Kapitel 18 – Endstation Unterwäsche

Julia warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Fast halb zwölf. Sie schaute auf das Chaos auf ihrem Schreibtisch und überlegte, dass es sich vor der Pause nicht mehr lohnen würde, mit dem Papierkram weiterzumachen.

Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und schnellte gleich wieder nach vorn. Sie hatte zum gefühlten zehnten Mal vergessen, dass eine eitrige Brandwunde an ihrem Bauch prangte, die sich immer dann meldete, wenn Julia ihre Haut zu sehr streckte. Bequemes Sitzen war so gut wie unmöglich, also stand sie vorsichtig auf und ging zum Fenster.

Es schneite, aber der Schnee blieb nicht lange liegen. Es war nicht kalt genug. Übrig blieb ein gräulicher Matsch und Julia konnte sogar aus ihrem Büro im fünfzehnten Stock erkennen, dass nicht wenige der Menschen auf den Straßen Schwierigkeiten hatten, sicher und vor allem trockenen Fußes von A nach B zu kommen.

Julia dachte an ihren Spontankauf vom Vortag und lächelte dem durchsichtigen Spiegelbild im Fenster vor ihr zu. Sie war Verena immer noch dankbar, denn ohne sie hätte sie den Sonntag wahrscheinlich wirklich heulend im Bett verbracht. Sie hatte zwar trotzdem geheult, aber wenigstens war sie nicht allein gewesen.

Sie musste sich dazu zwingen, über etwas anderes nachzudenken, denn das Thema „Alexej“ regte sie zu sehr auf. Es war fast unerträglich, dass sie nicht wusste, ob sie auf den mysteriösen Russen wütend sein konnte oder nicht. Sie hätte gerne Gewissheit gehabt, um wenigstens irgendjemanden hemmungslos hassen zu können.

Aber ihre Vernunft hielt sie davon ab, sich in Rachefantasien zu verlieren. Sie wollte erst sicher sein, ob tatsächlich Alexej für das Brandmal verantwortlich war oder nicht. Danach könnte sie ihm immer noch die Hölle heiß machen, dachte Julia eigensinnig.

Es klopfte und als Julia aus ihrem Tagtraum aufschreckte und den Kopf ruckartig zur Tür drehte, durchfuhr sie abermals der höllische Schmerz ihrer hässlichen Wunde.

„Ja! Herein!“, rief sie ungeduldig und bemühte sich erneut, den Schmerz zu ignorieren.

„Hey! Ich wollte nur kurz nachfragen, ob dir die neuen Entwürfe so weit gefallen. Ich -“, begann Deniz, der den leidenden Ausdruck in Julias Gesicht gar nicht bemerkte, verträumt.

Julia unterbrach ihn: „Schön, dass du da bist. Ich habe es nicht eilig. Setz' dich, wenn du magst, dann gehen wir die Plakate zusammen nochmal durch!“

Deniz hatte alles erwartet, aber nicht das. Er war es gewohnt, dass Julia ihn stets so schnell wie möglich abwimmelte. Er lehnte sich argwöhnisch an Julias Schreibtisch und wartete ab.

Julia ging zurück zu ihrem Schreibtisch und nahm eines der Plakate hervor, die Deniz ihr im Kleinformat ausgedruckt hatte. „Das hier finde ich genial!“, sagte sie uns zeigte auf die Illustration. Es handelte sich um eine Abwandlung des Motivs, dass Sarah ihnen einige Tage zuvor empfohlen hatte.

Deniz nickte und meinte: „Ich ebenfalls. Zuerst dachte ich, dass es bescheuert wäre, Sarah quasi unsere Arbeit machen zu lassen, aber beim genaueren Hinsehen ist mir aufgefallen, wie perfekt das alles passt. Jetzt müssen wir nur noch Peer davon überzeugen.“

Eine Millisekunde später flog Julias Bürotür mit Karacho auf und Peer stürzte herein.

Deniz rief: „Wenn man vom Teufel spricht!“

„Raus. Sofort“, antwortete Peer kalt und schaute Deniz dabei nicht einmal an.

Deniz guckte alarmiert zu Julia herüber. Sie bedeutete ihm mit ihrem Blick, dass er schleunigst verschwinden sollte, wenn ihm sein Job am Herzen hing. Er verstand und schloss die Tür hinter sich.

Peer glotzte Julia bloß an und atmete schwer. Er sagte jedoch nichts. Julia hatte das Gefühl, dass er seine Worte sorgsam wählte.

