Kapitel 19 – Alter Schwede
Julia blinzelte. Das erste, was sie sah, war der Rücken eines riesigen Mannes. Sie erkannte diese Statur: es war Carl Gustavsson, ihr Psychologe. Julia war kein Dauerpatient, aber der große Typ mit der Glatze und der altmodischen Nickelbrille hatte ihr nach ihrer Beziehung zu Thomas sehr geholfen.
Sie richtete sich benommen auf. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie mit Verena telefoniert hatte. Dann war sie dort auf der Couch in Carl’s Praxis aufgewacht. Die Couch war eher Dekoration denn Werkzeug. Obwohl Carl Gustavsson die Psychoanalyse nach Freud schätzte, war er selbst eher ein Vertreter der klassischen Psychologie, der ursprünglichen Seelenheilkunde.
Doktor Gustavsson drehte sich um und hob milde überrascht die Augenbrauen. In der Hand hielt er eine Tasse Tee. Julia wusste, dass es sich um einen starken Friesentee handelte. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie man freiwillig Tee mit Rum trinken konnte, aber Carl begann fast jede ihrer Sitzungen mit diesem Ritual.
Doktor Gustavsson begrüßte sie. Seine Stimme und seine gesamte Erscheinung waren kalt, aber Julia hatte gelernt, dass diese Fassade nicht die ganze Wahrheit widerspiegelte. In Wirklichkeit war Carl Gustavsson ein hervorragender Zuhörer. „Na, das ging ja schnell“, sagte er und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er fuhr fort: „Ich dachte schon, ich müsste heute Überstunden machen. Was kann ich für Sie tun? Ich nehme an, dass es wichtig ist?“
Julia setzte sich aufrecht hin und strich ihre Haare glatt. Sie schaute auf ihre Uhr und sah, dass sie bloß eine Dreiviertelstunde ohnmächtig gewesen war.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich, ähm, weiß nicht, was mit mir los ist. Was ist denn überhaupt passiert? Ich meine, wie bin ich hierher gekommen?“, fragte Julia. Langsam kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück. Sie hatte leichte Kopfschmerzen und sie fühlte sich sehr müde.
„Tja, das werden wir hoffentlich gleich herausfinden, nicht wahr? Sie sind jedenfalls im Vorraum zusammengebrochen und geradewegs in die Arme meiner Sekretärin gefallen. Ich und mein voriger Patient haben Sie dann hier auf die Couch gelegt. Es war eine interessante Situation, aber ich darf Ihnen leider nichts über das Leiden meines Patienten verraten. Sonst wüssten Sie, was ich meine“, antwortete Doktor Gustavsson und nippte an seinem dampfenden Tee.
Julia schwieg und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie griff nach dem Wasserglas, das neben dem Sofa auf einem kleinen Tisch stand und trank mit gierigen Schlucken. Ja, jetzt erinnerte sie sich, dachte sie. Sie sah das ängstliche Gesicht der Sekretärin vor sich, dann war Stille gewesen.
„Ich habe gespürt, dass es wieder passieren würde. Also bin ich so schnell wie möglich hergekommen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Es tut mir leid, dass -“, begann Julia kleinlaut zu erklären, denn ihr war der Auftritt ziemlich peinlich.
„Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen. Sie glauben gar nicht, wie oft so etwas in meinem Beruf vorkommt“, erwiderte der betagte Psychologe. Julia konnte sich nicht vorstellen, dass anderen Menschen auch so etwas Bescheuertes passieren konnte, aber sie nickte.
Carl Gustavsson fuhr fort: „Obwohl ich Sie leider schon lange nicht mehr in meiner Praxis begrüßen durfte, kann ich mich doch gut an ihr damaliges Problem erinnern. Was denken Sie? Was ist da vorhin passiert?“
Julia runzelte die Stirn. War es nicht seine Aufgabe, das zu wissen und ihr zu erklären?
„Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, glaube ich“, sagte sie unsicher.
„Allerdings“, meinte ihr Gegenüber. Dann schwieg er und fixierte Julia. Sie hatte das Gefühl, dass er sie mit seinem Blick röntgte, aber komischerweise machte ihr das bei diesem Mann überhaupt nichts aus. Im Gegenteil. Es gab ihr ein gutes Gefühl, wenn sie sich mit Doktor Gustavsson unterhalten konnte. Sie vertraute ihm.
