Im Juli 1925 bot man Adam das Richteramt in Iwje an. Es bedeutete, daß er den größten Teil der Woche nicht in Mantuski war, aber, wie er es in einem Brief an Helena ausdrückte: »Durch die Richtertätigkeit verdiene ich genug, um Mantuski wieder auf die Beine zu helfen. Fünfhundert Złoty im Monat ist ein gutes Gehalt!«
Und von da an lebte Adam immer fern von Mantuski und kam nur an den Wochenenden und gelegentlich für ein paar Wochen nach Hause.
Zofia besitzt ein Foto ihres Vaters aus etwa jener Zeit. Er sitzt in Hemdsärmeln und Krawatte zurückgeneigt im hohen Gras. Zofia lehnt an seinem Knie. Er hat kleine Augen und einen kräftigen Kopf, und seine Statur und sein offenes Gesicht lassen die Güte, die er ausstrahlt, übergroß erscheinen.
Seine Briefe bestätigen diesen Eindruck. Aus ihnen spricht die offenbare Freude an allen Dingen. 1924 schrieb er, während einer kurzen Reise Helenas nach Wilna:
Mantuski, 15. April.
Helena, meine Liebste!
Die allerletzten Tage waren wundervoll. Auf dem Njemen bricht das Eis auf, und man kann das Wasser darunter sprudeln sehen. Der Frühling kommt! Wir haben mit dem Einzäunen begonnen. Morgen fangen wir an, dreimal täglich zu melken . . . Die Kühe sind trächtig, die Pferde sind trächtig, und im Hühnerhaus quietschen ein Dutzend kleiner Küken wie Wagenräder! Ich habe in den alten Schuppen nach Ofenkacheln gesucht, aber alles scheint kaputt oder verschwunden zu sein.
Anfang der Woche hatten wir drei Tage Wolken und Regen mit erbsengroßen Hagelkörnern. Und heute – ein herrlicher Apriltag. Nicht ein Wölkchen. Ich bin durch die Felder geritten. Ich habe das erste Kollern des Birkhahns gehört. Die Lerchen tirilieren laut im Himmelsblau. Ich fühle mich bester Laune, so gesund wie ein Fisch im Njemen, ein Auerhahn auf dem Ast, ein Wolf im Moor!
Ich habe die Rosen abgeholt, und wir können sie sofort pflanzen – es sind hervorragende Exemplare mit langen, dicken Wurzeln! . . . Wie gesund die Pferde jetzt aussehen – wenn ich daran denke, wie sie nach dem Krieg beieinander waren – uff! Ganz gewiß, Hela, die Dinge auf Erden bessern sich. Die Welt eilt dem Glückszustand entgegen . . .
Adam hatte immer ein aufmerksames Auge für das, was sich in Warschau tat, und war stets begierig, über Staatsangelegenheiten zu reden. Wo Helena pragmatisch war, war er optimistisch; wo sie über die Korruption des Sejm schimpfte, blieb er überzeugt, mit der Zeit werde alles ins Lot kommen. »Zeit, Hela, mein Schatz. Du kannst ein Pferd nicht über Nacht zureiten. Polen ist nichts anderes als ein ungebärdiges junges Fohlen!«
Dabei hatte er mit angesehen, wie sich das polnische Parlament seit den Wahlen von 1921 von Jahr zu Jahr stärker in ein Mosaik zankender Grüppchen aufsplitterte. Ein Minister löste den anderen ab, ein Kabinett das andere; und stets erwiesen sie sich als noch inkompetenter als ihre Vorgänger.
Adam verfolgte das Kommen und Gehen, die Koalitionen, die geplatzten Koalitionen und die kraftlosen Versprechungen mit wachsender Enttäuschung. Vielleicht hatte Helena recht. Dies war nicht das Polen, für das er gekämpft hatte. Um sich herum, in den Dörfern, spürte er einen zunehmenden Groll unter den Weißrussen; seine Autorität bei Gericht stand bisweilen auf wackligen Füßen. Auf allen Seiten wurde das nationalistische Grummeln lauter.
