit einem Finger seiner knochigen Hand fuhr er über die Wege und Wälder der Kresy.

Wilna war im Norden abgeschnitten. Die Russen marschierten auch nach Süden vor. Im Osten lagen die Russen, im Westen die Deutschen. Ein schmaler Korridor, hundertneunzig Kilometer bis zur litauischen Grenze, erklärte er, verlief zwischen den Fronten in nordwestlicher Richtung. Wie lang der Korridor noch offen bleiben würde, ließ sich nicht vorhersehen.

Der Priester sagte ruhig: »Entweder wir geben uns auf oder . . .« Er machte eine Pause.

»Oder was?«

»Oder wir vertrauen auf Gott und steuern Litauen an.«

Helena brauchte keine Sekunde, um eine Entscheidung zu fällen.

Dabei wußten beide, daß Litauen seine Grenzen bereits geschlossen hatte.

Vater Jarosław war ein Mann von Prophetenstatur. Seine Gliedmaßen hatten eine merkwürdig langgezogene Anmut, und er bewegte sie langsam. Helena fand seine Gegenwart zutiefst beruhigend. Neben ihm auf dem Karren lag die Monstranz aus seiner Kirche.

Es war später Nachmittag, als sie den Rand des nächsten Dorfs erreichten. Eine Frau, die den Geistlichen sah, lud sie in ihr Haus ein, versorgte sie mit Tee, Wodka, Brot und Salz und mit Futter für die Pferde. Sie umklammerte die Hand des Priesters. »Beten Sie für uns alle, Ehrwürden; das letztemal haben die Bolschewisten meinen Sohn mitgenommen, sie haben ihn mitgenommen, und ich habe ihn nie wiedergesehen.«

Plötzlich flackerten die Kerzen, und im Eingang stand der Ehemann der Frau. Er hielt drohend eine alte Flinte. »Haut ab!« schrie er. »Weg mit euch! Wir wollen nicht euretwegen abgeschlachtet werden!«

Sie gingen und fuhren weiter, wieder in den Wald. Sie fuhren die meiste Zeit an jenem Abend. Manchmal war über ihnen ein Flugzeug, und sie hörten, wie Bomben abgeworfen wurden. Bei Anbruch der Dämmerung verdichtete sich die Luft, der Sturm kam schnell und brachte Böen mit sich, die den Straßensand hoch aufwirbelten. Die Pferde husteten und warfen die Köpfe in den Nacken. Dann begann es zu regnen.

»Wir müssen einen Unterschlupf finden, Vater Jaros/ law«, rief Helena laut. »Die Pferde können nicht mehr.«

Vater Jarosław kannte einen Hufschmied, einen breiten Mann in Schaffellweste mit gerötetem Gesicht und zahnlosem Lächeln, der in einer Waldhütte lebte. Er umfing den Geistlichen mit einer großen Schaffellumarmung und sagte, er werde alles tun, um ihnen zu helfen.

»Aber ich muß Ihnen sagen, Vater«, fügte er hinzu, »daß sie schon in Lida sind. Es ist nur eine Frage der Zeit.«

Er hatte keine Ställe, dieser Schmied, und so deckten sie die Pferde mit Fellen zu, nahmen ihnen die Trense heraus und luden haufenweise Klee vor ihnen ab. Beim Fressen dampften ihre Flanken.

Im Haus des Schmieds saßen zwei rußgesichtige Kinder an der Feuerstelle. Eins von ihnen stach mit einer Gabel nach einem Nahrung suchenden Huhn. Helena setzte sich an den Tisch, zusammen mit dem Geistlichen, der im Halbdunkel lächelte und ihr erzählte, er habe an diesem Tag »das Siegel auf ihren Stirnen« gesehen: das Siegel, das in der Offenbarung die Stirnen derer kennzeichnete, die zu überleben bestimmt waren, wenn Gott die Furien auf die Erde losließ.

Es schüttete. Der Regen schlug auf das Strohdach und machte ein zischendes Geräusch auf dem blanken Boden draußen vor der Tür. Helena schlief ein. Ihr Kopf ruhte auf dem Tisch. Der Priester und der Schmied führten eine Unterhaltung weiter, deren gedämpfte Töne plätschernd gegen das Hinterland ihres Schlafs anschlugen.

 

Es war noch dunkel, als Vater Jarosław sie an der Schulter rüttelte. »Schnell, Pani Helena! Auf der Hauptstraße sind Panzer!«

Noch halb im Schlaf stand sie auf und weckte die Kinder; sie hörte in der Ferne das tiefe Brummen, ein Geräusch, das aus der Erde zu kommen schien. Gott im Himmel, dachte sie, wir schaffen es nie, und sie tastete erneut in ihrer Tasche nach dem Giftfläschchen.

