Kapitel 11 - Karrieresprünge
Julia erschien ausnahmsweise überpünktlich im Büro, nur um von Sarah am Empfang zu erfahren, dass Peer später kommen würde. „Na, toll“, dachte Julia. Die Hektik an diesem Morgen hätte sie sich sparen können.
Kurz bevor Julia ihr Büro betreten konnte, fing Deniz sie ab. „WOW, du siehst verändert aus. Warst du im Urlaub?“, fragte er aufgeregt, als er sich ungefragt an ihr vorbei in ihr Büro schlängelte.
„Nein, wie kommst du darauf?“, fragte Julia verblüfft. Als sie an diesem Morgen in den Spiegel geschaut hatte, konnte sie keine positive Veränderung feststellen. Im Gegenteil: Julia fand, dass sie außerordentlich müde aussah. Sie wusste auch warum, denn das gemeinsame Wochenende mit Alexej hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes an ihre körperlichen Grenzen gebracht.
„Naja, du strahlst förmlich. Wenn ich nicht ganz genau wüsste, dass du keine Kinder willst, könnte man denken, dass du schwanger bist“, erklärte Deniz.
Julia setzte sich an ihren Schreibtisch und ging erst einmal nicht weiter auf das ungewöhnliche Lob ein. Stattdessen fragte sie: „Weißt du, wann Peer kommt? Ich würde gern ein kurzes Meeting abhalten. Du bist auch dabei, es geht um den Auftrag.“
„Äh, welchen Auftrag meinst du jetzt genau?“, erkundigte sich Deniz. Er konnte ja nicht ahnen, was am Wochenende passiert war und Julia hütete sich davor, ihm irgendetwas von ihrem erotischen Abenteuer mit dem russischen Millionär zu erzählen. Vorerst jedenfalls. Sie wusste nicht, ob sie dem Druck ewig standhalten konnte, denn ihr war eigentlich eher danach, ihr Glück laut herauszuposaunen.
„Ich meine diesen Auftrag.“ Julia nahm eine Mappe aus ihrer Aktentasche und knallte sie übertrieben laut auf ihren Schreibtisch. Deniz zuckte zusammen. Er erkannte das Logo der Softlift GmbH (er fand das Markenzeichen absolut scheußlich, aber ihn fragte ja niemand nach seiner Meinung). Deniz verstand, war aber trotzdem verwundert. „Ich dachte, der Deal wäre geplatzt“, meinte er stirnrunzelnd.
„Nicht ganz. Der Deal war auf Eis gelegt“, verbesserte ihn Julia freudestrahlend und fuhr munter fort: „Ich habe das so ein Gefühl, dass wir den Auftrag doch noch bekommen.“
Deniz öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Julia warf ihm gerade einen Blick zu, mit dem sie ihm freundlich bedeutete, dass er jetzt ihr Büro verlassen sollte. Sie hatte bereits ihr Handy am Ohr und während sie darauf wartete, dass jemand abnahm, zeigte sie unnötigerweise auf das Telefon. Deniz verstand und schloss leise die Tür hinter sich.
Als sie sich sicher war, dass er nicht nochmal reinkommen würde, legte sie das Handy wieder weg. Sie hatte gar nicht vorgehabt, jemanden anzurufen. Sie wollte bloß ihre Ruhe haben und sich mental auf das folgende Gespräch mit Peer vorbereiten.
Julia plante gerade ihre Wortwahl, als es stürmisch klopfte. Ohne auf eine Antwort zu warten, platzte Peer herein. Er zeigte das breiteste Grinsen, das Julia je in seinem Gesicht gesehen hatte.
„Du glaubst nicht, wer in meinem Büro auf uns wartet. Komm mit“, rief er, als er schon wieder auf dem Rückweg war.
