Kapitel 22 – Die Bestrafung
Diesmal wartete ein anderer Fahrer in einem anderen Wagen auf sie. Julia vermutete, dass Alexej mehrere Luxusautos besaß. Diesmal stieg sie in einen fast ebenso stilvoll ausgestatteten Mercedes ein. Der Fahrer wirkte auf den ersten Blick unsympathisch, wie Julia fand. Sie nahm ihm das jedoch nicht übel und bemühte sich, ein möglichst unkomplizierter Passagier zu sein.
Ihr Versuch, ihn in einen kleinen Smalltalk zu verwickeln, scheiterte. Er ignorierte sie einfach. Julia schwieg also ebenfalls und spürte, wie sie immer aufgeregter wurde.
Nach insgesamt knapp zwanzig Minuten hörte Julia wieder das Knirschen der Reifen auf der langen Schotterauffahrt zu Alexejs wunderschönem Anwesen.
Das schummrige Licht und die von ihr fälschlicherweise als Engelsstatuen identifizierten Steinbüsten jagten ihr keine Angst mehr ein. Sie wunderte sich jedoch, dass die große Eingangstür einen Spalt weit offen stand. Julia erinnerte sich an Alexejs Geburtstagsparty und an die vielen Bediensteten, die in seinem Haus herumgeschwirrt waren.
„Hallo? Alexej?“, fragte Julia und ihre Stimme hallte in der Eingangshalle wider. Auch ihre zögerlichen Schritte erzeugten ein Echo. Ebenso der Schrei, den sie von sich gab, als jemand sie von hinten packte und ihr ein Tuch auf Mund und Nase drückte.
Julia wurde ohnmächtig.
Ihr Kopf dröhnte und als sie die Augen öffnete, blendete sie ein viel zu helles Licht. Wenige Sekunden später konnte Julia eine Silhouette erkennen. Sie blinzelte noch einmal; der Raum, in dem sie sich befand, kam ihr vage bekannt vor.
Julia bemerkte, dass sie gefesselt war und der Stuhl, auf dem sie festgebunden worden war, sich auf ihr Rütteln hin keinen Millimeter bewegte.
„Keine Chance“, sagte eine Stimme, die Julia nicht orten konnte. In ihren Ohren rauschte das Blut und sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Sie realisierte, dass sie sich in Alexejs Keller befand. Es lag ein leichter Chlorgeruch in der Luft und wenn Julia sich anstrengte, konnte sie irgendwo im Hintergrund eine der Pumpen des Pools gluckern hören.
„Tja, so sieht man sich wieder“, sagte die Stimme. Julia konnte die Stimme immer noch nicht zuordnen. Ihr Körper bebte vor Panik und sie brachte kein Wort heraus.
Julia wurde endlich von dem schrecklichen Gefühl der Unwissenheit befreit, als Annabelle aus dem Schatten trat und sich grinsend vor Julia stellte.
„DU!“, stieß Julia hervor. In dem Moment wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie die ganze Zeit über Recht gehabt hatte und dass tatsächlich Annabelle für ihr Brandmal verantwortlich war. Ein kleiner Teil in ihr wunderte sich auch gar nicht und Julia machte sich unterbewusst bereits Vorwürfe, dass sie ihrem Instinkt nicht von Anfang an getraut hatte.
„Ja, ich“, sagte Annabelle genüsslich. „Wer sonst? Dachtest du wirklich, dass der Schlappschwanz zu so etwas fähig wäre? Dachtest du wirklich, dass dieser perverse Spinner seine Beute verstümmeln würde?“
Julia musste angewidert mitansehen, wie Annabelle maskenhaft lachte. Ihre irren Augen glühten und Julia wusste, dass es genau diese Situation war, vor der sie alle gewarnt hatten.
Die Fesseln schnitten ihr in die Handgelenke, als sie versuchte, ihre Finger freizubekommen. Aber Annabelle hatte gute Arbeit geleistet, es gab kein Entkommen.
