Vom Jahresbeginn 1933 an haben sich Helenas Tagebücher mit ihren täglichen Einträgen erhalten. Sie umfassen, mit Unterbrechungen, den Zeitraum bis zum Kriegsausbruch.
1933 scheint ein anstrengendes Jahr gewesen zu sein, eine Art Jo-Jo-Jahr, ein Wechselbad der Stimmungen und Schicksalsschläge. Der Frühling hatte spät eingesetzt. Man war im Verzug mit dem Pflanzen. Mai und Juni waren sehr naß. Dann kam der Juli, wolkenlos, warm und ideal zum Mähen. Offene Kähne fuhren heubeladen über den Njemen. Die Scheunentore wurden weit aufgemacht; lange Reihen von Leiterwagen rollten quietschend durchs Dorf auf sie zu. Es war eine Rekordernte.
Am 11. Juli notierte Helena:
Was für leuchtende Tage! Die ganze Welt platzt einfach vor Aktivität, silbrige Sensen schimmern in den Wiesen, die Kirschen sind besser denn je. Das Haus ist voll Wärme und Sonne . . . Adam ist zum Wochenende hier, und ich bin irrsinnig irrsinnig glücklich, wenn er da ist. Er ist so gut, so loyal, so rücksichtsvoll und so unglaublich freundlich. Ich liebe ihn mit jedem Jahr mehr. Wir haben immer mehr gemeinsam. Ich vermisse ihn so schrecklich unter der Woche . . .
Sonntagmittags aßen Adam und Helena an einem großen Tisch am Fluß. Sie grillten Brachsen oder einen Njemenhecht, und manchmal waren sie bis zu vierzehnt um diesen Tisch versammelt – die drei Kinder, Vettern und Kusinen auf Besuch, Onkel Nicholas, Helenas alternde Mutter, Panna Konstancja aus Wilna, die neue Erzieherin aus Grodno.
Eine Weile war alles, wie es sein sollte: die Milcherträge waren hoch, der Käse hatte seinen charakteristischen Vorkriegsgeschmack zurückgewonnen, und Buchweizen und Roggen, frei von Quecke, wehten seidig in der Julibrise.
Dann passierten mehrere Dinge. Zuerst entdeckte man, daß die Erzieherin aus Grodno nachts mit einem der verheirateten parobcy schwimmen ging. Als Helena ihre sofortige Abreise verlangte, schloß sie sich in ihr Zimmer ein. Fast zwei Tage lang weigerte sie sich herauszukommen. Bartek mußte ihre Tür aushebeln, und das letzte, was man von der Erzieherin aus Grodno sah, war, daß sie in ihrem Bett liegend auf einem Karren zum Bahnhof verfrachtet wurde.
Im August erkrankte Smok, Helenas Lieblingszuchtstier. Sie wachte die ganze Nacht bei ihm und bestrich seine schwitzenden Flanken mit einer Seifen-Molke-Lösung.
Im September dann sah sie vier ihr unbekannte Fuhrwerke in den Hof von Mantuski einfahren. Ein junger jüdischer Kaufmann aus Iwje sprang herunter und sagte, er sei gekommen, um das Heu abzuholen. Adam hatte es für jemanden, den er kaum kannte, als Sicherheit für ein Darlehen angeboten.
Helena war wütend. Sie schickte die Kaufleute mit einem Brief zu Adam. Sie schrieb ihm, sie würde ihnen nur zwei Fuhren Heu geben. Den Rest solle er mit seinem eigenen Geld ausgleichen; sollten ihre Kühe diesen Winter Hunger leiden, fügte sie hinzu, werde sie sich von ihm scheiden lassen.
Gegen Ende des Sommers machte Helena folgenden Eintrag:
Endloser Ärger mit diesem Anwesen! Smok, mein geliebter Rotbunter, liegt im Sterben. Ein anderer Stier, Paw, ist bereits tot. Die Kühe sind fortwährend krank. Adam schneit dann und wann herein, haßt es, mit Problemen behelligt zu werden, gibt unsinnige Anweisungen, läßt die parobcy die Pferde einsetzen, wie sie gerade Lust haben, hinterläßt mir das absolute Chaos und verschwindet. Es schüttet. Stefania, das Waschmädchen, ist krank. Wir haben keine saubere Wäsche mehr. Es ist genug, um einen zum Heulen oder um den Verstand zu bringen . . .