Julia gehorchte. Sie rückte ihren Rock zurecht und atmete tief durch. Sie ahnte, wer es sein würde und sie war dementsprechend aufgeregt. Julia war sich nicht sicher, wie sie Alexej in der Öffentlichkeit begegnen sollte. Sie konnte ihm ja schlecht zur Begrüßung um den Hals fallen. Julia versuchte sich vorzustellen, wie Peer gucken würde, wenn er sie so zusammen sah. Sie hörte Balus sanfte Stimme in ihrem Kopf widerhallen: „Du musst raus aus deiner Komfortzone!“ Julia ging schnurstracks auf Peers Büro zu.
„Herein!“, röhrte Peer. „Mensch, du brauchst doch nicht klopfen. Jetzt setz dich endlich!“ Er war sichtlich erregt. Julia hingegen war überrascht, denn auf einem der weichen Sessel vor Peers Schreibtisch saß bloß Katarina. Allein. Sie sah ebenfalls sehr zufrieden aus.
Julia begrüßte sie und setzte sich. Ihr erster Gedanke war: „Warum ist Alexej nicht gekommen?“ Sie war ein wenig enttäuscht, ließ sich jedoch nichts anmerken und wartete gespannt auf das, was als Nächstes passieren würde.
Peer konnte sich nicht mehr gedulden und platzte heraus: „Du wirst die Softlift-Kampagne leiten. Ich habe Katarina auf dem Weg hierher getroffen und sie hat es mir sofort erzählt. Wir wollten gerade den Vertrag unterschreiben. Du solltest es als Erste wissen.“
Julia war gerührt. Peer, der mit seinem breiten Grinsen wieder einmal zeigte, warum er hinter seinem Rücken „die Fledermaus“ genannt wurde, war offenbar nicht mehr sauer auf sie. Katarina ergänzte: „Natürlich kannst du es gleich deinen Kollegen erzählen. Wir – also mein Ex-Mann, der Vorstand und ich – sind sehr froh, dass wir uns für die FemediaX entschieden haben.“
Sie lächelte ehrlich, wie Julia fand. Peer strahlte und es gab keinen Zweifel daran, dass er sein schönstes Weihnachtsgeschenk schon jetzt ausgepackt hatte.
Julia antwortete: „Ich bin ebenfalls froh, dass wir zusammenarbeiten werden und...“ Julia stockte, fing sich aber wieder. „...und ich bin mir sicher, dass wir gute Ergebnisse erzielen werden.“
Julia wartete darauf, dass ihr jemand auf die Schulter klopfte. Aber es passierte nichts dergleichen. Peer erhob sich und holte eine Flasche aus seiner Minibar hervor. Er bereitete drei ordentliche Drinks vor und kam – immer noch irre lächelnd – zurück, um die Getränke zu verteilen.
Katarina winkte jedoch überraschend ab: „Vielen Dank, Peer, aber das Zeug trinke ich nicht.“ Peer wirkte verdattert und sein Lächeln war verschwunden. Julia hätte schwören können, dass sein Grinsen für immer in seinem Gesicht kleben geblieben wäre.
„Ist das die falsche Sorte?“, fragte er nervös, weil der Vertrag noch nicht unterschrieben war und er wusste, dass er oder irgendeiner seiner Untergebenen sich keine Fehler mehr leisten durften.
Katarina lachte: „Nein, nein. Ich trinke keinen Vodka. Aber einen Scotch könnte ich jetzt doch vertragen!“
Julia wurde nicht gefragt, ob sie überhaupt Lust hatte. So war das nunmal, wenn es in einem Medienunternehmen etwas zu feiern gab. Dann wurde gesoffen. Das war Gesetz.
Sie stießen auf eine erfolgreiche gemeinsame Zukunft an und als alle die Gläser geleert hatten, verabschiedete sich Julia wieder. Sie war zwar inoffiziell zur Juniorchefin ernannt worden, aber sie wusste nicht, ob Peer ihr den glamourösen Titel längst wieder entzogen hatte. Außerdem konnte sie bereits einen Blick auf den Vertrag erhaschen, als sie sich gesetzt hatte. Da war bloß Platz für zwei Unterschriften. Ihre große Stunde würde wohl noch warten müssen.