Als Julia sich von ihrem ersten Schreck einigermaßen erholt hatte, schaute sie sich mit flinken Augen um. Sie war tatsächlich im Poolraum. Sie erinnerte sich nur bruchstückhaft an diesen Raum, weil sie ihn bei ihrem letzten Aufenthalt in Alexejs Gewölben kaum beachtet hatte.
Julia drehte den Kopf hin und her und sah, dass sie nur einen knappen halben Meter vom Beckenrand entfernt auf dem Stuhl saß. Annabelle beobachtete sie. Sie genoss das Spiel.
„Warum tust du das?“, fragte Julia verzweifelt. Sie wollte Zeit schinden, denn sie ahnte, was Annabelle mit ihr vorhatte.
„Warum? WARUM? Die richtige Frage lautet: warum habe ich es nicht schon vorher gemacht? Ich wusste von Anfang an, was für eine Frau du bist. Du nimmst und nimmst und nimmst. Du interessierst dich nicht für andere. Ekelhaft“, blaffte Annabelle sie an und spuckte vor sie auf den Boden.
Julia wand sich in ihren Fesseln, aber die Knoten waren zu fest und die Seile zu dick. Sie war vollkommen bewegungsunfähig.
Sie musste etwas tun, aber sie wusste nicht, was. Also redete sie weiter, um den schrecklichen Moment der Wahrheit weiter hinauszuzögern.
„Du liebst Alexej, nicht wahr? Dann müsstest du doch am besten verstehen, dass ich ihn ebenfalls anziehend finde. Er hat nie erwähnt, dass zwischen euch etwas läuft. Ich habe ihn sogar gefragt. Ich-“, begann Julia so freundlich, wie es ihr unter den Umständen möglich war, aber weiter kam sie nicht.
Annabelle machte einen großen Schritt nach vorn und verpasste Julia eine gesalzene Ohrfeige. Julias Lippe platzte auf und Blut lief ihr in den Mund.
„WAGE ES NICHT. Ich weiß, was Alexej für mich empfindet. Du kannst dir deine Lügen sparen“, rief Annabelle und lief ziellos wie ein in die Enge getriebenes Tier im Raum umher. Sie fasste sich immer wieder an den Kopf, so als ob sie sich den nächsten Schritt überlegte.
Julia hatte den Eindruck, dass Annabelle nicht nach einem strikten Plan handelte, sondern sich eher treiben ließ. Julia wusste nicht, was gefährlicher war. Eine perfektionistische Annabelle, die bereits auf alles eine passende Antwort hatte oder eine spontane, unberechenbare Annabelle, die nach Lust und Laune handelte.
„Du bist nicht die erste Schlampe, die Alexej gevögelt hat, seit er mit mir zusammen ist. Meinst du etwa, du bedeutest ihm etwas? Für ihn bist du ein Spielzeug, mehr nicht. Eigentlich müsstest du mir leid tun. Du bist so unglaublich naiv“, wetterte Annabelle weiter und bewegte sich immer noch unruhig im Raum umher.
Julia traute sich nicht, noch etwas zu sagen und hoffte inständig, dass Annabelle sich wieder beruhigen würde, wenn sie sie nur ausreden und ihren Frust ablassen ließe.
„Ich hasse dich nicht, falls du das geglaubt hast. Es ist nur so, dass ich nicht zulassen kann, dass du unsere Beziehung zerstörst“, fügte Annabelle hinzu und blieb endlich stehen, um Julia mit einem unschuldigen Blick zu fixieren.
„Welche Beziehung?“, rutschte es Julia raus und sie bereute es sofort, dass sie nicht die Klappe gehalten hatte.
„Was hast du gesagt?“, zischte Annabelle und ihr Blick wurde wieder wild. Sie eilte aus dem Raum und kam wenige Augenblicke wieder. Julia blieb fast das Herz stehen. Sie schaute geradewegs in die Mündung einer schwarz glänzenden Pistole, die Annabelle mit zitternder Hand auf Julias Gesicht richtete.