Es regnete noch immer. Sie schirrten die Pferde wieder an und schlugen einen Waldweg hinter der Hütte ein. Den ganzen Tag fuhren sie durch den Wald. Sie machten Umwege, mal Richtung Norden, mal Richtung Westen, mieden die Hauptstraßen und Dörfer. Aber gelegentlich war das nicht möglich, und am frühen Nachmittag waren sie gezwungen, für eine kurze Strecke auf der Straße zu fahren. Nach einer Weile näherte sich ihnen von Süden ein Auto, ein schwarzer Chevrolet.

Helenas Sorge wuchs, während es immer näher kam. Als es mit ihnen auf gleicher Höhe war, hielt es an, und Helena sah durch das Fenster das Gesicht eines älteren Mannes, käsebleich, angstverzerrt: es war ein direkter Vetter ihrer Mutter, der von seinem Gut bei Lida floh. Sie drängte ihn, sie mitzunehmen.

Er schaute sie hilflos an. Seine Frau beugte sich über den Sitz . »Hela, bitte! Du siehst doch, daß wir keinen Platz haben!«

Ihr Mann warf verzweifelt die Hände hoch. »Sinnlos! Sinnlos! Niemand von uns kommt durch!« Und er legte knirschend den Gang wieder ein und fuhr weiter.

 

An dem Abend leitete Vater Jarosław sie zu einem Priesterkollegium in einer überwiegend polnischen Kleinstadt. Die Geistlichen waren geflohen. Die Hausmeistersleute sagten, die Russen seien noch ein ganzes Stück entfernt, sie zögen derzeit mehr nord- als westwärts.

Am Morgen breitete Vater Jarosław die Landkarte auf einem großen Eichentisch in der Diele aus. Die litauische Grenze war noch immer gut neunzig Kilometer entfernt. Unmöglich, sie vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Sie beschlossen statt dessen, einen dwór namens Antoków anzupeilen; wie sie gehört hatten, sollten sich dort bereits polnische Flüchtlinge aufhalten.

Sie kamen stetig voran. Doch die Pferde wurden langsamer. Sie schleppten ihre Füße durch den Schlamm, nickten kraftlos, wenn sie sich mühten, die Wagen über den unebenen Grund zu ziehen. Erst im Lauf des Nachmittags gelangten sie zu einem Fluß, der nach dem Regen viel Wasser führte. Die Tiere neigten die Köpfe und tranken, und Helena bückte sich, um ihnen den Schweiß von den Flanken zu waschen.

Als sie wieder aufblickte, stand eine Gruppe von vier Soldaten vor ihr auf dem Weg, die Gewehre im Anschlag. Noch mehr Männer stürzten zwischen den Bäumen hervor, und ein Offizier trat auf sie zu. Sie trugen polnische Uniform.

Helena faßte sich mit der Hand an die Brust. »O Gott sei Dank! Ich dachte, Sie wären Russen!«

»Sie müssen uns Ihre Pferde geben«, sagte der Offizier. »Die Armee braucht Ihre Pferde.«

»Wenn Sie uns die Pferde nehmen, Major, sind wir so gut wie tot.«

Sie sah, daß der Mann Angst hatte. »Lassen Sie uns die Pferde«, sagte sie.

Er trat beiseite und ließ sie passieren.

Es war dunkel, als sie in Antoków ankamen. Es waren viele Flüchtlinge da, größtenteils Landbesitzer. Alles schlief. Helena ging in die Küche, um etwas zu essen herzurichten. Zofia stöberte unter den Vorräten ein paar Kaffeebohnen auf. Sie goß Wasser auf die Bohnen und erhitzte die Mischung in der Küche. Sie begriff nicht, warum es nicht funktionierte. Ihre Mutter ebensowenig. Beide hatten sie nicht die geringste Ahnung, wie man Kaffee machte.

»Da siehst du, wie wir verhungern würden, wenn wir unter den Bolschewisten leben müßten, ohne Personal!« sagte Helena und lachte.

In den Zimmern im Obergeschoß schliefen die Flüchtlinge. Irgendwo fanden die Brońskis eine Ecke und breiteten ihre Decken aus. Das Zimmer hatte keine Vorhänge, und der Mond schien auf die schlafenden Gestalten wie auf eine Hügelkette. Helena blieb lange wach. Sie versuchte sich die litauische Grenze vorzustellen, den Schlagbaum, der vor ihr hochging, und die Posten, die sie durchließen. Sie konnte es nicht. Sie starrte zu den Sternen hinauf und betete.