Sie kehrte in ihr Büro zurück und war froh, dass das Hin und Her endlich ein Ende hatte. Andererseits war sie verärgert, dass mit keiner Silbe erwähnt wurde, welche Rolle sie bei diesem Projekt gespielt hatte.
„Naja, vielleicht weiß Katarina gar nicht, warum Alexej sich plötzlich umentschieden hat“, dachte sie, als sie ihre Bürotür hinter sich schloss. Eigentlich wusste sie selbst es auch nicht, realisierte Julia verunsichert.
Julia ging unruhig in ihrem Büro umher und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wusste nicht, wie ihre Beziehung zu Alexej funktionieren sollte, wenn sie geheim gehalten werden musste. Abgesehen davon war es absolut absurd, von einer Beziehung zu sprechen, wie Julia fand.
Sie erinnerte sich an das Frühstück vom Vortag. Annabelle hatte ihr zum dritten Mal gedroht. Julia dachte an den uralten Spruch: „Hunde, die bellen, beißen nicht.“ Aber galt diese Bauernregel auch für Menschen? Julia verstand einfach nicht, warum Alexej das offensichtliche Problem ignorierte. Den Klaps auf den Po, den Annabelle bei ihrem ersten Date (oder war es eben doch nur ein Meeting gewesen?) von Alexej bekommen hatte, konnte Julia ebenfalls nicht vergessen.
Ging man so mit seiner Sekretärin um? Annabelle beteuerte, dass sie mit Alexej zusammen sei. Julia konnte sich das einfach nicht vorstellen, denn so abgebrüht war niemand. Alexej war, wenn man ihn ein wenig näher kennenlernte, ein wirklich netter Typ. Julia traute ihm nicht zu, dass er Annabelle derart verarschen würde.
Sie entschied, dass sie bald mit ihm darüber reden würde. Sie wollte, dass Klartext gesprochen wurde. Sie wollte endlich die Wahrheit wissen.
Julia starrte aus dem Fenster, das trotz der immensen Größe nur wenig Licht in das Zimmer ließ. Draußen war es düster und ungemütlich. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Julia gar keine wirkliche Lust auf ihre Mittagspause, die sie traditionell draußen verbrachte.
Sie hatte noch einige Emails zu verschicken. Julia musste sich um viel mehr administrative Dinge kümmern als früher. Das gehöre zum Chefposten dazu, meinte Peer. Julia fand es langweilig, aber sie hatte keine Wahl.
Es klopfte, als sie gerade eine Email an einen der Copywriter schrieb.
Obwohl Julia nur wenige Minuten an ihrem Computer gesessen hatte, war sie erleichtert, dass sie jemand bei der Arbeit störte. Ihr war jeder Anlass recht, um nicht vor dem blöden Ding zu sitzen.
„Herein!“, rief sie und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück. Julia rechnete mit Deniz, aber es war Katarina, die ihr freundlich zunickte und die Tür hinter sich schloss.
„Hör mal, Julia. Ich möchte gleich zur Sache kommen. Keine Angst! Das Projekt steht. Deshalb bin ich nicht hier“, beschwichtigte sie. Julia war bereits auf die äußerste Kante ihres Stuhls gerutscht und dachte voller Panik, dass man sich doch noch umentschieden hatte.
„Es geht um Alexej. Ich weiß natürlich, das etwas zwischen euch läuft. Wir sind zwar geschieden, aber wir verstehen uns doch ganz gut. Vielleicht sogar besser als früher, wer weiß. Naja, was ich sagen wollte: Du musst dich in Acht nehmen.“ Katarina lächelte nicht mehr, sondern guckte ernst. Julia fühlte sich bemuttert und antwortete eine Spur patziger, als sie es sich in ihrer Situation erlauben durfte: „Mit so einer Verrückten wie Annabelle komme ich schon klar!“
Katarina schüttelte energisch den Kopf.