Annabelle war außer sich vor Wut. Sie rief: „Ich sollte dich einfach abknallen, meinst du nicht? Was würdest du tun? Du lässt mir ja keine Wahl, nicht wahr?“
Julia spürte, wie unsicher Annabelle eigentlich war und sie realisierte, dass diese planlose, spontan handelnde um einiges gefährlicher war als die gezielt verletzende Version von damals, die ihr mit kalter Präzision ein Brandmal verpasst hatte. Diese Annabelle war gestresst. Sie stand unter Strom. Sie wusste offenbar selbst, dass sie eine Grenze überschritten hatte. Julia verstand, Annabelle hatte nun fast nichts mehr zu verlieren.
Sie wählte daher ihre Worte sorgfältig, denn sie wollte Annabelle nicht noch weiter provozieren: „Woher wusstest du eigentlich, wann ich nach Hause komme?“
Julia war nämlich eingefallen, dass Alexejs Brief mit der Maschine geschrieben worden war und dass nicht Alexej selbst, sondern Annabelle dafür verantwortlich gewesen sein musste.
Eine simple Unterschrift kann man fälschen, dachte sie.
„Ach, das war einfach“, rühmte sich Annabelle und grinste plötzlich wieder. Es war genau dieser maskenhafte Gesichtsausdruck, diese Leere in ihrem kalten Blick, die Julia am meisten an ihrem Gegenüber fürchtete.
Annabelle fuhrt fort: „Ich habe ein bisschen herumtelefoniert und hatte am Ende Frau Steinkamp senior in der Leitung, die mir nur zu gern verraten wollte, wann du zurückkommst. Warum? Weil ich ihr vorgegaukelt habe, dass ich eine Arbeitskollegin bin und mit anderen Kollegen und Kolleginnen eine Überraschung für dich vorbereiten würde. Sie hat mir aus der Hand gefressen. Deine Mama scheint mächtig stolz auf dich zu sein.“
Julia wäre ihr gern an die Gurgel gegangen, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, die Pistolenmündung zu beobachten, die immer noch bedrohlich vor ihrer Nase schwebte. Glücklicherweise war die Waffe für die untrainierte Annabelle zu schwer, also senkte sie sie wenige Augenblicke später und begann erneut, unruhig im Raum herumzugehen.
Nach diesem plötzlichen Stimmungswechsel kapierte Julia, dass sie Annabelle bei Laune halten konnte, indem sie ihr Raum zum Erzählen gewährte. Sie schmeckte das Blut, das aus ihrer aufgeplatzten Lippe getropft war und hoffte, dass es an diesem Abend bei dieser Verletzung bleiben würde.
„Meinst du, ich bin blöd genug, um mich auf dein Gesülze einzulassen?“, fragte Annabelle. „Ich weiß, was du vorhast, aber es wird dir nicht gelingen“, fügte sie hinzu.
Julia schluckte und ging im Kopf ihre Optionen durch. Viele hatte sie nicht. Eigentlich gar keine.
Sie war Annabelles Launen ausgeliefert und obwohl ihrer letztes Abenteuer in Alexejs Keller für sie sehr schmerzhaft gewesen war, zog sie eine läppische Brandwunde dem möglichen Tod durch die Hand einer Geisteskranken jederzeit vor.
Julia fand es komisch, dass Annabelle einerseits so positiv von Alexej und seiner Liebe für sie sprach und sie ihn gleichzeitig als Schlappschwanz bezeichnete. Für Julia war das ein weiteres Zeichen für ihre instabile Psyche und dafür, dass sie dringend einen Plan brauchte, um lebend aus diesem verfluchten Keller herauszukommen.
„Was hast du jetzt mit mir vor?“, fragte Julia, um Annabelle irgendwie abzulenken.
Glücklicherweise ging sie dankbar auf die Frage ein. Sie wedelte gedankenverloren mit ihrer Pistole herum, bis sie überheblich erwiderte, dass Julia es eigentlich schon hätte herausfinden müssen.
„Da habe ich dich wohl überschätzt, nicht wahr?“, setzte sie unerbittlich nach. Julia wusste tatsächlich nicht genau, was ihr bevorstand, obwohl sie eine schreckliche Ahnung hatte.