Er verurteilte sie nicht für ihr chaotisches Leben. Er hatte sie auch damals nicht verurteilt, obwohl sie stets wusste, dass er persönlich nichts von ihrer Einstellung gegenüber einer Liebesbeziehung hielt. Carl war immer professionell, er trennte seinen Beruf und sein Privatleben rigoros und Julia war ihm dankbar dafür.
Sie erinnerte sich, dass es zu seinen Methoden gehörte, dem Patienten möglichst viel Freiraum zu lassen. Er leitete die Gespräche nicht wirklich, er gab ihnen lediglich den einen oder anderen Schubs in die richtige Richtung.
Er schwieg immer noch und Julia wusste, dass sie sich Zeit lassen durfte. Solange der Mann mit seinem Friesentee beschäftigt war, kannte er keine Eile.
Julia schaute sich in dem vertrauten Raum um. Der altmodische Schreibtisch, hinter dem ihr Psychologe thronte, war perfekt aufgeräumt. Die Bücherregale schienen noch voller geworden zu sein. Lediglich ein Regal enthielt Fachliteratur, die restlichen Regale waren mit Belletristik gefüllt.
Klassische Literatur, alte Gedichtbände, diverse Bibeln, ein Koran - Bücher also, für die Julia sich nie Zeit genommen hatte und von denen sie nicht viel verstand. Schon während des Abiturs hatte sie nicht viel für die Lehrinhalte ihres Deutsch-LKs übrig gehabt.
„So, warum sind Sie hier?“, fragte Carl plötzlich.
„Ich weiß es nicht genau. Wie gesagt wusste ich nicht, wohin ich sonst gehen sollte“, sagte Julia perplex.
„Das mag schon sein, aber ich glaube, dass Sie ein ganz bestimmtes Ziel verfolgen. Ist es nicht so?“, erwiderte Carl und nippte erneut an seinem Tee.
Julia überlegte. Was wollte sie eigentlich? Warum war sie zu ihrem Psychologen gegangen? Was hatte sie hierher getrieben. Sie konnte sich diese Fragen nicht beantworten. Sie hoffte, dass ihr Gegenüber Licht ins Dunkel bringen würde.
Der Mann hinter dem Schreibtisch erhob sich und setzte die Teetasse ab. Er schaute Julia scheinbar missbilligend an. Sie sagte nichts. Sie wartete ab. Sie wünschte sich, dass sich ihre Probleme von allein lösen würden.
„Frau Steinkamp, wenn Sie sich verschließen, dann kommen wir nicht weiter. Sie brauchen mir nicht die Wahrheit zu sagen. Erfinden Sie etwas, wenn es Ihnen hilft. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Erzählen Sie mir von dem, was Sie glauben, dass es passiert ist. Packen Sie ihr Problem an. Benennen Sie es. Konfrontieren Sie es. Mich interessiert die Wahrheit nicht. Sie brauchen mir keine Geheimnisse zu verraten, wenn Sie nicht wollen. Aber seien Sie wenigstens ehrlich zu sich selbst.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Was ist eigentlich aus ihrem damaligen Freund geworden? Ich vermute, Sie haben sich getrennt?“
Carl hatte ein gutes Gedächtnis. Julia war beeindruckt. Entweder hatte der Mann nur sehr wenige Patienten oder er konnte sich wirklich gut merken, was mit seinen Kunden los war.
Julia atmete tief durch und erzählte ihm alles. Sie begann bei der Trennung von Thomas – ihr kam es mittlerweile so vor, als wäre ihre Beziehung vor vielen Jahrzehnten gewesen und nicht erst vor ein paar Monaten.
Sie erzählte von ihrem Karrieresprung, von ihrer inoffiziellen Ernennung zur Juniorchefin. Sie nahm allen Mut zusammen und erzählte auch davon, dass Peer ihr den glamourösen Titel bereits wieder weggenommen hatte. Dass sie im nächsten Jahr vermutlich ohne Job dastehen würde.
Außerdem berichtete Julia in allen Details, wie sie den mysteriösen Russen kennengelernt hatte und dass sie in ihn verliebt war. Sie beschrieb, was in dem unheimlichen Keller passiert war. Sie zeigte ihrem Gegenüber sogar die hässliche Brandwunde. Carl verzog keine Miene. Er ließ sie erzählen. Er schwieg und hörte zu. In unregelmäßigen Abständen nahm er einen Schluck von seinem Friesentee. Er hatte sich wieder gesetzt. Er war in seinem Element.
Julia beendete ihren Monolog mit einer Frage. Sie hoffte inständig, dass Carl sie beantworten konnte.
