Kapitel 5 – Der Anruf

Julia wachte mit einem Mordskater auf. In ihrem eigenen Bett, wie sie erleichtert feststellte. Ihr Kopf dröhnte und sie schwor sich, nie wieder mit einem potenziellen Kunden in einer Cocktailbar zu versacken. Egal, wie gut der Kunde aussieht, dachte sie.

Als sie sich aufrichtete, spürte sie den Drang sich zu übergeben, was sich jedoch auf dem slalomartigen Gang zur Toilette wieder legte. Diesmal hatte sie kein erotischer Traum aus dem Schlaf gerissen, Julia war durch das ohrenbetäubende Schrillen ihres Weckers aufgewacht.

Das bedeutet, dass ich es heute pünktlich zur Arbeit schaffen kann, dachte sie benommen, als sie sich bemühte, den widerlichen Geschmack im Mund mit der Zahnbürste zu bekämpfen. Nach der Dusche setzte sie sich Kaffee auf und als sie langsam frisch wurde und die heiße Tasse mit zwei blassen und leicht zitternden Händen umklammerte, dachte sie an den vorigen Abend.

Ein Blick in den Flur neben der Küche verriet ihr, dass zumindest die Schuh-Misere tatsächlich stattgefunden hatte. Schon von Weitem war ersichtlich, dass sie diese 1000-Euro-Treter ebenso gut in die Altkleidersammlung oder besser: in den Müll befördern konnte.

Warum hatte sich Alexej wie ein Arschloch verhalten? Es hatte doch alles perfekt begonnen? Zumindest, wenn man von ihren Peinlichkeiten zu Beginn des vorigen Tages absah. Bevor sie sich weitere Gedanken machen konnte, klingelte ihr Handy – das fürs Private. Deniz war in der Leitung: „Hey Süße, gut geschlafen? Ich komm' gleich zur Sache. Was ich dir gleich erzähle, wird dir nicht gefallen!“

Julia überging seine unpassende Anrede (seit wann durfte er sie 'Süße' nennen?) und hoffte inständig, dass er sich verwählt hatte. „Also, wie gesagt, ich mach's kurz. Peer wird dich in ein paar Minuten anrufen... Katarina scheint ein ebensolcher Frühaufsteher wie Peer zu sein. Sie hat ihm scheinbar schon vor einer Stunde telefonisch mitgeteilt, dass der Deal geplatzt sei. Genaueres weiß ich nicht, aber ich wollte dich vorwarnen.“

„Der Deal... ist geplatzt? Was soll das heißen?! Ich hab' gestern mehr als nur meine Zeit geopfert, damit wir den Auftrag kriegen. Ich fasse das nicht. Ich fasse das einfach nicht.“ Sie konnte es wirklich nicht fassen. Bevor sie Deniz nach Einzelheiten fragen konnte, meinte er hastig, dass er auflegen müsse. Julia hatte sich diesen Tag anders vorgestellt, als sie gestern in ihr Bett gestiegen war. Vom Alkohol beflügelt hatte sie es irgendwie geschafft, sich doch noch positiv zu stimmen und war mit großen Plänen für diesen Tag eingeschlafen. Lange gehalten hatte ihr Glück offensichtlich nicht.

Julia hatte das Handy noch nicht wieder weggelegt, als es erneut bedrohlich nah an ihrem Brummschädel klingelte. „Deniz? Was ist denn eigentlich los?“ „Nein, hier ist Peer. Deniz war so freundlich, mir deine PRIVATNUMMER mitzuteilen, die du mir offenbar AUS VERSEHEN vorenthalten hast. Weißt du eigentlich, was uns der Abend gestern gekostet hat? Neben unserem Ruf als professionelle Werbeagentur haben wir gestern auch knapp vier Millionen Euro in den Sand gesetzt. Was rede ich da? Nicht wir, DU“, schnauzte Peer in den Hörer. Er setzte ohne Pause fort: „Was ist denn in dich gefahren? Katarina hat mich angerufen und gemeint, dass unser Herr Gromow mit unserer Arbeitsmoral nicht einverstanden ist. Was hat das bitte zu bedeuten?“

Julia fehlten die Worte und ihr wurde wieder schlecht. Mit dem Begriff Arbeitsmoral war vermutlich gemeint, dass sie am Vorabend nicht mit ihm ins Bett gesprungen ist, wie er es von ihr verlangt hatte. Schlagartig war ich wieder klar, warum sie die reichen Kunden so ungern betreute. Die hatten fast alle einen Schaden. Ihr war speiübel, vor Wut auf dieses reiche Arschloch, das vermutlich gerade eine noch jüngere, noch hübschere Namenlose oder sogar seine Sekretärin in den siebten Himmel vögelte und natürlich vor Angst. Sie hatte das Gefühl, dass Peer diesmal kein Auge zudrücken würde. Sie wusste zwar nicht, was sie tun sollte, aber sie wusste, dass sie etwas tun musste. Und zwar schnell.