„Na gut, ich erkläre es dir. Alexej wird dich in seinem Pool ertränken“, sagte Annabelle.
Julia runzelte die Stirn und schaute Annabelle ungläubig an. Diese sprach aufgeregt weiter: „Naja, wenigstens werden alle glauben, dass es Alexej war. Hier sind überall seine Fingerabdrücke dran. Und deine natürlich auch.“
Es machte Sinn und Julia kam es so vor, als wäre sie wie von Geisterhand einige Zentimeter näher an den Rand des Pools gerückt worden. In ihr entstand ein unbändiger Drang, den Stuhl vom Becken fortzubewegen, aber die Fesseln drückten ihr weiterhin unerbittlich das Blut ab.
Annabelle sah eigentlich schön aus, dachte Julia verwirrt, denn die sich in ihr aufbäumende Panik verhinderte, dass sie einen klaren Gedanken fassen konnte.
Julia betrachtete den penibel aufeinander abgestimmten Look, für den sich Annabelle an diesem für sie so bedeutsamen Abend entschieden hatte. Sie sah so aus, als würde sie ins Theater gehen oder in die Oper, fand Julia. Und tatsächlich, für Annabelle war der kühle Keller, in der sie sich mit ihrer Erzfeindin und ärgsten Konkurrentin befand, die ideale Bühne für ein wunderbares, spannendes und belebendes Schauspiel.
Sie spielte die Hauptrolle und sie führte Regie. Annabelle fühlte sich zum ersten Mal stark. Sie spürte, dass sie die Kontrolle hatte. Das Gefühl beflügelte sie.
„Du musst das nicht tun“, brachte Julia ängstlich hervor, woraufhin Annabelle ein schallendes Lachen hören ließ. „Oh, doch. Ich muss es tun“, antwortete sie.
„Wenn ich Alexej nicht haben kann, dann soll ihn niemand haben“, ergänzte sie.
Julia verstand. Die erdrückende Beweislast würde Alexej vermutlich für immer in den Knast bringen. Von dort aus würde er Annabelle nicht mehr verletzen können, überlegte sie und sie bewunderte Annabelle ein wenig für ihre Kreativität. Es war ein guter Plan, aber eine Sache wurmte sie immer noch.
„Wo ist Alexej?“, fragte Julia, um Annabelle weiter bei Laune zu halten. Sie bemühte sich, ein selbstbewusstes Lächeln aufzusetzen, scheiterte jedoch kläglich.
„Den hast du, liebe Julia, mit einem sehr überzeugenden Brief in die Cocktailbar geschickt, in der ihr euch kennengelernt habt. Natürlich ist die Nachricht ebenfalls mit der Maschine geschrieben worden, aber eure Unterschriften waren ja leicht zu bekommen. Nach all den Jahren hatte es endlich mal einen Vorteil, die unterbezahlte Sekretärin zu sein. So hatte ich Zugriff auf eure Verträge und somit auch auf eure Unterschriften.“
Julia schluckte erneut. Alexej wartete nun vermutlich in der Cocktailbar und wusste von nichts. Julia hatte keine Chance und ihre Angst wurde unerträglich. Sie wollte nicht sterben. Zumindest nicht so.
Sobald Julia kapierte, dass es ohnehin keinen Ausweg mehr gab, wollte sie wenigstens selbst kontrollieren, wie und wann sie diese Erde verlassen musste. Ihre Angst blieb, aber sie überspielte die Panik mit dem typischen Lächeln, dass sie auch bei schwierigen Kunden aufgesetzt hatte.
„Gut. Du hast gewonnen. Bitte bring' es endlich hinter dich. Wenn ich schon sterben muss, dann mach' es bitte schnell. Worauf wartest du noch?“, rief Julia mit zitternder Stimme. Schweißperlen liefen an ihrer Stirn und ihren Schläfen herab. Sie hatte Todesangst und ihr war jedes Mittel recht, um entweder durch ein unwahrscheinliches Wunder doch noch frei zu kommen oder um den schauderhaften Prozess des Sterbens, des Ertrinkens, endlich hinter sich zu bringen.
