Kapitel 24 – Der Neuanfang
Julia warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel im Flur und öffnete dann die Wohnungstür.
Alexej lächelte. Er sah erschöpft aus, wie Julia fand. Kein Wunder, denn sein verletzter Arm lag in einer Schlinge und seine Haut war auch nach zwei Tagen immer noch ein wenig blass. Julia küsste ihn auf den Mund.
„Hi! Hör mal, ist es wirklich okay, dass wir hier feiern? Ich meine, ich kann dir den gewohnten Luxus leider nicht bieten. Ich bin nicht als Millionärin geboren worden“, sagte sie und guckte unsicher. Es war ihr ein wenig unangenehm, ihrem Geliebten ihre im Vergleich zu seinem tollen Anwesen in der Vorstadt eher bescheidene Bleibe zu zeigen.
Aber Alexej winkte lachend ab: „Guck mal, ich habe uns eine Flasche meines besten Champagners mitgebracht. Dann müssen wir uns nicht ganz so arm fühlen.“
„Ha-ha. Ich meine das ernst. Wir müssen wirklich nicht hier sein, wir können auch auf eine Party gehen oder -“, erwiderte Julia und runzelte die Stirn. Sie dachte außerdem beklommen an die Flasche, die sie damals nach seiner Geburtstagsparty hatte mitgehen lassen.
Alexej streifte sich jedoch bereits seine teuren Maßschuhe ab und zog fragend die Augenbrauen hoch: „Wo ist der Kühlschrank?“
Julia gab auf und zeigte ihm ihre kleine Wohnung, nachdem sie den Champagner kaltgestellt hatte. Alexej schien es zu gefallen, denn er ließ sich wenig später auf ihr Sofa fallen und schaute sich neugierig in ihrem Wohnzimmer um.
Julia schaute nervös auf ihre Armbanduhr und holte die Drinks, die sie vorbereitet hatte.
„Klasse. Das ist jetzt genau das Richtige“, meinte Alexej anerkennend und nahm den Mai Thai dankbar in die Hand. Er probierte und sein Blick verriet Julia, dass sie gute Arbeit mit dem Cocktail geleistet hatte.
Sie unterhielten sich über die turbulenten letzten Tage und Julia schmiegte sich dabei an seine unverletzte Schulter. Endlich waren sie nicht unter Zeitdruck, freute sie sich innerlich. Julia war froh, dass das Abenteuer überstanden war und dass sie lebend aus der Misere herausgekommen waren.
„Was meinst du wird jetzt aus Annabelle?“, fragte Julia und nippte an ihrem eigenen Drink.
„Ich denke, dass sie in Sicherheitsverwahrung kommen wird. Der Polizeichef hat so etwas durchblicken lassen. Solche Leute kommen normalerweise nicht in den regulären Vollzug“, überlegte Alexej.
Julia versucht sich so eine Anstalt vorzustellen. Sie dachte darüber nach, ob Annabelle tatsächlich verrückt gewesen war oder ob sie einfach nur so sehr verletzt worden war, dass sie nicht mehr anders konnte als durchzudrehen.
„Ich hätte es sehen müssen“, sagte Alexej nachdenklich und riss Julia aus ihrem kleinen Tagtraum.
„Wie meinst du das?“, fragte sie verwirrt.
„Naja, du hast mich vor ihr gewarnt. Katarina hat mich gewarnt. Ich hätte es sehen müssen“, wiederholte Alexej betrübt. Julia wusste, dass er sich die Schuld an den Vorfällen der letzten Wochen gab. Sie wusste jedoch auch, dass es nicht wirklich seine Schuld war.
„Wir haben es ja überlebt“, meinte Julia und knuffte Alexej sanft in die Seite. „Das ist doch die Hauptsache, oder?“, fügte sie hinzu und suchte seinen Blick.
Er drehte den Kopf in ihre Richtung und nickte langsam. Julia lehnte sich wieder an seine Schulter und sog unmerklich den wunderbaren Duft ein, der von Alexej ausging. Ihr war mittlerweile klargeworden, dass es nicht bloß sein Aftershave war, dass sie so betörte. Es war sein ureigener Geruch. Es war Alexej selbst, von dem sie nicht genug bekommen konnte.
„Weißt du, was mich am meisten wundert?“, erkundigte sich Alexej und schlürfte eine ordentlich Portion seines Cocktails durch den Strohhalm.
Julia ahnte, worauf er hinauswollte und sie hatte sich bereits eine passende Antwort zurechtgelegt.