Schließlich begann er mit vor Wut zitternder Stimme zu sprechen: „Julia, ich weiß nicht, was du diesmal angestellt hast, aber du bist mittlerweile zu einem Risiko für unser Unternehmen geworden. Katarina Gromow hat uns vor fünf Minuten den Auftrag entzogen. Vier Millionen Euro.“

Der letzte Satz wirkte verzweifelt. Als ob die Zukunft der Firma von diesem Deal abhing, dachte Julia.

Sie wollte ihm antworten, wollte fragen, was passiert sei, wollte wissen, warum er ihr die Schuld an diesem Fiasko gab – aber Peer schüttelte langsam den Kopf und schaute zu Boden.

Er mied Julias Blick und meinte mit Grabesstimme: „Ich glaube, dass ich dich überschätzt habe. Du bist noch lange nicht reif für deinen Posten als Juniorchefin. Du bist zu egozentrisch.“

Julia dachte, sie hätte sich verhört. „Wie bitte? Weißt du eigentlich, was ich in dieses Projekt investiert habe? Wie viel Zeit? Wie viele Tränen? Das habe ich nicht für mich gemacht, sondern für uns, für die Firma.“ Sie war zutiefst beleidigt. Ihr Privatleben war ein Scherbenhaufen und ihre Karriere war bisher das einzige Licht am Ende des Tunnels gewesen. Nun wollte Peer es offenbar ausknipsen und sie im Dunkeln lassen.

„Julia, ich weiß zu schätzen, dass du dich bemüht hast, aber -“, begann Peer, aber er wurde unterbrochen.

„Bemüht? BEMÜHT? Ich habe mir den Arsch aufgerissen, damit wir den beschissenen Auftrag bekommen. Du weißt doch überhaupt nicht, wovon du da sprichst. Wenn du nicht gerade in deinem Sessel schläfst, was machst du denn dann? Außer mich und alle anderen im Büro zu kritisieren? Was hast du dazu beigetragen, dass wir den Auftrag bekommen?“, schrie Julia wütend.

Sie hatte sich geschworen, in Peers Gegenwart nie wieder so auszurasten, aber sie hielt dem Druck nicht mehr stand.

Peer schwieg und schaute immer noch zu Boden. Er hatte seine Entscheidung gefällt. Julia spürte, dass zwischen ihnen etwas zerbrochen war. Sie bereute ihre Worte bereits wenige Augenblicke später, aber sie konnte sie nicht zurücknehmen.

„Ich möchte, dass du dir Urlaub nimmst“, sagte Peer und schaute Julia endlich wieder in die Augen. Sie sah Enttäuschung darin und sie schämte sich für ihren übertriebenen Wutausbruch.

„Urlaub? Wir haben doch sowieso über Weihnachten Urlaub. Ich brauche keinen Urlaub, ich -“, sagte Julia, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie verstand plötzlich. Julia fuhr fort: „Du hast mich gerade gefeuert, oder? Du brauchst mich nicht mit Samthandschuhen anfassen, ich kann die Wahrheit vertragen.“

Julia schaute Peer herausfordernd an und hoffte unterbewusst, dass er ihr weitere Munition lieferte, die sie auf ihn abfeuern konnte. Aber Peer schüttelte wieder nur den Kopf, langsam, matt, traurig.

„Spann' dich aus, Julia. Im nächsten Jahr sehen wir weiter. Christian wird deine laufenden Projekte übernehmen, er ist -“

„Christian? Der ist doch erst seit zwei Monaten bei uns. Du kannst ihm doch nicht einfach so meinen Job geben!“, unterbrach Julia ihren Chef. Sie geriet in Panik.

„Im nächsten Jahr sehen wir weiter“, meinte Peer nur und wandte sich zum Gehen.

Als Peer bereits seine Hand auf der Türklinke hatte, machte Julia einen Satz nach vorn, um ihn an der Schulter zu packen. Er drehte sich wieder um und schaute Julia stirnrunzelnd an. Sie wusste gar nicht, was sie eigentlich sagen wollte. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Zeit davon lief. Entweder sie fand sofort die passenden Worte oder sie war ihren Job tatsächlich los.

Nach knapp fünf Jahren in der Werbebranche fiel ihr jedoch nichts Passendes ein. Kein kluger Spruch, kein Zitat, nichts. Gar nichts.