Julia entschied sich dafür, die Wahrheit zu sagen und erzählte Peer in aller Ausführlichkeit, was passiert war. Peer hörte geduldig zu. Er war zwar sauer, aber er war kein unfairer Mensch. Er ließ Julia ihre Version der Geschichte vortragen und würde erst dann eine Entscheidung fällen, wenn er beide Seiten angehört hatte. Katarina's Version kannte er bereits und obwohl er sich gut vorstellen konnte, dass Julia sich wieder einmal zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte, fand er es doch befremdlich, solche Dinge über sie zu hören.

„Und du hast ganz sicher nichts gesagt, was ihn hätte umstimmen können? Irgendwas, das mit unserem Deal zu tun hat?“, fragte er argwöhnisch. So leicht wollte er sie dann doch nicht davonkommen lassen.

Julia war heilfroh, dass Peer ihr eine Chance gegeben hatte, alles zu erklären. Mehr noch: sie war dankbar, dass sie ihren Job behalten durfte. Wenn es stimmte, was Peer bezüglich des Geldes gesagt hatte, dann war es eine Ehre, dass sie von Peer nicht achtkantig rausgeworfen wurde. Sie dachte, dass er zwar ein komischer Kauz, dafür aber auch ein toller Chef sei. „Nein, ich habe nichts dergleichen gesagt. Als ich gemerkt habe, dass er mehr von mir wissen will als meine Werbestrategie, habe ich deutlich gemacht, dass das nicht geht. Er hat mich förmlich angebettelt, mit ihm in die Kiste zu steigen,“ versicherte ihm Julia.

Dass sie am liebsten mit ihm im Hotel um die Ecke verschwunden wäre, verschwieg sie. Julia fühlte sich leicht verwegen, konzentrierte sich jedoch weiterhin auf das aktuelle Problem. Sie erzählte von dem Erlebnis mit Annabelle, was Peer mit einem leisen „Eieiei“ kommentierte. „So etwas habe ich mir fast gedacht, als Katarina heute angerufen hat. Die Frau steht doch tatsächlich noch früher auf als ich, kannst du dir das vorstellen?“

Peer war bereits in flachere Gewässer gepaddelt und Julia spürte, dass sie aus der Gefahrenzone heraus war. Er fuhr fort: „Es ist nun enorm wichtig, dass wir einen kühlen Kopf bewahren. Vor allem du, denn wenn ich 1 und 1 richtig zusammenrechne, dürftest du einen ziemlichen Kater haben, sehe ich das richtig?“ Peer lachte und bevor er sie zurück ins Bett schickte, damit sie sich von den Strapazen des vorigen Abends erholen konnte, fügte er hinzu, dass er die Situation mit Katarina's Hilfe vermutlich wieder unter Kontrolle bringen könne.

Offenbar war so etwas schon mehrmals vorgekommen, das hatte sich Peer von einer genervten Katarina erzählen lassen. Julia war mehr als erleichtert.

Als Peer sich verabschiedet hatte, legte sie das Handy auf den Tisch und widmete sich wieder ihrem Kaffee. Sie dachte scharf nach. Peer hatte ihr erklärt, dass Katarina in Alexej's Unternehmen die Rolle des sogenannten Syndikus einnahm. Eine Anwältin, die sich ausschließlich mit den Problemen innerhalb der Softlift GmbH herumschlagen musste. Auch kein toller Job, dachte Julia. Noch dazu mit einem so launischen Ex-Mann an Bord. Julia verzog unwillkürlich das Gesicht. Dieser Mann hatte wirklich Nerven.

Wieso brachte er Julia in so eine beschissene Situation? War er sich überhaupt darüber bewusst, dass er beinahe ihre Karriere zerstört hatte? Julia kam zu dem Schluss, dass er vermutlich nicht realisierte, was er angerichtet hatte, weil er sich um seinen Job keine Sorgen machen müsste. Er musste in seinem ganzen Leben keinen Finger mehr rühren; er war reich und sein Vermögen reichte vermutlich aus, um eine zehnköpfige Familie nicht nur bis an ihr Lebensende zu ernähren, sondern auch mit jeglichem Luxus zu versehen, den man sich denken kann.