Annabelle stürmte erneut auf sie zu und schlug Julia zum zweiten Mal ins Gesicht. Diesmal hatte sie den Kolben ihrer Pistole als Knüppel benutzt und Julia schwirrte der Kopf. Sie hatte eine weitere Platzwunde abbekommen, diesmal an der linken Augenbraue, die in Sekundenschnelle zu einer hässlichen Beule anschwoll.
Der Schmerz kam erst einige Augenblicke später, als Julia den Schock überwunden hatte und wieder geradeaus guckten konnte. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Kopf platzen. Sie musste die Augen zusammenkneifen und biss sich auf die bereits blutende Unterlippe, um diese erste brutale Welle des Schmerzes ein wenig zu mildern.
Als Julia leicht benommen die Augen wieder öffnete, sah sie, dass Annabelle die Pistole provisorisch in ihrem Hosenbund geklemmt hatte. Sie versuchte, eine Zigarette aus dem Päckchen zu bekommen, aber ihre Hände zitterten so stark, dass ihr die Packung aus der Hand fiel und die Kippen über den staubigen Boden des Kellers rollten.
Julia realisierte, dass Annabelle ebenfalls Angst hatte. Auch auf ihrer Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet, die dunklen Flecken unter den Armen, die sich auf der grauen Bluse gebildet hatten, sprachen eine deutliche Sprache. Annabelle fürchtete sich davor, Julia umzubringen.
Diesen Moment der Schwäche nutzte Julia aus, indem sie das Nervenbündel vor ihr weiter provozierte. Jetzt hatte sie wirklich nichts mehr zu verlieren.
„Worauf wartest du noch? Bringen wir es endlich hinter uns! Oder hast du etwa Angst? Das hier ist doch genau das, was du wolltest. Ich werde bald unter der Erde sein und Alexej ist dann im Knast. Worauf wartest du also?“, höhnte Julia. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, aber es war ihr egal. Sie wollte, dass die Tortur endlich ein Ende nahm.
Annabelle ignorierte Julias Rufe und ging wieder nervös im Raum umher. Die Pistole steckte immer noch in ihrem Hosenbund. Annabelle hatte es geschafft, sich eine Zigarette anzustecken. Sie zog gierig an dem Glimmstängel, ihr Blick ging ins Leere. Julia sah, dass ihre Peinigerin nicht den Mumm hatte, um sie tatsächlich zu ertränken.
Jetzt musste sie es nur noch schaffen, dass diese Psychopathin sie losmachte oder wenigstens die Flucht ergriff. Julia ließ ein falsches Lachen hören. Annabelle achtete zunächst nicht darauf, aber nach einigen Sekunden schaute sie zur gefesselten, blutenden Julia herüber. Ihr eisiger und plötzlich alarmierend entschlossener Blick sorgte dafür, dass Julia das Lachen im Halse stecken blieb.
Sie war zu weit gegangen. Annabelle warf den Zigarettenstummel achtlos auf den Boden und ging auf Julia zu. Es waren nur knapp zwei Meter und Julia spürte, dass sie einen gewaltigen Fehler gemacht hatte.
Annabelles Augen fixierten Julia hasserfüllt. Julia konnte den Wahnsinn in ihrem Blick erkennen. Sie war verrückt. Sie wusste nicht, was sie tat. Und das Schlimmste war: es schien Annabelle sogar egal geworden zu sein.
Sie griff nach ihrer Waffe und richtete sie erneut auf Julias Nasenspitze. Julia schielte nur noch kurz auf die Mündung und hielt den Atem an. Instinktiv schloss sie dann die Augen, sie presste sie so stark zusammen, dass es schmerzte. Sie hatte verloren.
„HALT!“, ertönte eine vertraute Stimme aus Richtung der Kellertreppe. Julia öffnete ihr rechtes Auge zögerlich und sah, dass dort wirklich Alexej mit erhobenen Armen stand und seinerseits Annabelle flehend anschaute.