Kurz nach dem Morgengrauen erreichte den dwór die Nachricht, daß die Russen anrückten. Diejenigen, die Autos hatten, brachen nach Wilna auf, das noch nicht gefallen war. Die Fuhrwerke aus Mantuski waren zu langsam für den Konvoi; Helena wußte, daß sie den Weg zur Grenze allein fortsetzen mußte.

Es gab aber auch ein oder zwei Familien, die nicht weg wollten, die der offenen Straße nicht trauten und meinten, sich den Russen in Würde zu ergeben, sei für sie das Günstigste. Vater Jarosław blieb bei ihnen. Als die Brońskis abfuhren, standen sie verlegen auf der Terrasse und beteten mit Vater Jarosław. Die Familien bildeten kleine Grüppchen um ihn, die Hände gefaltet, aufrecht und elegant in Breeches und Krawatten, in Wollröcken und Spitzenkragen, in all ihrer zum Untergang verurteilten Förmlichkeit.

 

Auf den Straßen war an diesem Morgen mehr Verkehr, ein Gewimmel von Fuhrwerken und führerlosen Truppen. Der Kampflärm war nahe, das Granatfeuer unablässig. An einer Stelle standen ein paar Soldaten ungeordnet am Straßenrand, zu viert, mit nur einem Gewehr für sie alle.

Helena fuhr langsam vorbei. »Was ist?«

Die Soldaten drehten sich um und sahen sie an. Sie sagten nichts, sondern traten zurück, um den Blick freizugeben. Der Leichnam eines Offiziers lag gekrümmt im Gras; er hielt noch immer den Dienstrevolver umklammert, der auf seine Wange gerichtet war, doch die Wange war fort. Helena packte eisiges Entsetzen: es war der Major, der erst am Tag zuvor die Pferde von ihr verlangt hatte.

Sie schnalzte mit den Zügeln und fuhr weiter, bevor die anderen die Möglichkeit hatten, etwas zu sehen.

Kurz danach erreichten sie die Grenzstadt Orany. Sie war kaum mehr als eine erweiterte Hauptstraße, mit einer Reihe junger Linden bepflanzt. In der Stadt herrschte Chaos. Soldaten und Polizisten rannten hin und her. Aus einer der Nebenstraßen tönten Gewehrschüsse; Rauchfahnen stiegen von Gebäuden auf; die windstille Luft wurde von fernen Explosionen erschüttert. Die Russen waren noch nicht in der Stadt, aber die Kämpfe hatten begonnen.

Sie fuhren weiter. Hinter der Stadt ließ der Geschützlärm nach, und sie fielen in Schritt. Sie waren alle erschöpft. Eins der Pferde an Zofias Wagen hatte eine offene Stelle an der Schulter, wo der Deichselarm scheuerte; das Tier schwankte inzwischen bei jedem Schritt.

Die Straße fiel jetzt steil in eine Schlucht ab. Auf deren Grund floß die Mareczanka, die die Grenze darstellte. Sie konnten die Brücke und den Grenzposten dahinter erkennen. Eine Gruppe litauischer Grenzwachen stand oberhalb der Brückenmauer. Auf der polnischen Seite war niemand.

Helena ließ die Wagen halten. Sie holte ein paar zaristische Goldmünzen heraus. In gleichmäßigen Großbuchstaben schrieb sie eine Nachricht:

 

DRINGEND – BITTE TELEGRAPHIEREN SIE

AN HRABINA O’BREIFNE, KAUNAS:

»WARTEN GRENZE ORANY

LEBENSGEFAHR

ERBITTEN SOFORTIGE EINREISE

HELENA BROŃSKA + KINDER«

 

Sie ließ die Fuhrwerke und die Kinder zurück und ging allein über die Brücke, dabei trat sie aus dem Schatten der Schlucht in die Sonne. Hinter den Wachen erspähte sie eine geschäftige kleine Siedlung. Zwei oder drei Ochsen standen unter einer ausladenden Eiche, und Dorfbewohner und Soldaten hielten sich in ihrer Nähe auf.

Helena lächelte die Wachen an, während sie auf sie zuging. Einer richtete ruckartig sein Gewehr auf sie, um sie zurückzudrängen. Doch sie wich nicht von der Stelle. Aus dem Wachhaus trat ein bärtiger Offizier. Eine Haartolle stand ihm an einer Seite vom Kopf ab, den er sich geräuschvoll kratzte. Er gähnte.