Gegen Weihnachten 1933, als der Winter langsam sein Netz über das Land breitete, hatte der Betrieb von Mantuski sich beruhigt. Es war klar, daß genügend Heu da war; die Kühe würden nicht verhungern; Helena dachte nicht mehr an Scheidung:
Das Leben hier ist friedlich, geruhsam, gemütlich. Adam ist aus Iwje zurück und füllt das Haus wieder mit seiner guten Laune. Wir sind liebevoll zueinander. Er spielt Spiele mit den Kindern. Wäre er doch nur häufiger hier! Letzte Nacht saßen wir auf und betrachteten den Mond und redeten. Welch ein Glück habe ich, eine solche Liebe zu besitzen! Auf dem Fluß hat das Schlittschuhlaufen angefangen und das Skifahren. Ich finde Sport etwas Herrliches . . .
Am Weihnachtstag wurden Adam wie Zofia krank. Zofia hatte es sehr viel schlimmer erwischt. Binnen zwei Tagen stieg ihr Fieber auf fast 40 Grad, und sie phantasierte. Der Arzt sagte, es sei Scharlach.
»Aber sie hat Scharlach gehabt!« protestierte Helena.
»Sie hat es noch mal«, sagte er. »Das kommt vor.«
Zwei Tage lang saß Helena an Zofias Bett, während diese sich herumwarf und unsinniges Zeug redete und schwitzte. Am dritten Tag sank ihr Fieber etwas, und die ganze Familie begab sich nach Wilna. Adams Krankheit, lediglich eine Erkältung, war schnell vorbei.
Zu dieser Zeit gingen alle Kinder in Wilna zur Schule. Adam war zum Direktor einer Bank in der Stadt ernannt worden, und die Familie hatte für die Schulwochen eine Wohnung gemietet, von der aus man einen Blick auf die Wilija hatte.
Die Wilija war den ganzen Januar zugefroren, und auf dem Gelände unterhalb des Dreikreuzhügels wurde Schlittschuh gelaufen. An einem Sonntag Anfang Februar waren sie alle auf dem Heimweg von der Messe. Der Schnee im Park reflektierte das strahlende Sonnenlicht und erhellte ihre Gesichter. Zofia und ihre Brüder gingen hinter ihren Eltern her. Plötzlich mußte Adam innehalten. Er schleppte sich zu einer Bank, setzte sich und blickte Helena wortlos an. Nach ein oder zwei Minuten sagte er, er könne jetzt weitergehen, aber am nächsten Tag drängte Helena ihn, einen Arzt aufzusuchen.
Um vier Uhr nachmittags kehrte er in die Wohnung zurück. Er ließ sich schwer in einen Sessel in Helenas Ankleidezimmer fallen. Wie sich herausgestellt hatte, hatte er ebenfalls Scharlach gehabt und das war ihm »aufs Herz gegangen«. Der Arzt hatte ihm gesagt, er brauche vollständige Ruhe.
Helena war entsetzt. Sie stellte sich vor, er könne nicht mehr jagen oder Tennis spielen. Sie bat ihn inständig, sich hinzulegen. »Bitte, bitte, bitte«, schluchzte sie, und unter Anrufung aller Heiligen, auf die sie sich besinnen konnte, flehte sie ihn an, auf sich aufzupassen und in den Süden in das Heilbad Krynica zu fahren.