Diese hatte die Pistole blitzschnell in seine Richtung gedreht und schrie: „Stehen bleiben. Ein Schritt weiter und ich knall' die Schlampe ab!“
Alexejs rührte sich nicht, sondern behielt seine durchdrehende Sekretärin und ehemalige Geliebte im Auge.
„Lass' Julia aus dem Spiel. Sie hat dir nichts getan. Lass' sie gehen und wir klären das unter uns“, sagte Alexej mit fester Stimme. Er nickte grimmig in Richtung des Stuhls, auf dem Julia gefesselt worden war und fügte hinzu: „Los, nimm ihr die Fesseln ab!“
Annabelle ließ ein überdrehtes Lachen hören. Sie fand seine Aufforderung offenbar witzig. „Die Zeiten, in denen du mir Befehle gibst, sind vorbei. Du wirst ganz genau das machen, was ich dir sage“, rief Annabelle und ihr wilder Blick raste von Alexej zurück zu Julia und wieder zu Alexej.
Julia ahnte, dass die Situation nicht glimpflich ausgehen würde und sie sollte Recht behalten.
Alexej ignorierte Annabelles Warnung und bewegte sich – immer noch mit erhobenen Händen – in ihre Richtung. Annabelle wich ein paar hastige Schritte zurück, behielt den riesigen Russen, dessen machtvolle Aura Julia sogar über mehrere Meter hinweg mit einem undefinierbaren Gefühl von Zuversicht erfüllt, im Auge.
„Bleib stehen, Alexej. Das ist kein Scherz. Ich werde das Ding hier benutzen. Zwing mich nicht dazu“, rief sie.
Aber Alexej hörte nicht auf sie. Er schien eine Art Plan zu haben. Julia wusste nicht, was er vorhatte, aber sie wusste, dass es schnell gehen musste.
Annabelles Augen weiteten sich, als Alexej den nächsten Schritt wagte.
Ein Schuss löste sich und peitschte durch den Raum. Alexej hatte die letzten zwei, drei Schritte mit unerhörter Geschwindigkeit zurückgelegt und hielt nun Annabelles pistolenbewehrte Hand in Richtung der Decke. Alexej hatte Schwierigkeiten, seine Widersacherin unter Kontrolle zu bringen. Sie wand sich in seinem Griff, sie trat wild nach ihm und nutzte die noch freie Hand, um Alexejs Gesicht zu zerkratzen. Julias Herz raste, als sie ihren Geliebten mit seiner geisteskranken Ex kämpfen sah.
Annabelle schaffte es irgendwie, sich aus seinem Griff zu befreien. Julia sah etwas Glänzendes zu Boden fallen. Sie achtete jedoch nicht weiter darauf, denn Annabelle richtete die Waffe erneut auf Alexej. Sie drückte kaltblütig ab und erwischte ihn an der Schulter. Alexej sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden und hielt sich den Arm.
Julia stand der Mund offen. Sie wollte ihm etwas zurufen. Sie wollte ihn anfeuern. Sie wollte ihm helfen. Aber sie brachte kein Wort hervor.
Plötzlich löste Annabelle den Blick von dem Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte und schaute zur vor Angst bibbernden Julia herüber. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht und sie ging auf ihre Geisel zu.
„So, und du gehst jetzt eine Runde schwimmen!“, blaffte sie Julia an und verpasste ihr einen kräftigen Tritt aufs Brustbein, der ihr die Luft aus den Lungen drückte.
Der Stuhl kippte nach hinten und Julia sah in einer nicht enden wollenden, fließenden Bewegung, wie Annabelle aus ihrem Sichtfeld verschwand und dafür die graue, nackte Decke des Kellers erschien.
Einen Augenblick später tauchte Julia bereits rücklings auf den Grund des kleinen Pools.
In ihrer Panik schluckte sie große Mengen Wasser, sie rüttelte vergeblich an ihren Fesseln und dann, nur wenige schreckliche Sekunden später, war alles still. Schwärze umgab Julia. Sie hatte endgültig verloren.