Im Mai 1926 hatte Marschall Piłsudski das Gezänk satt. Entschlossen, das ungebärdige junge Fohlen zu zügeln, tauchte er aus dem Ruhestand wieder auf, marschierte gegen den Sejm in Warschau und setzte ihn an die Luft. Tausend Menschen starben bei den Kämpfen. Obwohl der Marschall das Amt des Präsidenten ablehnte, gelang es dem Zentrum aufgrund seines Eingreifens, seine Autorität erneut zu behaupten. Die Politik der sanacja – der »Sanierung« – wurde gegen die der partyjnictwo – der »Cliquenwirtschaft« – in Gang gesetzt.
In den Kresy kam der Sommer 1926 früh. Die Nachricht von Piłsudskis Putsch erreichte Mantuski mit den ersten Staubwolken, die von Holzfuhrwerken auf der Dorfstraße aufgewirbelt wurden. In der reglosen Luft ließ der Flieder schlaff die Blütenrispen hängen; die Uferschwalben flogen über dem Njemen hin und her.
Es war heiß; windstill, heiß und stickig. Die Hunde lagen den ganzen Tag im Schatten, trotteten mit der wandernden Sonne von einem Schattenfleck zum nächsten. Funkelnde Harzklumpen blähten sich auf den Schalungsbrettern der Hütten; die Nächte waren schwül und drückend.
Kurz nach St. Anton, an einem weiteren heißen Junimorgen, erschien Bartek mit schweißglänzendem Gesicht und ohne Hut im Eingang von Adams Büro in Iwje.
»Was für Ärger, Bartek?«
»Die Dorfleute, Pan Adam. Sie haben die Holzfuhrwerke blockiert. Sie sagen, die Bäume, die wir fällen, seien ihre. Sie sagen, Sie hätten sie ihnen gegeben.«
»Um welche Bäume handelt es sich?«
»Die oben hinter der Kreuzung. Zwischen dort und der Kirche.«
»Aber ich habe ihnen den Wald oberhalb davon gegeben!«
Adam fluchte. Er starrte Bartek einen Augenblick an. Dann schaute er weg, auf den Lichtstreifen, der in sein Büro fiel, auf den Stadtplatz dahinter. Er griff nach seinem Hut und ging mit Bartek hinaus.
Am Dorfrand von Mantuski war die Sache bereits entschieden. Die Holzarbeiter, denen die Durchfahrt versperrt worden war, hatten vor den streitbaren Männern vom Dorf klein beigegeben. Deren Ausrüstung, bestehend aus Mistgabeln und drohend geschwungenen Dreschflegeln, hatte ihnen angst gemacht. Sie waren zum Gutshof zurückgekehrt. Die Rebellen saßen nun in Siegerpose beisammen. Ein oder zwei lagen am Ufer, den Hut über die Augen gezogen. Eine Gruppe junger Männer saß im Schatten und redete hitzig mit dem wójt, dem gewählten Dorfvorsteher, über ihren Sieg.
Der wójt stand auf, als Adams bryczka sich näherte. Er war ein besonnener älterer Mann. Adam hatte ihn immer als aufrechten Menschen erlebt und glaubte, daß sie beide die gleiche Liebe zum Land empfanden.
Der wójt legte die Hand auf den Radkranz und beugte sich zu Adam vor.
»Ich kann nichts dafür, Pan Adam. Das liegt an der Politik.«
»Ich habe mit ihnen geredet, aber sie wollen den Weg nicht freigeben. Es sind die Jüngeren mit ihren Ideen.«
Adam stieg von der bryczka herunter und ging auf die Gruppe zu. Die jungen Männer stützten die Ellbogen auf und blickten ihn ausdruckslos an.
Adam stellte sich vor sie hin. »Ich habe euch den Wald zwischen der Kirche und den Wiesen gegeben. Der Wald hier gehört dem dwór.«
Die stoppelbärtige Schar rührte sich nicht. Fliegen summten um ihre Gesichter. Schweigen.
Adam hielt inne und sah von einem zum anderen. »Morgen früh komme ich mit den Fuhrwerken wieder hierher und erwarte, daß ihr mich durchlaßt. Wenn ihr euch wieder dagegenstellt, werde ich gezwungen sein, von den zuständigen Stellen in Nowogródek Unterstützung anzufordern.«
Am nächsten Morgen waren sie immer noch da. Adam redete kurz mit dem wójt und ging dann mit ihm zum Fernmeldeamt, um mit Nowogródek zu telefonieren.