„Glauben Sie, dass diese Frau zu so etwas fähig wäre?“
Carl stellte seine Tasse endlich ab und legte die Fingerspitzen aneinander. Er schaute Julia über seine kreisrunden Brillengläser hinweg eindringlich an. Schließlich meinte er: „Ich glaube, dass jeder Mensch zu so etwas fähig ist. Wichtig ist nicht, was ich glaube, sondern was Sie glauben. Letztendlich ist sogar das unwichtig. Denn egal wie fest Sie an etwas glauben – ihr Glaube an eine Sache macht die Sache nicht zwingend real. Schauen Sie sich doch um. Überall herrschen Kriege. Es sind Glaubenskriege.“
Julia hätte eine solche Antwort eher vom verträumten Balu erwartet, nicht jedoch vom nüchternen Carl Gustavsson, den sie für einen liebenswerten Langweiler hielt, der seinen Job ein bisschen zu ernst nahm.
Sie wusste nicht, worauf er hinauswollte. Carl sah ihren fragenden Blick, also zupfte er sein Kordsakko zurecht und sprach weiter: „Was ich damit sagen will ist Folgendes. Wenn Sie daran glauben, dass diese Frau zu so etwas fähig ist – wie werden Sie damit umgehen? Wollen Sie abwarten und gegebenenfalls auf ihren nächsten Schritt reagieren? Oder wollen Sie die Kontrolle zurückgewinnen?“
Julia antwortete sofort und mit fester Stimme: „Ich will, dass es aufhört.“
Carl musterte Julia einen Moment lang und schaute dann zur Decke. „Das 'Es' existiert nicht wirklich. Im weitesten Sinne könnte man sagen, dass Sie 'Es' sind“, sagte er und Julia war verwirrt.
„Das verstehe ich nicht“, sagte sie.
Carl hatte offenbar Schwierigkeiten den Blick von der Decke zu lassen, aber schließlich fixierte er wieder Julia.
Er sagte: „Erinnern Sie sich noch an unsere letzte Sitzung?“ Julia erinnerte sich nur zu gut, aber sie verstand immer noch nicht. Carl fuhr fort: „Damals – und es ist wirklich noch nicht lange her – haben Sie mir erzählt, wie langweilig Sie ihr Leben finden. Sie haben sich leer gefühlt. Sie wollten ein Abenteuer erleben. Sie haben sich nach 'Action' gesehnt, nicht wahr?“
Carl deutete Anführungszeichen an, als er das neumodische Wort widerwillig aussprach. Er hatte Julias eigene Worte benutzt. Julia verstand nun.
Sie selbst hatte sich ein Abenteuer gewünscht. Sie erinnerte sich, dass sie damals alles für ein bisschen Action getan hätte. Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen.
„Aber um welchen Preis“, murmelte Julia und Carl hob die Augenbrauen. Er sah, wie die Zahnrädchen in Julias Dickkopf arbeiteten.
Julia sprach weiter: „Aber das alles wollte ich nicht. Ich will diesen Stress nicht. Wenn ein Abenteuer so aussieht, dann will ich keins.“
Carl knüpfte an: „Was genau wollen Sie denn? Sie haben mir erzählt, dass Sie diesen Mann, diesen Alexej, unerhört attraktiv finden. Damals haben Sie mir jedoch erzählt, dass das genau nach ihrem Wunsch wäre. Eine Affäre ohne tiefere Emotionen. Ich glaube, so hatten sie es formuliert. Haben Sie nicht genau das bekommen, was sie wollten?“
„Nein, ich -“, begann Julia, aber die restlichen Worte blieben ihr im Mund stecken. Es gab keine Entschuldigung, keine Ausrede.
Julia realisierte, dass ihre Gefühle für Alexej mehr waren als bloß Schmetterlinge im Bauch. Sie wollte mit ihm zusammen sein. Sie spürte, dass er tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, dass er nichts mit ihrem schmerzenden Brandmal zu tun hatte, dass er selbst nicht wusste, was im Keller passiert war.
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Julia.