„Ich meine nicht Annabelle. Ich meine Alexej. Du hast gesehen, was er mit Annabelle angestellt hat. Sie liebt ihn, weißt du. Aber ihn interessiert das nicht. Er hatte eine kurze Affäre mit ihr“, begann sie.
„Also stimmt es doch!“, sagte Julia empört. Sie sprach mehr zu sich selbst als zu Katarina, die sich mittlerweile auf der Schreibtischkante niedergelassen hatte.
„Julia, das ist ungefähr zwei Jahre her. Seitdem ist da nichts gelaufen. Annabelle ist einfach nicht fähig, sich von ihm zu lösen. Und glaub mir, das kann ich besser nachvollziehen als alle seine Gespielinnen zusammengenommen: Er macht es einem nicht einfach. Du musst aufpassen.“
Julia sagte nichts. Sie musste das erst einmal verdauen. Immerhin bestätigte Katarina gerade, dass Annabelle verrückt war. Warum sonst würde Annabelle davon reden, dass sie mit Alexej zusammen war, dachte Julia.
„Julia, du lässt dich auf ein gefährliches Spiel ein. Du kennst Alexej nicht so, wie ich ihn kenne“, setzte Katarina unbeirrt fort.
„Warum erzählst du mir das alles?“, fragte Julia nun.
„Eigentlich wollte ich mich da raushalten, aber als ich deinen Blick vorhin in Peers Büro gesehen habe, wusste ich, dass du Alexej und nicht mich erwartet hattest. Er hat dich verzaubert, nicht wahr?“
Julia runzelte die Stirn und war erstaunt, was ein einziger Scotch bei manchen Menschen anrichten konnte.
„Verzaubert? Du hörst dich so an, als würdest du das wörtlich meinen“, sagte Julia spöttisch. Sie war verärgert, dass sich ausgerechnet Alexejs Ex-Frau in ihre Beziehung einmischte.
Katarina schien sich die passenden Worte zusammenzulegen, denn sie antwortete nicht sofort. Schließlich schüttelte sie erneut den Kopf und als sie Julia in die Augen schaute, lächelte sie wieder.
„Vergiss es einfach. Es war dumm von mir. Eure Beziehung geht mich nichts an. Ursprünglich wollte ich dir bloß das hier vorbeibringen“, sagte Katarina und zog einen kleinen Briefumschlag aus ihrer Handtasche.
Julia öffnete den Umschlag und nahm eine schlichte Karte heraus. Es war eine Geburtstagseinladung.
„Diesen Samstag schon?“, fragte Julia mit aufgerissenen Augen. Sie wusste bis zu dem Zeitpunkt gar nicht, wann Alexej Geburtstag hatte.
„Aber ich habe doch gar nichts zum Anziehen“, stieß Julia hervor. Katarina lachte und versuchte Julia zu beruhigen: „Du wirst schon etwas Passendes finden. Falls es dich tröstet: Alexej interessiert so etwas nicht.“
Du hast gut reden, dachte Julia angespannt. Katarina hatte ihre Chance ja bereits verspielt. Sie war – aus welchen Gründen auch immer – nur noch Alexejs Ex. Die einzige wirkliche Konkurrenz stellte Annabelle dar.
Julia schielte nervös in Richtung ihres Tischkalenders und sah erleichtert, dass sie noch mehr als genug Zeit hatte, um sich etwas Vernünftiges für einen solchen Anlass zu besorgen.
Katarina ließ Julia im Büro zurück und schloss die Tür. Julia hielt die Geburtstagskarte in der Hand und versuchte sich auszumalen, wie die Party wohl ablaufen würde. “Sicher laufen da ausschließlich russische Topmodels herum”, vermutete sie.
Julia saß noch ein paar Sekunden so da, dann fasste sie sich ein Herz und wurde aktiv. Sie wollte nicht völlig unvorbereitet auf der Feier erscheinen, daher sah sie nun den anderen Kalender durch, den sie immer bei sich trug und der im Gegensatz zu dem klobigen Tischkalender auch tatsächlich ihre Termine enthielt.