Was Julia jedoch noch schlimmer fand, war seine offensichtliche Gleichgültigkeit ihren Gefühlen als Frau gegenüber. Sie hatte sich tatsächlich wie ein Flittchen gefühlt und musste schlagartig an Annabelle denken, die ihr eben diesen unschönen Kosenamen verpasst hatte. „Habe ich mir das denn alles bloß eingebildet?“, fragte sie sich verwirrt. Noch vor wenigen Stunden hatte sie geglaubt, dass da mehr gewesen war als bloß ein Geschäftsessen. Es war definitiv mehr als das, bestätigte sie sich selbst. Dieser wunderbare Kuss, diese Augen, dieser herbe Duft. Das wollte sie nicht einfach wegwischen.

Julia beschloss, Deniz anzurufen. „Danke für die Warnung vorhin.“ Deniz antwortete nicht sofort, denn er wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte: „Naja, du weißt aber schon, dass diese Geschichte noch nicht vorüber ist? Peer telefoniert gerade scheinbar wieder mit Katarina. Weißt du was? Ich glaube, er steht auf sie. Immer wenn die Sprache auf sie kommt, wird er total nervös. Tja, was seine Frau nicht weiß, macht sie nicht heiß, nicht wahr? - Julia?“, setzte er hinzu, als sie ihm nicht antwortete.

Sie überlegte, ob sie Deniz mitteilen sollte, dass Peers Nervosität vermutlich weniger mit Katarinas aristokratischen Zügen als vielmehr mit den vier Millionen Euro zu tun hatte, die sie in den Sand gesetzt hatte. Sie sagte einfach nichts dazu und lenkte das Gespräch in andere Bahnen. „Hör mal, Deniz, was hältst du von dieser Annabelle?“ „Nichts. Du weißt doch, dass mich große Oberweiten nicht interessieren. Schon vergessen? Ich bin der schwule Designer, den in der Türkei niemand haben wollte.“

Oje, warum muss er sich bloß immer wieder in Selbstmitleid suhlen, dachte Julia und antwortete kryptisch: „Das habe ich nicht vergessen. Ich meinte nicht, ob du sie attraktiv findest, sondern was du von ihr als Mensch hältst. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass sie verrückt ist.“

Deniz war ein wenig beleidigt, weil sie seinen Schrei nach Aufmerksamkeit so dreist übergangen hatte, allerdings war er auch froh, dass Julia (sein geheimes Idol in der FemediaX GmbH) endlich mal ein paar persönlichere Worte mit ihm wechselte. „Mir ist bloß aufgefallen, dass sie dich nicht zu mögen scheint. Als du gestern nicht pünktlich gekommen bist, hat sie sofort die Augen verdreht und sich bemüht, dich vor Alexej durch den Kakao zu ziehen. Katarina hat ihr jedoch den Mund verboten. Ich habe das nicht so richtig mitbekommen, weil ich noch an unserer, sorry, deiner Präsentation herumgebastelt hatte.“

Ja, das machte Sinn. Die Frau war wirklich verrückt. Und sie hatte offensichtlich Julia dazu auserkoren, ihr immer wieder aufs Neue zu beweisen, dass sie nicht nur verrückt, sondern sogar gefährlich war. Julia erzählte Deniz, der Klatsch tatsächlich liebte, in allen Einzelheiten vom desaströsen Abend in der Cocktailbar und verabschiedete sich schließlich, nachdem sie ihn überraschenderweise nach seinen Fortschritten bei seiner privaten Facebook-Ermittlung gefragt hatte. Deniz konnte ihr jedoch nichts Neues dazu mitteilen – Julia ließ sich nicht anmerken, dass sie erleichtert war. Sie hatte nun wirklich genügend eigene Probleme, um die sie sich kümmern musste.

Sie dachte nach: „Erstens, wie soll ich die Sache mit Alexej regeln? Und zweitens, was mache ich mit Annabelle?“ Julia malte sich düster aus, wie sie Annabelle betrunken machte und in ein Taxi nach Nirgendwo steckte – aber so etwas funktionierte nicht einmal in schlechten B-Movies, also lenkte sie ihre Gedanken wieder auf realistischere Bahnen.