Carl gab ein fast unsichtbares Lächeln Preis. Er antwortete jedoch nicht sofort. Er wählte seine Worte so, dass Julia ihn nicht missverstehen konnte: „Das, Frau Steinkamp, müssen Sie selbst wissen. Und ich habe die Vermutung, dass Sie es bereits wissen. Da Sie jedoch seit Monaten – oder vielleicht sogar seit Jahren – geglaubt haben, dass Sie nicht der Typ für eine feste Beziehung sind, für ein geregeltes Leben, für ein stressfreies Leben, werden Sie noch einige Zeit brauchen, um sich an ihren Sinneswandel zu gewöhnen. In erster Linie brauchen Sie dringend Ruhe. Ihr Zusammenbruch ist ein klares Signal. Ihr Körper ist am Ende. Und wenn man überlegt, durch welche Torturen Sie ihn in letzter Zeit geschickt haben, ist das nicht allzu abwegig, nicht wahr?“
Julia wusste, dass er auf ihre Sadomaso-Experimente anspielte und sie wurde rot. Es war ihr nicht wirklich peinlich, denn sie vertraute Carl, aber trotzdem fühlte sie sich nicht ganz wohl dabei, ihre tiefsten Geheimnisse vor einem wildfremden Mann auszuplaudern. Sie überlegte, dass es vermutlich nicht an ihrem Gegenüber lag, sondern daran, dass sie sich vor sich selbst ein wenig schämte.
All die Jahre hatte sie sich eingeredet, dass sie möglichst dreckigen, harten, unverbindlichen Sex wollte. Aber im Verlaufe dieser spontanen Sitzung bei Carl Gustavsson, dem antiquierten Psychologen aus Schweden, wurde ihr bewusst, dass sie nicht anders als all die Prinzessinnen war, die sie in ihrer Pubertät von oben herab ausgelacht hatte.
Auch sie hatte insgeheim die große Liebe finden wollen. Die absurde Beziehung mit Thomas war ein Indiz dafür, dass ihr Unterbewusstsein schon länger den Wunsch nach einer normalen Partnerschaft hegte.
Julia hakte noch einmal nach: „Was würden Sie mir denn in meiner Situation raten?“
„Da Sie jetzt ohnehin keine Beschäftigung haben, sollten Sie endlich Urlaub machen. Buchen Sie einen Flug, nehmen Sie ihre Freundin mit. Oder besuchen Sie Ihre Mutter. Falls ich mich richtig erinnere, haben Sie sich doch dort stets wohl gefühlt, nicht wahr?“, antwortete Carl freundlich.
Julia fand die Idee gut. Sie hatte ihre Mutter ohnehin schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Sie erinnerte sich daran, dass sie Julia sogar für die Weihnachtszeit eingeladen hatte. Irgendwo in dem Chaos auf ihrem Schreibtisch im Büro musste die Postkarte verloren gegangen sein. „Ja, ich glaube, das mache ich“, bestätigte Julia und Carl nickte zufrieden.
Er dachte über seine Patientin nach und hoffte inständig, dass sie sich nicht wieder in ein unfreiwilliges und im Zweifel gefährliches Abenteuer verstricken würde. Aber er sagte nichts dazu. Seine Devise war einfach. Jeder Mensch musste seine eigenen Erfahrungen machen. Auch dann, wenn diese Erfahrungen schmerzhaft waren.
Julia fühlte sich erleichtert. Diesmal jedoch wirklich. Sie redete sich ihre Ruhe nun nicht mehr bloß ein. Das Gespräch mit Doktor Gustavsson hatte ihr tatsächlich etwas gebracht. Sie spürte zwar, dass ihr Körper noch schwächelte, aber sie war nun guter Dinge.
Falls Alexej sie ebenfalls liebte, würde er sich melden, überlegte Julia. Sie hatte sich den Verlauf dieser Beziehung anders vorgestellt. Mit mehr Sex und weniger Tränen. Mit mehr Nähe und weniger Ungewissheit. Aber daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern, dachte sie.
Julia akzeptierte ihr Schicksal, wie sie es nannte. Carl wusste, dass es sich nicht um Schicksal handelte, aber auch das behielt er für sich. Julia musste selbst erfahren, dass sie für ihr sogenanntes Schicksal verantwortlich war. Und sie musste lernen, dass sie es beeinflussen konnte.
Carl war mit sich zufrieden. Er schob fast beiläufig den Ärmel seines Kordsakkos zurück und schaute auf die Uhr. Julia fiel plötzlich ein, dass sie seine Zeit schon viel zu lange beanspruchte. Sie erhob sich schlagartig. Das Blut brauchte zu lange, um in ihren Kopf zu gelangen. Sie taumelte wieder und plumpste zurück auf das Sofa.
Carl ließ einen seiner extrem seltenen Lacher hören: „Warten Sie. Ich glaube, Ihnen würde ein Tee gut tun. Mit Schuss.“
Julia konnte nicht protestieren und ihr fiel auf, dass sie nun schon zum zweiten Mal in dieser Woche mit Alkohol aufgepäppelt wurde.