Sie stellte fest, dass sie sowohl am Donnerstag als auch am Freitag ausreichend Spielraum hatte, um shoppen zu gehen. Vielleicht nehme ich Verena mit, dachte sie.
Ihre Gedanken schweiften ab und Julia hatte plötzlich wieder die komische Situation vom Vortag vor Augen. Sie konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen, warum Alexej den blöden Ring so angestarrt hatte. Er hatte wie verzaubert gewirkt, grübelte Julia.
„Mist! Wie kann man nur so blöd sein!“, stieß sie halblaut hervor und rannte aus ihrem Büro. Sie musste Katarina erwischen, bevor sie das Gebäude verließ. Julia schaute beim Laufen auf ihre Armbanduhr und versuchte abzuschätzen, wie lange Katarina schon weg war. Vielleicht drei oder vier Minuten, vermutete sie.
In der Sekunde, in der sie auf ihre Uhr guckte, prallte sie beinahe mit Deniz zusammen, der sie offenbar aus ihrem Büro abholen wollte. Er hielt zwei Sektgläser in der Hand und wollte ihr eines überlassen. Er öffnete den Mund, aber Julia schnitt ihm das Wort ab.
„Jetzt nicht, Deniz. Ich bin sofort wieder da!“, rief sie ihm über die Schulter hinweg zu, als sie gerade auf die Armatur des Aufzugs einhämmerte.
„Frau Gromow ist vor knapp einer Minute gegangen“, meinte Sarah geistesgegenwärtig und widmete sich danach wieder ihrem Computer. Sie verstand scheinbar, wen Julia so dringend abpassen wollte. „Danke!“, keuchte Julia, die bereits nach dem kurzen Spurt außer Atem war.
Glücklicherweise gab es nicht nur einen Aufzug, sondern gleich zwei. Der linke öffnete sich zischend, Julia stürzte hinein und prügelte wieder auf die Knöpfe ein.
„Jetzt mach schon, du blödes Ding!“, schnauzte sie. Es half nichts. Der Aufzug brauchte noch ein paar Sekunden, bis er sich endlich schloss und die Fahrt in Richtung Erdgeschoss aufnahm.
Julia überlegte, dass sie Katarina noch abpassen könnte, falls die es nicht genau so eilig hatte. Sie hatte das unangenehme Gefühl, dass Katarina ihr womöglich etwas über Alexejs Erbstück erzählen konnte. Hatte sie nicht auch das Wort „verzaubert“ benutzt? Obwohl Julia eigentlich nur an Fakten glaubte, an das was sie sehen und anfassen konnte, war sie sich bei der Sache mit dem Ring nicht mehr sicher. Sie hoffte, dass Katarina ihr weiterhelfen konnte.
Julia kam endlich unten an und drängelte sich durch die kleine Menschentraube, die in den Aufzug einsteigen wollte.
Sie lief durch das Foyer des Bürogebäudes, passierte die große Schwingtür und rutschte beinahe auf dem mittlerweile angefrorenen Schneematsch auf dem Bürgersteig aus. Sie fing sich und schaute sich auf dem Gehweg um.
Katarina war nicht zu sehen. Julia war zu spät.
Als sie wieder ins Foyer zurückkehrte, machte sie sich Vorwürfe, dass sie nicht schon früher auf die Idee gekommen war, sich bei jemandem Hilfe zu suchen, der Alexej besser kannte als sie selbst.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Sicherheitsmann, der Julias Spurt in Richtung Straße von seinem bequemen Stuhl im Foyer interessiert beobachtet hatte.