»Bitte, Major, ich habe ein dringendes Telegramm. Bitte schicken Sie es.«

Der Offizier schaute sie an und lächelte dann träge. »Nein.«

Doch sie hörte ihn nur mit halbem Ohr. Über seine Schulter hinweg hatte sie einen Mann aus der Siedlung erblickt, der an der Brücke stehengeblieben war und die Szene beobachtete – ein junger Priester. Ohne nachzudenken, drängte Helena sich an den Wachtposten vorbei. Sie hörte die Soldaten rufen, hörte das Geräusch ihrer Stiefel auf dem Kies. Sie erreichte den Priester, drückte ihm die Nachricht und die Münzen in die Hand und flüsterte: »In Gottes Namen, Vater, schicken Sie dieses Telegramm!«

Sie spürte, wie die Wachen sie am Arm packten. Sie schüttelte sie ab, wandte sich zurück und ging mit raschen Schritten vor ihnen her. »Danke, Major«, sagte sie, als sie an dem Offizier vorbeikam.

Sie langte wieder bei den anderen an. Keiner sagte irgend etwas über das Artilleriefeuer und die Granateinschläge, die immer näher rückten. Sie fuhren aus dem Tal hinaus, wieder die Hauptstraße entlang, bis sie zu einer Gruppe von zwei, drei kleinen Holzhäusern kamen. Das Gelände wimmelte von Flüchtlingen. Drei alte Männer saßen im Schatten; einer von ihnen trommelte gegen seine Stiefel, die anderen glotzten in die Baumkronen hinauf. Auf den im Freien aufgestellten Holzbänken saßen Frauen, die Kohl putzten und Hühnchen rupften.

Helena sprang von ihrem Wagen herunter und sprach einen der älteren Männer an, einen Polen.

»Können wir hier warten?« fragte sie.

»Haben Sie Salz?«

Sie nahm einen großen Block Salz herunter und sagte, sie hätten auch Kaffee und Kognak und etwas Geld . . .

»Geld!« höhnte er. »Wozu braucht man jetzt noch Geld?«

Aber er deutete auf eines der Häuser, und sie fanden dort einen Platz zum Schlafen. Sie gingen wieder hinaus, um sich etwas zu essen zu machen.

»Und was passiert jetzt, Mama?« fragte Zofia.

»Deine Großmutter wird zu Präsident Smetona gehen.«

»Und warum sollte der uns helfen?«

Helena lächelte. »In seiner Jugend ist der Präsident Hütejunge auf ihrem Gut gewesen. Sie hat seine Erziehung bezahlt, und nun würde er alles für sie tun.«

Aber Helena selbst war voller Zweifel.

In der Nacht klang das Granatfeuer ab. Zu den Flüchtlingen drang die Nachricht, daß den ganzen Tag über eine Schlacht Richtung Osten nahe der Eisenbahnlinie stattgefunden hatte und daß die Russen sie nunmehr unter Kontrolle hatten. Am Morgen würden sie, wie jeder wußte, den Vormarsch fortsetzen.

Sie konnten nichts tun. Helena schlief wenig. Gegen Mitternacht verließ sie das Haus und wanderte die Hauptstraße auf und ab. Ein stetiger Wind jagte die Wolken über den Mond. Apfelduft lag in der Luft und Staub von Pilzsporen. Der Herbst hatte die Trägheit des Sommers besiegt, und Helena dachte an Mantuski. Immer hatte sie den September und seine Ruhe geliebt, die länger werdenden Nächte, die statthafte Traurigkeit. In diesem Moment fühlte sie sich merkwürdig kräftig. Das Unvermeidliche, hatte sie in den letzten Stunden begriffen, würde seinen Lauf nehmen. Sie hatte getan, was sie konnte.

Der Morgen begann kurz nach sechs. Helena schlief noch auf dem Fußboden, als sie die ersten Granaten auf Orany fallen hörte. Panzer rollten durch die Bäume heran.

Helena erhob sich schnell. »Nur einen Wagen, Zosia, schirr die beiden Füchse an. Ich wecke die anderen.«

Auf der Straße kamen die Kampfgeräusche immer näher. Die Pferde hatten einen knappen Kilometer zu laufen, bevor die Straße zur Grenze abfiel. Sie hörten jetzt Gewehrschüsse und die Stimmen von Männern zwischen den Bäumen. Vor ihnen brach plötzlich eine Gruppe polnischer Soldaten aus der Deckung, rannte über die Straße und verschwand in der Schlucht. Helena trieb die Pferde zu einem leichten Galopp an.