Peer nahm Julias Hand von seiner Schulter und rang sich zu einem dünnen Lächeln durch. Er wiederholte leise die unheilvollen Worte: „Im nächsten Jahr sehen wir weiter.“

Julia rührte sich nicht und schaute die geschlossene Tür an, durch die ihr Ex-Chef vor wenigen Sekunden gegangen war. Ihre Karriere war hinüber, so viel stand fest. Wenn sie es nicht irgendwie schaffte, den Auftrag doch noch an Land zu ziehen, dann würde Christian tatsächlich ihren Job übernehmen.

Was hatte sie denn überhaupt zu bieten, überlegte Julia. Werbefuzzis gab es wie Sand am Meer, dachte sie. Sie selbst hatte damals viel Glück gehabt, als sie ihren Job bei der FemediaX annahm. Sie hatte sich angestrengt, einen Fuß in die Tür zu bekommen, aber in all den Jahren ließ sie das Gefühl nicht los, dass sie ihre Karriere zu einem Großteil der allzu gütigen Fortuna zu verdanken hatte. Das Glück hatte sie verlassen.

Peer war immer ein verkappter Chauvinist gewesen. Er gehörte zur alten Schule. Daran würde sich niemals etwas ändern. Vermutlich hatte er Julia bloß eingestellt, um einen guten Eindruck auf die immer jünger werdenden Kunden und Kundinnen zu machen. Eine Frau in einer Chefposition. Es wirkte modern und Julia erkannte, dass sie womöglich bloß Peers Spielball gewesen war.

Sie konnte es sich nicht erklären, aber ihr allzu hartes Schicksal beruhigte sie. Es war kurios, fand sie.

Sie hatte das Spiel mitgespielt und sie war eigentlich ziemlich gut darin. Aber am Ende hatte sie doch verloren. Sie war zufällig an den falschen Mann geraten. Sie hatte Pech gehabt.

Während Julia einfach nur still da stand, wo Peer sie zurückgelassen hatte, kehrte langsam der pochende Schmerz wieder, der von der Brandwunde ausging.

Mit dem Schmerz kam auch Julias Kampfgeist zurück. Sie wusste, dass sie das Spiel noch herumdrehen konnte. Sie wusste noch nicht, wie sie das anstellen würde, aber sie wusste, dass sie es schaffen konnte.

Sie nahm sich vor, die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen. Ihr alter Leitspruch hallte in ihrem Kopf wider. „Ich werde das Kind schon schaukeln“, sagte sie halblaut und nahm ihren Mantel aus der Garderobe.

In ihrem Büro war die Lösung für ihre Probleme nicht zu finden, wie Julia feststellte. Sie schaute erneut auf die Armbanduhr, die Peer ihr damals geschenkt hatte und ließ ihr Büro hinter sich. Für immer, dachte sie theatralisch.

Auf dem Weg durch die Flure der FemediaX sausten dutzende Bilder, Erinnerungen, gute und schlechte, an ihrem inneren Auge vorbei.

An diesem Kopierer war sie zum ersten Mal mit dem schwulen Deniz ins Gespräch gekommen. Dort, wo mittlerweile Sarah am Empfang saß, hatte eine ältere Dame gesessen, die Julia in einige der wichtigsten Geheimnisse der Firma eingeweiht hatte. Und hinter diesen Türen, dachte Julia, hatte sie ihre erste Rüge von Peer Mendelsohn bekommen. Es war damals ihr erster Arbeitstag gewesen und sie hatte am Abend tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, doch wieder alles hinzuschmeißen. Damals hatte Verena sie davon überzeugt, dass sie die Zähne zusammenbeißen müsste, um in dieser Branche zu bestehen.

Julia erreichte den Lift. Sie nickte der emsig telefonierenden Sarah zu und verschwand im Aufzug, der sie nach unten in die Freiheit bringen würde.

Dritter Stock, zweiter Stock, Erdgeschoss. In Julias Kopf herrschte eine angenehme Stille, wie sie sie bisher nicht gekannt hatte.

Julia wusste nun, was sie zu tun hatte. Sie wusste, wer ihr weiterhelfen konnte. Sie wusste, wem sie vertrauen konnte. Aber zuerst wollte sie mit Verena sprechen und ihr von ihrem Unglückstag erzählen.