Adam ergriff ihre Hände. »Erst jetzt, kochana, erkenne ich, daß du mich wirklich liebst!«
»Du weißt, daß ich dich über alles liebe! Aber bitte, achte auf deine Gesundheit! Geh nach Krynica!«
Am nächsten Tag bestellten sie ihm beim Schneider einen neuen Anzug für den Süden. Sie nahm ihm das Versprechen ab, täglich zu schreiben und zu tun, was die Ärzte sagten. Sie suchten den Spezialisten auf. Er hatte die jüngsten Röntgenaufnahmen gesehen und schüttelte den Kopf: Adam sei nicht reisefähig. Die Aufnahmen zeigten, daß sein Herz erschreckend vergrößert war.
Er hütete das Bett in der Wohnung. Das Zimmer hatte einen Blick auf den Fluß. Helena las ihm vor, aus dem Buch von San Michele und aus Edouard VII et son temps. Sie spielten Halma und Schach. Ganz langsam besserte sich sein Zustand, und im März konnten sie wieder hinaus, in Pelze gewickelt fuhren sie mit einer Droschke durch den Wald. Aber Helena bemerkte jetzt in seinen Augen eine sonderbare Leere. Sie suchte erneut den Spezialisten auf, um mit ihm zu reden, diesmal allein.
»Was ist los, Herr Professor?«
Der Arzt rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. Sie wiederholte die Frage.
Er nahm einen Bleistift auf und sagte: »Wenn der Tod Warschau ist, Madame Brońska, dann verläßt der Zug gerade Wilna.«
Als sie wieder in die Wohnung kam, waren die Räume vom orangefarbenen Licht der Nachmittagssonne erfüllt. Helena sagte Adam nichts. Sie selbst weigerte sich zu begreifen, was der Arzt ihr mitgeteilt hatte, was sie alle wußten. Adam saß teilnahmslos in einem Sessel. Sie sprachen von Mantuski. Sie gingen jeden Winkel des Landes ab, inspizierten jedes Gebäude, jedes Waldstück; sie jagten Auerhähne, schwammen im Njemen, und sie wies sein stillschweigendes Eingeständnis zurück, daß er nichts von alledem wiedersehen würde.
»Ich hinterlasse dir Mantuski«, sagte er.
»Unsinn!« Helena ergriff seine Hand. »Du wirst auf meiner Beerdigung weinen und dann ganz schnell die Zboromirska heiraten!«
Pani Zboromirska war eine junge Witwe, die in Adams Gegenwart immer sehr munter wurde. Helena ließ ihm Blumen schicken und unterschrieb mit »Zboromirska«. Sie tupfte Wasser auf die Karte, damit es aussah wie Tränen. Adam glaubte es; verschämt behauptete er, der Strauß sei von einer Tante.
Das war in der Karwoche gewesen. Sein Zimmer stand voller Blumen. Die Kinder kamen zweimal täglich zu ihm; ihre Palmkätzchengebinde waren an die Wand geheftet. Ein Kranz von Zeitungen lag ums Bett. Spät in der Osternacht ging Helena noch einmal zu ihm, um ihm den Puls zu fühlen, und er schlug die Augen auf.
»Helena, mein Liebes.«
Sie schlief mit ihm, ein letztes Mal, voll Angst, es könne ihm schaden. Aber hinterher fiel er in tiefen Schlaf, und sie lauschte auf seine Atemzüge, wartete darauf, sie von seinen Lippen kommen zu hören, sammelte sie. Sein Gesicht war friedvoll wie eine Ikone.
Sie stand behutsam auf, um ihn nicht zu wecken, und ging im Dunkeln zum Fenster. Weit unten glänzte der Fluß silbergrau im Mondschein.
»Panta rhei«, murmelte sie. »Alles vergeht.«
»Panta rhei«, wiederholte sie Wochen später, während sie in Mantuski durchs Fenster auf den Njemen blickte und Tränen in ihren Kaffee tropften. »Panta rhei . . .«
Zofia war im Wilnaer Haus allein. Sie war zwölf. Sie saß auf ihrem Bett und machte Hausaufgaben. Plötzlich hörte sie ein Geräusch durch die Wand. Sie stürzte zu ihrem Vater ins Zimmer.