„Nein, was meinst du?“, log sie und tat so, als wüsste sie von nichts.
„Mein Ring ist verschwunden“, sagte Alexej. „Es hört sich bestimmt komisch an, aber irgendwie bin ich froh, dass er weg ist. Katarina hat mir damals, kurz vor der Scheidung, gesagt, dass der Ring mich verändert hätte. Absurd, oder?“
Julia sagte nichts und dachte an das Versteck in der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks, in dem sie den Ring sicher verstaut hatte.
„Ja, klingt eher nach einem Märchen für Kinder“, bestätigte Julia seine Worte und konnte sich gerade so ein Grinsen verkneifen. Der Bann war gebrochen. Was auch immer es gewesen war, Julia war ebenfalls froh, dass es vorbei war. Sie würde sich im neuen Jahr um den Ring kümmern, überlegte sie und schloss gedanklich mit diesem mysteriösen Bestandteil ihrer Beziehung zu Alexej ab.
Sie fand, dass es Zeit für einen Themenwechsel war. Der Inhalt ihres Cocktails beflügelte ihre Fantasie.
„Hast du vielleicht eine Idee, wo ich mich bewerben könnte? Ich meine, den Job bei der FemediaX bin ich ja los und du kennst dich doch in der Branche bestimmt auch gut aus, oder?“, fragte sie und hoffte, dass Alexej anbiss und den Ring fürs Erste wieder vergaß.
„Lass mich überlegen“, begann Alexej, „bei mir ist gerade eine Stelle freigeworden.“
„Wie bitte?“, fragte Julia empört und richtete sich auf. Alexej ließ sein schallendes Lachen hören.
„Ach, Julia, das war doch bloß ein Spaß.“
„Sehr witzig. Bei dir weiß man ja nie“, erwiderte Julia. Sie schmollte ein wenig, da sie glaubte, dass Alexej sie wieder einmal nicht richtig ernst nahm.
„Du brauchst dir um deinen Job keine Sorgen zu machen. Ich habe gestern mit deinem Chef gesprochen und er meinte, dass du nach den Feiertagen gern wiederkommen darfst. Er hat gesagt, dass er es auch verstehen könnte, wenn du die Nase voll von ihm hättest. Am Telefon klang er ziemlich zerknittert, wenn du mich fragst“, sagte Alexej und Julias Stimmung verbesserte sich schlagartig.
„Das ist ja super!“, rief Julia und küsste Alexej überglücklich auf die Wange. „Wie hast du das bloß geschafft?“, wollte sie wissen.
„Ich musste nicht wirklich viel tun. Ich habe ihm erzählt, was vorgefallen ist. Es scheint ihn wirklich zu wurmen, dass er dir nicht vertraut hat. Mein Tipp als Geschäftsmann: Frag ihn bei eurem nächsten Gespräch sofort nach einer Gehaltserhöhung“, sagte Alexej und schmunzelte.
Julia besorgte noch einen zweiten Drink und so verbrachten die beiden einen äußerst ruhigen Silvesterabend auf dem Sofa. Eine knappe Viertelstunde vor Mitternacht schaute Alexej auf seine Uhr. „Sollen wir auf den Balkon gehen? Das Feuerwerk müsste gleich beginnen“, sagte er und rutschte auf dem Sofa nach vorn.
Julia jedoch war schneller. Sie stellte ihren Cocktail ab und drückte Alexej zurück in das Polster. Sie nahm ihm sein Glas aus der Hand uns kniete sich zwischen seine Beine.
Alexej guckte verdattert und wusste nicht, was er sagen sollte. Im ersten Moment zögerte er, aber dann ließ er es doch geschehen. Mit Julia war es anders. Bei ihr war es ihm mittlerweile egal, wer von beiden die Kontrolle übernahm. Bei ihr konnte er frei sein. Er konnte Alexej sein. Sie ahnte nicht, was für ein wunderbares Geschenk sie ihm machte, indem sie ihm eine weitere Chance gab.
„Wenn du nichts dagegen hast, dann sorge ich hier lieber für unser eigenes, kleines Privatfeuerwerk“, sagte Julia mit einem verschmitzten Lächeln und öffnete mit einer fließenden Bewegung die Gürtelschnalle an Alexejs Hose.
Alexej hatte nichts dagegen. Er lehnte den Kopf zurück und Julia konnte endlich ihr eigenes, um knapp eine Woche verspätetes, Weihnachtsgeschenk auspacken.