Kapitel 8 – Chancen
Die vermutlich verrückteste Woche, die Julia je erlebt hatte, neigte sich endlich dem Ende zu. Sie freute sich darauf, am Wochenende auszuspannen, vielleicht ein gutes Buch zu lesen oder endlich noch einmal einen langen Spaziergang zu machen. Vielleicht würde sie auch etwas mit Verena unternehmen, dachte sie, als jemand an ihrer Bürotür klopfte.
„Ja-ha!“, rief Julia vergnügt. Sie war seit ihrem Intermezzo mit Balu um einiges lockerer geworden und hatte ihre peinlichen Fehler und Peers harsche Kritik vom Beginn der Woche einigermaßen gut überwunden.
Deniz huschte herein. Er sah gehetzt aus. Wie üblich kam er nicht sofort zur Sache: „Wegen der Auto-Kampagne. Ich habe gerade mit den Copywritern gesprochen, aber die wissen wieder von nichts. Die Deadline für unseren ersten Entwurf ist nächste Woche Montag. Was soll ich denn jetzt machen? Die Pfeifen sollen mir endlich ihre Texte geben“, fluchte er leise.
„Für das Projekt bin ich – zum Glück! - nicht verantwortlich. Da musst du mit Peer sprechen.“ Julia grinste, denn sie wusste, dass es Deniz stets Überwindung kostete, mit Peer zu reden. Er fürchtete, dass er für sein Schwulsein verachtet wurde. Peer war allerdings professionell genug, um darüber hinwegzusehen. Er schätzte Deniz' hervorragende Arbeit sehr, jedoch hielt er sich mit Lob meist sehr zurück, was nicht bloß Deniz verunsicherte.
Er hatte es sich bereits auf Julias Schreibtischkante bequem gemacht und schlug die Beine übereinander. Julia dachte, dass er selbst für einen Homosexuellen extrem weiblich wirkte, wenn er sich aufregte.
Sie war von sich selbst überrascht, denn ihre gute Laune brachte sie dazu, dass sie sich freiwillig nach seinem Privatleben erkundigte. Ihr war nämlich klar, dass Deniz sein kleines Problemchen bloß als Vorwand genutzt hatte, um ein Schwätzchen zu halten.
„Wie laufen deine Ermittlungen?“, fragte sie.
„Na ja. Ich glaube, Georg geht wirklich fremd. Aber beweisen kann ich es nicht“, meinte Deniz enttäuscht. „Hattest du nicht gesagt, dass ihr euch schon vor Wochen getrennt habt?“, fragte Julia.
„Doch, schon“, murmelte Deniz und Julia erwiderte tapfer: „Ich glaube, es wäre am besten für dich, wenn du ihn einfach gehen lässt. Falls er wirklich zweigleisig fährt, wird er dich ohnehin nur verletzen, meinst du nicht?“
Deniz wusste, dass sie richtig lag, aber er konnte sich einfach nicht helfen. „Vielleicht ist das ja bloß eine Phase“, belog sich Deniz selbst. Julia grübelte nach einer passenden Antwort, erkannte jedoch, dass bei Deniz Hopfen und Malz verloren war. Er würde das Windei nicht einmal dann in die Wüste schicken, wenn er ihn in flagranti mit einem anderen erwischt hätte.
Sie schwiegen und Julia bereute nun, dass sie sich auf diese persönliche Ebene mit Deniz eingelassen hatte. Sie suchte fieberhaft nach einer Ausrede, um den Trauerkloß wieder loszuwerden.
Julia horchte erleichtert auf, als es zum zweiten Mal klopfte und ein schüchterner Bote die Tür öffnete. Julia bekam zwar manchmal Post ins Büro, aber einen Blumenstrauß war bisher erst einmal dagewesen. Glücklicherweise verstand Deniz, dass er nun unerwünscht war und trollte sich nach einem allzu dramatischen Abgang. Er seufzte gut hörbar und meinte: „Alle Welt ist glücklich verliebt und ich bekomme bloß die Arschlöcher ab.“
Julia schüttelte den Kopf, als er und der Bote ihr Büro wieder verließen und widmete sich ihrem Blumenstrauß. Es waren keine Rosen, stellte sie beim Entfernen des Papiers fest – es waren wunderschöne, violette Lilien. Julia bemerkte, dass sie offenbar Rosen erwartet hatte und fand das für einen Moment lang ziemlich erbärmlich.