»Er bekam keine Luft. Ich habe ihm die Hand gehalten und etwas zu ihm gesagt, aber er hörte nichts. Da war nur dieses Geräusch, das aus seiner Kehle kam. Ich habe den Arzt angerufen, aber dort hat niemand abgenommen. Er wohnte nur zwei Busstationen weiter, und so bin ich aus dem Haus gelaufen, dem Bus hinterher, der gerade abfahren wollte. Ich weiß noch, wie der Schaffner gesagt hat: ›Vorsichtig, Kleines! Bei dieser Rennerei kriegst du ja einen Herzklaps!‹ Der Arzt war da, und wir sind eilig zu uns nach Hause, aber natürlich war Papa schon tot.
In seinem Zimmer standen Dutzende und Aberdutzende von Hyazinthen; bis zum heutigen Tag kann ich keine Hyazinthen sehen, ohne an seinen Tod zu denken.«
Adam wurde ein paar Tage später in der Familienkapelle in der Nähe von Nowogródek beigesetzt. Es war ein grauer, windiger Morgen. Onkel Bischof stand am Grab. Der Wind fegte durch die Kiefern und riß an den Seiten seiner Bibel. Bevor der Sarg geschlossen wurde, legte Helena Adam das Taschenmesser auf die Brust, das er ihr 1915 geschenkt hatte, und einen Brief. Von dem Brief hatte sie eine Abschrift gemacht:
Leb wohl, moj ptaszyku. Leb wohl, mein teuerstes Herz. Ich werde für Deine Kinder sorgen, wie Du es Dir gewünscht hättest, und ich werde tapfer sein. Ich werde Dich stolz auf mich machen. Möge Gott Dich segnen, mein Liebster, und möge die Erde leicht auf Dir ruhen. Ich danke Dir für das, was Du mir gewesen bist. Gott wird mir helfen. Ich werde Dich immer lieben. Ruhe in Frieden, mein Teurer, ruhe in Frieden . . .«
***
1992. Nowogródek. Zofia wollte das Grab ihres Vaters suchen. Sie war sehr müde. Ich schlug ihr vor, damit zu warten, aber sie sagte, nein, sie wolle es hinter sich bringen.
Wir fuhren durch tropfnasse Wälder. Die ungeschotterte Straße war verlassen. Dunkelheit hing über allem.
»Ich erinnere mich an die Kapelle«, sagte sie. »Eine Familienkapelle auf einem niedrigen Hügel.«
Wir ließen die Bäume hinter uns, die Straße verlief jetzt zwischen Roggenfeldern. Es regnete immer noch. Ungefähr achthundert Meter nach den Feldern schloß das Dunkelgrün des Waldes sich wieder. Linker Hand war eine kleine Kuppe. »Ja, dort.«
Da stand eine Lärche, gleich der, die die Ruine von Mantuski gekennzeichnet hatte – wieder eine Lärche, die die Haselsträucher überragte. Neben ihr stand die Kapelle.
Sie war noch vorhanden, wenn auch in einem traurigen Zustand. Wir ließen das Auto stehen und gingen zu ihr hinauf. Eine der vier Säulen war zusammengebrochen, das Dach war eingestürzt.
Adams Grab befand sich außerhalb. Ein Eisengitter umgrenzte die Stelle. Innerhalb des Gitters gähnte ein Loch. Das Grab war ausgeraubt worden.
Eine kleine Gruppe von Dorfbewohnern hatte sich versammelt, um uns zu beobachten. Der Regen tropfte von ihren Hüten. Es war im Krieg, sagten sie, im Krieg – Banditen . . . Partisanen . . . der Schatz, die Ringe und Goldzähne . . .
Minutenlang stand Zofia vor dem Gitter; sie brachte kein Wort heraus. Sie starrte in die Dunkelheit des väterlichen Grabs. »Es geht alles drunter und drüber, Phiilip, diese ganze schreckliche Welt steht kopf. Wir suchen das Grab, und es ist wieder ans Tageslicht gelangt, und wir suchen unser Haus, und es hat sich selber begraben. Alles ist auf den Kopf gestellt . . .«