Zwischen den Bäumen tauchte eine russische Einheit auf. Einen Augenblick lang schienen die Männer verwirrt; sie blickten sich auf der Straße um. Dann sahen sie das Fuhrwerk und eröffneten das Feuer. Die Kugeln surrten um sie wie Hornissen; eine schlug in eine Seitenwand ein und ließ sie splittern. Dann wand sich die Straße linker Hand in die Schlucht hinunter. Helena blickte nicht zurück. Sie sah die Brücke und das Wachhaus dahinter und einen Panzerspähwagen. Sie hielt auf die Brücke zu; wenn die Wachen auf sie schossen, dachte sie, dann sollte es eben so sein. Besser sie als die Russen.

Der Offizier winkte hektisch.

Neben ihm hatte seine Abteilung die Gewehre angelegt. Weiter oben in der Schlucht hatten die polnischen Soldaten wieder Stellung bezogen. Eine Granate fiel in ihrer Nähe ins Wasser; sie flohen flußabwärts um einen Felsvorsprung herum und waren außer Sicht.

»Madame Brońska!« Der Offizier trat ein paar Schritte vor.

Sie fuhr weiter auf die Wachsoldaten zu, doch die feuerten nicht. Der Offizier winkte ihr, und sie hielt auf seiner Höhe an. »Die Depesche«, sagte er. »Die Depesche kam letzte Nacht durch, vom Präsidenten.«

Die Abteilung schloß sich hinter dem Wagen, und die Brońskis waren in Litauen.

 

»Sie war mutig wie eine Löwin! Himmel, wenn ich jetzt daran denke, scheint mir Mamas Mut ganz un-gel-aublich!«

In Weißrußland, kurz nachdem wir in Mantuski gewesen waren, erzählte mir Zofia, was sie von der Flucht noch wußte. Es war ein weit weniger detaillierter Bericht als der ihrer Mutter. Sie sagte, sie sei damals noch »zu jung und zu töricht« gewesen, um Angst zu haben. Es hatte nur einen Augenblick gegeben, der sie wirklich erschreckt hatte.

Sie fuhren durch ein Dorf. Es war spätabends. Sie hatten keine Ahnung, ob es ein freundlich gesinntes Dorf war oder nicht, darum ließen sie die Pferde kantern. Zofia war allein im letzten Wagen. Auf einmal zerrte etwas an ihren Zügeln, und ein Pferd wurde langsamer. Sie sah sich von zwei oder drei Männern bedrängt.

»Ich hatte ein Gewehr und habe damit herumgefuchtelt. Ich habe die Pferde angefeuert und die Zügel geschüttelt. Irgendwie sind wir freigekommen.« Sie hielt inne. »Aber wenn uns eins wirklich gerettet hat, dann war es jener Priester aus Lipniszki. Was wohl aus ihm geworden ist?«

Am nächsten Morgen fuhren wir nach Lipniszki. Die Kirche stand, etwas zurückgesetzt, am Hauptplatz. Sie hatte einen hohen Turm und einen Kirchhof, dessen wucherndes Grün die mangelnde Nutzung verriet. Außerhalb davon stand eine Hütte, und auf der Veranda döste ein alter Mann.

Er wachte auf, als wir ihn ansprachen, und sein spatenförmiger weißer Bart hob sich von seiner Brust. »Vater Jarosław?« Der Alte nickte und führte uns auf den Kirchhof zurück. Vater Jarosław! Er deutete auf ein säuberlich gepflegtes Grab nahe dem Zaun.

Der Priester, stellte sich heraus, hatte gleichfalls Litauen erreicht und dort mehrere Jahre verbracht. 1944, während der deutschen Besetzung, war er mit der Monstranz nach Lipniszki zurückgekehrt und hatte sein Amt wiederaufgenommen. Im Ort herrschte eine Typhusepidemie, und er besuchte unermüdlich die Kranken.

Die Stimme des Alten senkte sich zu einem Flüstern, und er beugte sich zu uns. »Doch Vater Jarosław bekam selber Typhus, und der Herr hat ihn zu sich genommen.«

Zofia blieb einen Augenblick an seinem Grab stehen und bekreuzigte sich. Dann sagte sie: »All diese Jahre habe ich mich gefragt, ob dieser Priester nicht eine Art Engel war, ausgesandt, um uns sicheres Geleit zu geben.«