Der Bezirkskommissar war ein pensionierter Major der polnischen Kavallerie. Für die weißrussische Sache hatte er nicht viel übrig; er hatte Piłsudskis Putsch begrüßt. Er knurrte Adam über das Telefon zu: »Bis mittag bin ich in Mantuski.«
Adam holte ihn an der Fähre ab. Vier Konstabler ritten an seiner Seite. Jeder von ihnen hatte ein Gewehr in einem Sack hinter dem Sattel dabei.
Es war nicht die erste Demonstration von Stärke, mit der sich der Bezirkskommissar konfrontiert sah. Er ging sehr unpersönlich vor und verlas eine Aufforderung an die Männer, den Weg freizugeben.
Sie rührten sich nicht von der Stelle.
Er warnte sie, wenn sie den Weg nicht freigäben, werde er seinen Konstablern befehlen, über ihre Köpfe zu schießen.
Sie gaben den Weg nicht frei.
Er befahl seinen Leuten abzusitzen. Sie luden ihre Waffen und gingen in Position. »Feuer!«
Die Schüsse hallten im Wald. Ein Schwarm von Saatkrähen flatterte krächzend aus den Linden auf. Die Männer rotteten sich etwas enger zusammen, aber keiner brach aus.
Der wójt ging zu den Rebellen, um mit ihnen zu verhandeln; die Gruppe lockerte sich. Der wójt kam zurück und verkündete, sie würden die Fuhrwerke durchlassen.
Adam fragte: »Was haben Sie zu ihnen gesagt, wójt?«
»Ich habe nicht lange herumgeredet, Pan Adam. Ich habe ihnen gesagt, wenn ihr wegen ein paar Bäumen sterben wollt, gut und schön, aber denkt an eure Familie.«
Noch Wochen nach diesem Vorfall, schreibt Helena, war Adam in brütendes Nachdenken versunken. Noch nie hatte sie ihn so in sich gekehrt gesehen, so still. Seine gute Laune kehrte zurück, sein unbegrenzter Optimismus jedoch nicht. Und in den Jahren darauf hörte sie ihn immer häufiger von Landreform sprechen.
Bei Gericht, schreibt Helena, konnte Adam ziemlich streng sein. Nach 1926 wurde er besonders unerbittlich gegenüber dem, was er Verbrechen aus nienawiść – aus Haß und Verbitterung – nannte und sich entweder zwischen szlachta – Adligen – und Bauern oder zwischen Weißrussen und Polen abspielte. Seine Urteilsbegründungen waren um so überzeugender, da sie von einem sanftmütigen Menschen formuliert waren, und sie trafen die Verurteilten hart. Aber irgendwie beeindruckten seine Urteile die polnischen Stellen nie.
Im Sommer 1927 mußte er über eine etwa neunzehnjährige junge Frau zu Gericht sitzen, die der Polizeichef ihm vorgeführt hatte. Sie trug ein verwaschenes Baumwollkleid. Ihre dünnen Arme baumelten daraus hervor, schlenkerten wie Weidenzweige um ihre Hüften. Ihre Nase war mit kaffeebraunen Sommersprossen gesprenkelt, und sie hatte sehr große Augen, Kaninchenaugen. Sie hieß Tessa Stanicka und war des versuchten Mordes angeklagt.
»War mein Baby, Herr Richter.«
»Dein Baby? Du hast dein Baby umbringen wollen?«
»Ja, Herr Richter. Ja, Euer Ehren.«
Adam war so rasche Geständnisse nicht gewohnt. »Warum hast du dein Baby töten wollen, Tessa Stanicka?«
»Ich hab’s nie haben wollen, Herr Richter. Ich wollte keins.«
»Und was hast du mit ihm gemacht?«
»Ich hab’s in der Nacht auf unsern Müllhaufen getan. Unter Kohlblätter. Aber am Morgen ist der Pfarrer, Vater Jerzy, zu meiner Mutter gekommen, weil sie so schrecklich krank war, und sein Pferd hat die Kohlblätter gefressen, und da drunter lag das kleine Baby noch ganz warm und lebendig. Wie Hochwürden in der Früh gekommen ist . . .«
Der Schreiber hatte Mühe, ihrem Geständnis zu folgen, und hob die Hand, um eine kurze Unterbrechung herbeizuführen.