Sie suchte nach der obligatorischen Karte und fand sie in einem separaten Umschlag an der Außenseite des Papiers, das eindeutig von einem Vollprofi um die kunstvoll zusammengesteckten Blumen gelegt worden war.
In einem Regal stand zufällig noch die verstaubte Vase, die sie im letzten Jahr gebraucht hatte, als ihr damaliger fester Freund Thomas ihr ebenfalls Blumen auf die Arbeit geschickt hatte. Damals waren es tatsächlich Rosen gewesen.
Als die Blumen sicher verstaut waren, setzte Julia sich wieder hin und nahm den Zettel aus dem Briefumschlag.
Liebe Julia,
Katarina hat mir gehörig den Kopf gewaschen und mir klargemacht, dass wir uns nochmal treffen sollten. Ohne Vorurteile und ohne Erwartungen.
Wie wäre es mit einem zweiten „Meeting“ am Samstag? Du kannst dich spontan entscheiden, ich werde jedenfalls brav ab 18:00 Uhr in der Hotelbar vom Excelsior auf dich warten. Alexej
Julia war überrascht, so bald von der Gromow-Familie zu hören. Und dass der Chef sich persönlich meldete (es war eindeutig eine Männerhandschrift), war ein gutes Zeichen, obwohl sie gravierende Schwierigkeiten hatte, seine Sauklaue zu entziffern.
Sie wusste dennoch nicht, was sie davon halten sollte und beschloss, Peer erst später mitzuteilen, dass die Friedensverhandlungen, wie er es nannte, scheinbar wieder aufgenommen wurden.
Außerdem konnte sie nicht einordnen, ob sich Alexej wegen ihr oder wegen dem Deal gemeldet hatte. „Wenn er Katarina erwähnt, wird es wohl eher ums Geschäftliche gehen. Andererseits ist die Nachricht doch recht persönlich und warum hat er das Wort 'Meeting' in Anführungszeichen gesetzt?“, fragte sich Julia beklommen. Sie fürchtete, dass es sich hierbei um ein weiteres Spiel handeln könnte und sie wusste mittlerweile, dass sie bei dieser Art Spielen fast immer auf der Verliererseite stand.
Sie widmete sich vorerst ihrer Schreibtischarbeit, um weiter darüber nachzudenken. Während sie die von Deniz ausgearbeiteten Grafikkonzepte für ein anderes Werbeprojekt sichtete, meldete sich ihr Email-Programm mit einem dezenten Piepser.
Nach einem Blick auf ihre Armbanduhr – es war rasend schnell Mittag geworden – öffnete sie die Email und beschloss, danach in die Pause zu gehen.
Julia war nicht auf das gefasst, was sie in der Mail erwartete und nachdem sie den Inhalt der kurzen Nachricht geschluckt hatte, knallte sie den Deckel ihres Laptops angewidert zu.
„Diese arrogante Schlampe.“
Sie schnappte sich ihren Mantel und rauschte aus dem Büro, um frische Luft zu schnappen.
Julia ging zu ihrem Lieblingskiosk und besorgte sich wie üblich einen Kaffee. Das Wetter war bescheiden und die Straßen trotz eifriger Räumungsarbeiter, die hier und da Schnee schippten und Streusalz verteilten, immer noch glatt und voller Schneematsch. Immer wieder kam erst Schnee herunter, dann wieder Nieselregen. Ein typischer deutscher Winter, hatte Deniz am Vortag gemeint. Es stimmte.
Julia trottete vorsichtig am Neumarkt entlang und dachte über die Email nach. Wie hatte sie es formuliert?