Julia schaute zu ihm herüber und schüttelte den Kopf: „Nein, danke schön. Es ist alles in Ordnung.“ Sie war völlig aus der Puste. Als sie den Aufzug nach oben wieder betreten hatte, kam sie sich blöd vor. Hatte sie wirklich vorgehabt, Katarina nach einem verzauberten Ring zu fragen? Julia überlegte, ob sie vielleicht wirklich Urlaub brauchte. Sie entschied, dass sie sich nicht verrückt machen wollte. Es ist bloß ein gewöhnlicher Ring, dachte sie.
Aber das mulmige Gefühl blieb.
Oben angekommen wurde Julia von einer kleinen Menschentraube empfangen und ihr wurde schlagartig bewusst, wie groß dieser Auftrag eigentlich war. Und was er für die Zukunft der Firma bedeutete.
Deniz versuchte das zweite Sektglas an Julia loswerden, aber die konzentrierte sich auf Peer, der gerade sein eigenes Glas zum Gruß hob, obwohl er es längst geleert hatte. Julia überlegte einen kurzen Moment, ob Peer vorhatte, seine Minibar zu plündern, denn auch die anderen Anwesenden hielten Drinks in der Hand und strahlten.
Da waren zwei Copywriter, ein weiterer Grafiker, der Deniz in punkto Kreativität bei Weitem nicht das Wasser reichen konnte und sogar das Mädchen vom Empfang. Sarah wirkte etwas verloren zwischen dem eingespielten Team, aber Peer hatte ihr ebenfalls ein Glas Sekt in die Hand gedrückt, woran sie nun zögerlich nippte. Sie befürchtete offenbar, dass es sich um eine Art Test handelte, bei dem sie immer durchfallen würde.
Wenn sie die Einladung zum Trinken annahm, würde sie unseriös wirken. Wenn sie jedoch nicht trank, würde sie einen unfreundlichen Eindruck machen. Sarah steckte in einer emotionalen Zwickmühle. Julia erkannte ihr Dilemma und nahm endlich ihr eigenes Glas aus Deniz' Hand und stieß mit der nervösen Sarah zuerst an. Sie strahlte und machte sich keine Sorgen mehr.
Nachdem sich alle Anwesenden zum erfolgreichen Abschluss des Werbedeals beglückwünscht hatten, klatschte Peer in die Hände und rief: „So, jetzt seht aber zu, dass ihr noch was geschafft bekommt. Gleich habt ihr ja ohnehin Pause, wenn ich das richtig sehe.“
An Julia und Deniz gewandt fügte er hinzu: „Komm doch bitte mal mit in mein Büro. Und du auch, Deniz!“
Peer lächelte zwar, aber Julia wusste trotzdem nicht, was sie davon halten sollte. Deniz wurde ganz klein und trollte sich bereits in Richtung von Peers Büro.
Peer legte seinen Arm auf Julias Schulter und schob sie so ebenfalls in seine Höhle. Die meisten Mitarbeiter der FemediaX GmbH nannten Peers Büro seine „Höhle“, weil er dort regelmäßig seine berüchtigten Nickerchen hielt, wie es sich für eine Fledermaus eben gehörte.
„Setzt euch“, meinte er freundlich und schloss die Tür. Er stellte sein Glas auf seinem chaotischen Schreibtisch ab und setzte sich ebenfalls.
„So, das ist ja nochmal gut gegangen, nicht wahr?“, begann er leise und sein Lächeln verwandelte sich. Sein Gesicht sah maskenhaft aus und überhaupt nicht glücklich.
Deniz schwieg. Julia sagte ebenfalls nichts, denn sie wartete darauf, dass Peer ihnen erklärte, was eigentlich los war.
„Julia, das war wirklich knapp.“ Er redete immer noch keinen Klartext und Julia konnte bloß raten, was er meinte.