»Du leugnest es also nicht?«
»O nein, Herr Richter!«
»Obwohl es ein schweres Verbrechen ist und streng bestraft wird?«
»Das muß sein, Herr Richter, wenn einer ein Verbrechen begeht, so seh ich das.«
Adam nickte. »Und wo ist das Kind jetzt?«
»Im Waisenhaus, Euer Ehren Herr Richter.«
»Und ist dir klar, daß du das Kind nicht sehen darfst?«
»Wie ich gesagt hab, ich hab’s nie gewollt.«
Adam sah sie über den Gerichtssaal hin an. Ihre Kaninchenaugen hielten blinzelnd seinem Blick stand. Er konnte nichts darin erkennen: weder Furcht noch Gewissensbisse, noch etwas Böses.
»Tessa Stanicka, du hast nicht nur ein schweres Verbrechen gegen den Staat begangen, sondern auch eine Sünde vor Gott. Dir wurde ein Kind geschenkt, und du hast es weggeworfen wie ein verkümmertes Ferkel. Würdest du das wieder tun?«
»Nein, Herr Richter.«
»Wie können wir da sicher sein?«
»Ich kriege kein Baby mehr, Herr Richter. Ich will keins.«
»Nein –« Ihre Logik brachte Adam einen Augenblick aus der Fassung. Er fuhr fort: »Ich kann jedoch keine Bosheit an dir entdecken und habe das Gefühl, daß du unter den rechten Umständen ein tugendhaftes Leben führen könntest. Hältst du das für möglich, Tessa?«
»O ja, Herr Richter!«
»Und tut dir leid, was du getan hast?«
»O ja, Herr Richter!«
Adam winkte den Polizeichef zu sich her und befragte ihn mit gedämpfter Stimme nach ihrer Familie.
»Ihre Mutter hat sie verstoßen«, flüsterte dieser. »Wenn sie in ihr Dorf zurückgeht, lassen sie sie da verhungern.«
Adam trommelte mit den Fingern auf den Eichentisch. Dann beugte er sich zu dem Mädchen vor. »Sag mal, Tessa, hast du schon mal in Stellung gearbeitet?«
Als Adam ein paar Tage darauf mit Tessa nach Mantuski zurückkehrte und verkündete, sie werde bei ihnen als Kindermädchen arbeiten, reagierte Helena ungläubig. »Bei unseren eigenen Kindern, Adam? Wie hast du nur diese Mörderin einstellen können?«
Doch Tessa fügte sich schnell in ihre neue Rolle. Mit der Zeit erwies sie sich als das beste von allen Kindermädchen Helenas. Andere kamen und gingen, ließen sich vom Altar verlocken oder der Stadt, aber Tessa zeigte für nichts Interesse außer für Vögel – sie hielt sich Kernbeißer, Buchfinken, Stieglitze, die sich gleich Schülern vor ihrem Fenster scharten. Sie blieb in Mantuski, unwandelbar naiv, unwandelbar loyal, von den Kindern bedingungslos geliebt und umgeben von einem ständig anschwellenden Chor von Zeisiggesang.
Helena liebte dieses Vogelgezwitscher. Es erinnerte sie an Petersburg, an Liki, ihren chinesischen Singvogel, an Tante Ziuta, den Heringsgeruch an verschneiten Straßenecken, an die Astrachanmützen im Gostinnyj Dwor; und an den Anblick ihres Vaters, wie er gebrechlich und lächelnd an der Moika stand, auf den Elfenbeinknauf seines Stocks gestützt, und ein Gedicht von Mickiewicz rezitierte.
Gegen Ende der zwanziger Jahre, schreibt Helena, war Mantuski »wieder auf den Beinen«. Die Ernteerträge hatten stetig zugenommen, und die Käselaibe wurden inzwischen zum Verkauf nach Wilna, Warschau und Krakau versandt. Das Haus sah nicht mehr neu und spartanisch aus, sondern war voll Leben – drei Kinder und die Hunde tobten darin herum; die Lärche vor dem Haus hatte die Höhe der Dachrinne erreicht.