„Das nächste Mal wirst du Lilien bekommen, wenn er dein Grab besucht. - A.“
Spionierte ihr diese Wahnsinnige mittlerweile hinterher? Vermutlich hatte Alexej sie damit beauftragt, die Blumen zu besorgen und ihr zukommen zu lassen, dachte Julia alarmiert.
Langsam fand sie das alles nicht mehr besonders komisch. War die Mail eine ernstzunehmende Drohung oder wollte sie ihr wieder einmal nur Angst machen?
Warum machte sie sich die Mühe, bloß mit ihrer Initiale zu unterschreiben? A wie Annabelle. „Naja, eher A wie Arschloch“, dachte Julia zornig.
Diese Frau schaffte es doch tatsächlich, ihr immer wieder aufs Neue die Laune zu vermiesen. Aber in diesem speziellen Fall erleichterte ihr die Drohung eine wichtige Entscheidung. Sie würde am nächsten Abend auf jeden Fall in die Hotelbar gehen und sie würde dem Spuk ein für alle Mal ein Ende bereiten.
Ohne es zu merken war sie in die Fußgängerzone eingebogen und stand nun vor einer der wenigen im Schneematsch übriggebliebenen Auslagen. Es handelte sich um ein Haushaltswarengeschäft und Julia beäugte offenbar seit einiger Zeit die sechsteilige Messerkollektion, die als reduziert ausgezeichnet war. Als sie aus ihrem kleinen Tagtraum erwachte, spürte sie einen stechenden Blick und realisierte, dass eine der Verkäuferinnen sie argwöhnisch beobachtete, so als ob Julia gleich durchdrehen und mit einem der Messer Amok laufen würde.
Sie ging weiter und wunderte sich über ihr Unterbewusstsein, dass eindeutig eine schnelle, einfache und im Zweifel blutige Lösung ihres Problems mit Annabelle suchte.
Sie hätte auch einfach zur Polizei gehen können, aber sie hatte in Wirklichkeit immer noch nichts gegen Annabelle in der Hand. Sie kannte sich mit Computern zwar nicht sonderlich gut aus, war aber doch gut genug informiert, um zu wissen, dass man den Absender einer Email ganz einfach fälschen konnte.
Genau diese Vorgehensweise hatte sie nämlich vor einigen Monaten brennend interessiert, als sie in einem Anflug von Eifersucht herausfinden wollte, wie ihr damaliger Freund auf Emails von fremden Frauen reagieren würde. Es gab keine fremden Frauen, also erfand Julia welche, um Thomas' Grenzen auszutesten. Sie war damals kläglich gescheitert. Thomas hatte nicht ein einziges Mal angebissen.
Eben dieses Verhalten hatte schließlich dazu geführt, dass sie einen Psychologen aufsuchte – aber das war eine andere Geschichte und Julia war nicht danach, sich noch länger in nostalgischen Traumwelten zu verstecken.
Sie wendete sich an ihre beste Freundin, um ihr von ihrem Plan zu erzählen. Nicht, um Bestätigung zu suchen, sondern um Stärke zu zeigen.
„Hey! Du hast dich am Mittwoch ja gar nicht mehr gemeldet. Uuund, wie war es bei Balu? Konntest du dich entspannen?“, fragte Verena fröhlich, denn sie hoffte auf gute Neuigkeiten. Man konnte hören, dass sie breit grinste, als sie auf Julias Abenteuer mit Balu anspielte.
Julia antwortete nicht direkt, sondern balancierte erst einmal den Kaffee, das Handy und ihren eigenen, bereits ein wenig steif gefrorenen Körper über eine besonders große Pfütze und brachte sich unter einem der großen Schirme vor einem Billig-Schuhgeschäft in Sicherheit.
„Ja, ich war da. Ja, wir hatten Sex. Ja, es war gut. Ja, ich bin entspannt.“ Julia hakte Verenas erste Frage und die vermutlich folgenden Fragen schnell ab, um zum Thema zu kommen. „Hör mal, deshalb rufe ich gar nicht an.“
„Ach nein? Ist etwas passiert?“ Verena klang ein wenig enttäuscht.