Ihr Kater hatte sich eine Stunde später bereits verflüchtigt. Die versifften Schuhe hielt Julia gerade abschätzend in der Hand, wohl wissend, dass sie sie in diesem Zustand ohnehin nie wieder in der Öffentlichkeit tragen würde, als zum dritten Mal an diesem Morgen ihr Handy klingelte. Sie war zwar eine typische Frau, wie sie sich vor einigen Jahren in ihrer ersten psychologischen Sitzung unter Tränen hatte eingestehen müssen, aber eine Eigenschaft teilte sie nicht mit der weiblichen Welt: sie telefonierte nicht besonders gerne, vor allem nicht dann, wenn sie gerade dabei war, ihre frisch eingetragenen 1000-Euro-Schuhe in den verfrühten Ruhestand zu schicken.

„Ja?“, blaffte sie entnervt in ihr Handy. „Hallo? Wer ist da?“, fragte sie, als niemand antwortete. Sie wollte gerade wieder auflegen, als eine leise Stimme folgende unheilvolle Worte aussprach: „Du wirst in Zukunft die Finger von ihm lassen, ist das klar?“ Julia erkannte die Stimme zwar nicht, aber es konnte ja nur Annabelle sein. „Jetzt hör mal gut zu, du blöde Kuh. Du hast mir gar nichts zu befehlen. Wenn du mich nochmal in eine solche Situation bringst, werde ich die Polizei einschalten. Du hast ja nicht mehr alle Tassen im Schrank.“

Annabelle kicherte bloß und setzte unbarmherzig nach: „Du wirst ihm ohnehin nicht genügen. Ich habe es in deinen Augen gesehen. Keine Frau und auch keine Julia dieser Welt hält ihm auf Dauer stand.“ Was faselt die ja, dachte Julia. In dem Moment, als ihr eine passende Antwort eingefallen war, hörte sie ein Klicken und das Gespräch war beendet.

Langsam machte sich Julia wirklich Sorgen. Sie hatte jedoch keine Beweise, weder die Belegschaft im Shepheard, der Bar der Verdammnis, wie Julia den Edelschuppen mittlerweile nannte, hatte mitbekommen, was im Bad wirklich passiert war, noch Alexej, der seine Zeit damit verschwendet hatte, sich einen vierten Mai Thai zu bestellen. Sie hatte nichts gegen Annabelle in der Hand und sie ahnte, dass das noch zum Problem werden könnte.

Nachdem sie den Vormittag und größere Teile des Nachmittags mit Fernsehen verbracht hatte, um sich von ihrer unmöglichen Lebenssituation abzulenken, rief sie ihre beste Freundin an. Bei ihr machte sie immer wieder gerne eine Ausnahme, was ihre Handy-Unlust anging.

„Hey, Julia. Wie war das Meeting gestern? Ich wollte eigentlich noch anrufen, aber ich hab's irgendwie verschwitzt.“ Verena war ein Schatz, sie war im sechsten Monat schwanger und nahm sich dennoch immer Zeit, wenn Julia eine starke Schulter brauchte, um sich anzulehnen oder sogar auszuheulen.

„Frag' bloß nicht. Es war der reinste Alptraum. Um ein Haar hättest du mich nicht mehr erreichen können, denn ich habe heute fast meinen Job verloren und wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich mich auf jeden Fall erhängt“, platzte Julia erleichtert heraus. Endlich konnte sie wieder sie selbst sein.

„Moment, ich roll kurz in die Küche“, meinte Verena in Anspielung auf ihren aktuellen Bauchumfang. „So, jetzt geht’s. Matthias guckt mit ein paar Kumpels Fußball, da stören meine Frauengeschichten wahrscheinlich nur. Allerdings weiß ich auch nicht, was die an dem kleinen Ball so spannend finden. Matthias hat mir letztens von einem neuen Fernseher vorgeschwärmt. Der hat eine HD-Auflösung oder so etwas in der Art. Also ich brauche das nicht, du? - Oh, entschuldige, du wolltest mir ja etwas erzählen“, fügte sie hinzu, als sie merkte, dass sie wieder einmal zu weit ausgeholt hatte. Julia machte das nichts aus, sie war wirklich froh, endlich eine freundliche Stimme am Telefon zu hören. Eine, die keine Drohungen aussprach.

Julia erzählte ihr von den Geschehnissen, Verena unterbrach sie mit diversen Ausrufen wie „Oh, Gott“ oder „Echt wahr? Ach du Scheiße“ oder „Du musst zur Polizei gehen“. Verena lud Julia kurzerhand zu sich nach Hause ein, denn sie spürte, dass es noch einiges zu bereden gab. Wichtigere Dinge, die man besser unter vier Augen bespricht. „Ja, Julia, das geht in Ordnung. Matthias und seine Kumpels wollten noch um die Häuser ziehen. Verrückt oder? Mitten in der Woche saufen zu gehen?”