Und doch war es immer noch ein rauhes Leben, und Krankheiten waren häufig. Eines Herbsts, als Zofia acht oder neun war, hatte ihr Bruder plötzlich hohes Fieber, und als es gefallen war, fing er an, Blut zu husten. Nach drei Tagen kam der Arzt und sagte zu Helena, das Kind habe kaum Aussicht, den Winter zu überleben, es sei denn, es könne ihn im Süden verbringen, in Frankreich oder Italien.
Da sie in Mantuski das Geld für eine solche Reise nicht hatten, redete Adam mit seinem Vater. Stanisław Broński hatte mit Erholungskuren wenig im Sinn.
»Kinder sind wie Gläser«, sagte er zu Adam. »Wenn eins hin ist, schafft man sich einfach ein neues an.«
Helenas Onkel Nicholas war verständnisvoller. Er gab ihnen das Geld, und Helena fuhr mit Tessa und den Kindern in eine kleine Villa in Juan-les-Pins. Mit Hilfe eines sehr netten belgischen Arztes wurde Zofias Bruder wieder gesund, und Anfang März reiste die Gesellschaft quer durch Europa zurück, alle Kinder von Kopf bis Fuß in nagelneue Leinenkleidung verpackt und mit unzähligen kleinen Sommersprossen auf den nußbraunen Nasen.
Die Krankheit hatte Helena mitgenommen. Sie hatte die französischen Krankenhäuser erlebt, die neuen Medikamente, die Operationssäle. Ostpolen erschien im Vergleich dazu mittelalterlich. Sie, der die eigene schwache Gesundheit ständig zu schaffen machte, erklärte nun Adam, sie werde eine Klinik für das Dorf einrichten.
»Aber Hela, du verstehst doch gar nichts davon!«
Sie sagte ihm, daß sie in Wilna früher einmal Krankenpflege gelernt hatte. Seine Miene blieb skeptisch.
Aber für die meisten Fälle erwiesen sich ihre Kenntnisse als ausreichend. Die Leiden, mit denen die Leute aus dem Dorf zu Helena kamen, waren einfacher Natur. Gravierende Dinge kurierten sie mit Gebeten oder den Wundermitteln herumziehender Quacksalber.
Zweimal pro Woche öffnete sie die Tür auf der Seite des Hauses, und die Dorfleute betraten ein kleines Hinterzimmer, in dem sie das Schild MANTUSKI KLINIKA angebracht hatte. Zu Anfang kamen sie hauptsächlich aus Neugier, musterten die Gefäße in den Glasschränken, die nierenförmigen Becken, die Stahlscheren und Helena in ihrem weißen Kittel. Die Frauen vom Dorf blieben ihren Fähigkeiten gegenüber auf der Hut, doch die Männer waren bald ganz versessen auf das Rascheln von Helenas gestärktem Kittel und darauf, ihre sauber gebürsteten Hände auf ihrer Haut zu spüren.
Sie hatte einen kleinen Fundus an Heilmitteln, der der geringen Bandbreite an Beschwerden entsprach. Sie erfand einen Gerstenbreiumschlag für Hexenschuß, einen Zitronen-Honig-Balsam für Erkältungen und Halsweh. Sie tupfte Jod auf Brandwunden. Für Fleischwunden trieb sie in der Molkerei ungesalzene frische Butter auf und machte unter Zusatz von Kräutern einen Verband, den sie aus zerzupfter Leinwand herstellte. Als schweißtreibendes Mittel verwendete sie einen Extrakt aus getrockneten Himbeeren. Das »Dreitagesfieber«, ein in Mantuski verbreitetes Leiden, behandelte sie mit regelmäßigen Gaben von Chinin. Ansinnen, das »schwarze Blut« von Blutegeln absaugen zu lassen, lehnte sie rundweg ab und hielt einen Vorrat an Placebos bereit – Kräutersalben und Kräutertees. Wer ihr die Zeit stahl, dem kam sie ziemlich unangenehm, und besonders barsch war sie zu einer gewissen Pani Kasia, die ihr allmonatlich ihre Katze brachte, um sie von ihrer »schrecklichen Niedergeschlagenheit« kurieren zu lassen.