„Nein, nicht wirklich“, aber Julia verbesserte sich sofort. „Naja, schon. Irgendwie. Ich kann es noch nicht richtig einordnen. Alexej hat mir Blumen ins Büro geschickt“, platzte sie schließlich heraus. Als sie es aussprach, wurde ihr ein wenig wärmer und die gute Laune kehrte langsam wieder zurück.
„Ja, das ist doch klasse!“ Verena war begeistert, obwohl sie erst vor ein paar Tagen dazu geraten hatte, den verrückten Russen in den Wind zu schießen.
„Das weiß ich eben noch nicht. Wer weiß, was der im Sinn hat. Es scheint jedoch ums Geschäft zu gehen. Immerhin hat er in seiner Blumennachricht seine Ex erwähnt. Katarina, also Frau Gromow, kümmert sich ja um die rechtlichen Angelegenheiten in seiner Firma. Vermutlich geht es nur um den Werbedeal.“
„Und, gehst du hin?“, fragte Verena gespannt.
„Ja, klar“, meinte Julia. Sie spürte ihr ursprüngliches Selbstbewusstsein zurückkehren.
„Allerdings weiß ich absolut nicht, was ich anziehen soll. Wir treffen uns – halt dich fest! - wieder in einer Bar. Diesmal im Excelsior.“
Verena stöhnte leise und Julia ahnte, dass sie ein wenig neidisch war.
„Ach komm, du darfst doch ohnehin keinen Alkohol trinken“, sagte Julia aufmunternd.
„Alkohol? Die Bar interessiert mich nicht, aber wenn ich mir vorstelle, was für tolle Betten die wohl haben... Du musst unbedingt aufhören, mir ständig von deinen frivolen Abenteuern zu erzählen!“ Verenas Stimme klang nicht streng und Julia wurde selbst ein wenig albern.
„Wie bitte? Du hast mich doch dazu gedrängt, auf Balus Schoß zu hüpfen!“
Sie unterhielten sich noch solange, bis Verena meinte, dass sie auflegen müsse, weil Matthias nach Hause gekommen wäre. „Du musst mir aber unbedingt erzählen, wie es gelaufen ist. Und diesmal rufst du auch wirklich an!“, fügte sie streng hinzu.
Julia ahnte bereits, dass sie ihre Mittagspause längst überzogen hatte. Es konnte also nicht wirklich schaden, wenn sie sich auf dem Weg zurück ins Büro noch einen Kaffee besorgte. Einen, der nicht nach der verkalkten Wasserleitung im Büro schmeckte.
Die drei oder vier Minuten, die sie benötigte, um sicher vom Neumarkt zur FemediaX GmbH zu gelangen, verbrachte sie grübelnd.
Sie war Balu extrem dankbar. Er hatte ihr die Augen geöffnet. Obwohl sie in letzter Zeit überhaupt keine Lust auf irgendeine Art von Beziehung gehabt hatte, war ihr plötzlich nicht mehr nach einer winterlichen Betthüpfer-Olympiade. Sie wollte mehr als das. Und dafür musste sie ihre Komfortzone verlassen, wie Balu richtig erkannt hatte.
Hinzu kam ein stimulierendes Gefühl von Ehrgeiz, das in ihr aufkeimte. Sie wollte nicht bloß ihren inneren Schweinehund besiegen. Sie wollte außerdem endlich den Auftrag an Land ziehen.
Das Intermezzo mit Balu hatte sie reifer gemacht, vielleicht sogar erwachsener. Mit Sicherheit jedoch war sie an sich selbst gewachsen. Julia fühlte sich gut und schaute dem nächsten Tag mit einem guten Gefühl entgegen. Annabelle hatte sie bereits wieder verdrängt.
Sie würde das Kind schon schaukeln, dachte sie, als sie den Aufzug zum Büro bestieg und sich im Spiegel des blitzblanken Lifts begutachtete. Sie fühlte sich sogar größer, obwohl sie wusste, dass sie sich das bloß einbildete.
Ja, sie würde das Kind schon schaukeln.