Obwohl Julia äußerlich ruhig wirkte, rumorte es tief in ihrem Innern. Sie selbst spürte bloß die zwickende Wunde am Bauch, nicht jedoch die Verzweiflung, die Leere, die sich ihren Weg unbarmherzig nach oben, in ihr vom Schock betäubtes Bewusstsein, bahnte.

Sie nickte auch dem Wachmann vor dem Lift zu und trat hinaus auf Kölns matschige Straßen. Es war Zeit für ihren Kaffee und ihre Beine trugen sie ohne ihr Zutun zu ihrem Lieblings-Kiosk um die Ecke.

Der Kaffee war heißer als sonst und Julia verbrannte sich fast die Zunge, als sie gedankenverloren daran nippen wollte.

Sie steckte den Becher kurzerhand in einen der wenigen intakten Schneehaufen und wartete einen Moment. Sie kramte ihr Handy hervor und stellte überrascht fest, dass Verena sie mindestens zwanzig Mal angeklingelt hatte.

Julia nahm also ihren mittlerweile ausreichend abgekühlten Kaffee in die eine Hand und wählte mit der anderen Verenas Kurzwahlnummer, um der Sache auf den Grund zu gehen.

„Na endlich! Ich versuche schon seit zwei Stunden dich zu erreichen. Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist“, rief Verena aufgeregt.

Julia jedoch ließ das kalt. Sie wollte nichts von Verenas kindischen Eskapaden hören, sie wollte lediglich einen Teil ihrer Last bei ihrer Freundin abladen. Sie wusste, wie egoistisch das war, aber Verena würde es verstehen.

„Verena, ich habe dafür jetzt keinen Kopf, okay?“, erwiderte sie teilnahmslos und schlürfte ihren Kaffee weiter.

Verena ließ sich nicht ausbremsen: „Julia, du musst dir das anhören. Ich habe heute -“

Weiter kam sie jedoch nicht. „Ich wurde gerade gefeuert“, verkündete Julia laut und scheinbar gleichgültig. In ihr brodelte es, aber sie ließ das vernichtende Gefühl nicht an die Oberfläche gelangen. Und sie ließ sich auch nichts anmerken. Jeder Hinweis von außen hätte die Fassade, die Julia mit äußerster mentaler Anstrengung aufrecht erhielt, niederreißen können.

„Wie bitte?“, sagte Verena verdattert. Sie hatte Julia von ihren Erkenntnissen in punkto Annabelle berichten wollen, aber sie hielt es jetzt für besser, wenn sie ihre beste Freundin damit nicht auch noch belastete.

„Jep, Peer hat mich rausgeworfen. Wir haben den Auftrag wieder verloren. Deniz weiß es vermutlich noch gar nicht“, meinte Julia und bog in die richtige Seitenstraße ein. Sie konnte nicht noch länger warten. Das Gefühl, das sie bisher erfolgreich in den Hintergrund gedrängt hatte, bahnte sich seinen Weg in ihr Bewusstsein.

Verena wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie versuchte es mit einem Scherz: „Naja, wenigstens brauchst du dich jetzt nicht mehr mit dem verrückten Russen rumzuärgern!“

Julia lachte nicht. Sie hörte gar nicht richtig hin. Sie schlürfte ihren Kaffee und beschleunigte ihren Schritt. Das letzte Mal, als sie sich so komisch gefühlt hatte, war sie zusammengebrochen. Damals war die Trennung von Thomas der Auslöser gewesen.

„Verena, ich kann jetzt nicht weiterreden. Ich muss noch etwas erledigen, ich rufe dich später an, okay?“

Julia wartete die Antwort nicht ab, sondern drückte Verena einfach weg. Sie atmete noch einmal tief ein und spürte, wie die kalte, klare Luft in ihre Lungen strömte. Dann klingelte sie. Sie drückte den Knopf im Stakkato, bis sich endlich jemand meldete: „Ja? Doktor Gustavsson ist momentan in einer Sitzung. Haben Sie einen Termin?“

„Ja“, log Julia und presste ihre Hand bereits ungeduldig gegen den Türknauf und wartete darauf, dass das altmodische Summen ertönte und das Schloss freigab.

Die Sekunden, die vergingen, bis die Tür sich öffnete, kamen Julia wie eine Ewigkeit vor. Sie eilte die alte Steintreppe hinauf und betrat die Praxis. Auf der Schwelle wurde ihr schwindelig und sie fiel Doktor Gustavsson's Sekretärin geradewegs in die Arme.

Julia hatte das Bewusstsein verloren.