Sie antwortete steif: „Ich habe dir bereits erklärt, was letzte Woche vorgefallen ist. Was sollte ich denn tun? Mich für einen Kunden prostituieren?“
Peer reagierte nicht sofort, sein maskenhaftes Gesicht war nicht zu entziffern. Schließlich lehnte er sich in seinem Bürosessel zurück und schaute Julia direkt in die Augen. Er sagte: „Dazu werde ich mich nicht äußern. Ich will mich nicht mit dir streiten. Aber deine Professionalität lässt zu wünschen übrig und das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht.“
Deniz rutschte nervös auf seinem Stuhl herum, denn er befürchtete, ebenfalls eine Abreibung zu erhalten, konnte sich jedoch nicht erklären, wieso.
Julia öffnete den Mund, um ihrerseits einen Streit vom Zaun zu brechen, aber sie besann sich, als sie durch Peers Maske hindurch sah und einen müden, alten Mann erkannte, für den sich die Welt mittlerweile zu schnell vorwärts bewegte. Sie war zwar wütend, aber sie beherrschte sich. Das wiederum wunderte sie selbst, denn in der Vergangenheit hatte sie keine Skrupel gehabt, ihre Meinung offen auszusprechen.
Peer setzte nach: „Ich möchte, dass so etwas nicht noch einmal passiert.“ Und dann, nach einer kurzen Pause: „Es ist offensichtlich, dass unser neuer Kunde nicht gerade einfach ist. Das sehe ich ein. Aber trotzdem: du musst dich zusammenreißen. Wenn deine persönlichen Probleme zu Problemen unserer Firma werden, dann ist das, nun ja, nicht gut. Weder für die Firma noch für deine eigene Karriere.“
Julia nickte gehorsam, denn ihr war klar, dass es hier keinen Raum für eine faire Diskussion gab. Peer suchte einen Sündenbock und dieser Sündenbock sollte Julia sein.
Es war ungerecht. Julia hatte nicht das hier verdient, sondern eine gehörige Portion Lob. Sie – und sie allein – hatte das Schiff vor dem Kentern bewahrt. Sie – Julia – und niemand sonst, hatte dafür gesorgt, dass die FemediaX GmbH einen millionenschweren Werbedeal ergattern konnte.
Julia biss sich auf die Unterlippe und schluckte ihren Ärger hinunter. Sie konnte bloß hoffen, dass von nun an alles glatt lief.
Peer lehnte sich wieder nach vorne und schaute diesmal Deniz an. Er runzelte die Stirn und sagte: „Deniz, es geht mich nicht wirklich etwas an, wem du wann und warum hinterher spionierst, aber wenn du deine privaten Angelegenheiten bei dieser Internetseite – wie heißt sie noch? Facebook? - weiterhin während deiner Arbeitszeit und noch dazu in deinem eigenen Büro verfolgst, müssen wir ein ernstes Gespräch über deine Zukunft in unserer Firma führen.“
Deniz wollte sich entschuldigen, aber Peer winkte ab und stand abrupt auf, um sie zur Tür zu dirigieren. Er verabschiedete sie mit einem echten Lächeln. Seine Maske hatte er wieder ausgezogen und Julia war klar, dass auch Peer bloß gestresst war.
Sie nahm es ihm weiterhin übel, dass er nicht sehen konnte, was sie in den letzten Tagen geleistet hatte. Oder will er es nicht wahrhaben, fragte sie sich auf dem Weg nach draußen.
Deniz war es offenbar peinlich, dass er in Julias Gegenwart für seine persönlichen Facebook-Ermittlungen gerügt worden war und ging mit gesenkten Kopf in sein Büro zurück.
Julia jedoch blieb stehen und schaute sich im Flur der FemediaX um. Überall war geschäftiges Treiben, man hörte Menschen reden, telefonieren, fluchen, lachen.
Julia war trotz allem froh, ein Teil dieser Firma zu sein und sie beschloss, Verena vom erfolgreichen Deal zu erzählen. Außerdem wollte sie ihren Rat bezüglich der anstehenden Geburtstagsparty einholen, denn Verena kannte sich mit Mode ziemlich gut aus.
Verena passte zwar selbst in nichts mehr hinein, was ansehnlicher als ein Kartoffelsack war, aber sie wusste, was Julia stand und was nicht.