Wenige Minuten später hielt sie ebenfalls eine Tasse mit frischem Friesentee in den Händen. Sie spürte, wie ihr Kreislauf angekurbelt wurde. Ihr Gesicht hatte längst die ursprüngliche Farbe zurückerlangt, aber durch den Tee wurde ihr auch endlich wieder warm.
Während Julia den Tee trank, dachte sie über ihre verzwickte Situation nach. Die verworrenen Bilder der vergangenen Tage rauschten an ihrem inneren Auge vorbei. Da war Balu, der nackt auf seiner winzigen Couch saß und ihr riet, das Abenteuer zu wagen. Sie hatte es gewagt, aber ihr Vorhaben war gehörig in die Hose gegangen. Balu hatte daran keine Schuld, das wusste Julia.
Sie sah auch Alexej vor sich. Sie versetzte sich in die Situation im Keller zurück. Julia versuchte, sich vorzustellen, wie Alexej sie gesehen hatte, als sie sich nackt und mit verbundenen Augen vor ihm wand. Hilflos. Willenlos. Der Gedanke erregte sie.
Für einen kurzen Moment vergaß sie den biederen Psychologen, der sie neugierig beobachtete. Sie schloss die Augen und durchlebte das Spiel noch einmal. Sie spürte Alexejs harten Schwanz in ihrem Schritt. Julia besann sich und schüttelte das Bild ab.
„Kennen Sie jemanden, der Rasputin heißt?“, fragte sie plötzlich und schaute interessiert zu ihrem Gegenüber hinter dem wuchtigen Schreibtisch.
„Rasputin? Ja, den Namen habe ich schon einmal gehört. So weit ich weiß war das eine äußerst kuriose Figur aus dem vergangenen Jahrhundert. Ich habe vor Jahren mal etwas über ihn gelesen. Wieso fragen Sie?“, erkundigte sich Carl überrascht.
„Ach, einfach so“, log Julia und hakte nach: „Was haben Sie denn über ihn gelesen?“
Carl wertete ihr Interesse an einem scheinbar belanglosen Thema als gutes Zeichen und ging daher weiter darauf ein: „Genau weiß ich es auch nicht mehr. Ich erinnere mich jedenfalls daran, dass der Mann am russischen Zarenhof für Furore gesorgt hat. Er war ein einfacher Bauer, ein Mann aus dem Volk. Er wurde als Riese bezeichnet und soll weit über zwei Meter groß gewesen sein. Allein deswegen war er vermutlich eine eindrucksvolle Erscheinung. Ihm wird nachgesagt, dass er, nun ja, eine Vorliebe für hübsche Frauen hatte. Wenn man den Geschichten glaubt, die immer noch im Umlauf sind, soll er einigen Frauen am Zarenhof selbst nachgestellt haben. Genau das soll ihm wohl auch zum Verhängnis geworden sein. So weit ich weiß, handelt es sich dabei jedoch um unhaltbare Gerüchte.“
Julia nickte interessiert und fragte sich, ob es sich bei dieser Beschreibung um denselben Rasputin handelte, dessen Ring Pjotr auf etlichen Umwegen erhalten hatte. Ob es der Rasputin war, dem der Ring wirklich gehört hatte. Ob an Julias und auch Katarinas absurder Vermutung eventuell tatsächlich etwas dran war. Sie überlegte einen Moment, ob sie ihrem Psychologen eventuell auch davon erzählen sollte, aber sie ließ es dann doch bleiben. Man weiß ja nicht, wie der gute Mann das aufnehmen würde, dachte sie.
„Man geht heute davon aus, dass Rasputin verrückt war. Er hat behauptet, dass er durch Handauflegen heilen könnte. Ohnehin war er ein komischer Kauz“, sinnierte Carl weiter.
„Was ist denn aus ihm geworden?“, fragte Julia und hoffte, dass der belesene Mann mit der Nickelbrille ihr zufällig etwas über den mysteriösen Ring erzählen würde. Aber sie wurde enttäuscht, als Carl mit den Schultern zuckte: „Das müsste ich nachlesen. Wenn Sie wollen, schaue ich nach. Ich glaube, ich habe das entsprechende Buch hier im Büro.“
Julia schüttelte den Kopf. „Nein, danke, Sie haben mir schon weitergeholfen“, sagte sie und lächelte.
Sie nahm einen letzten Schluck aus ihrer Teetasse und spürte, wie das unheimliche Gesöff ihren Hals erwärmte und im Magen ein angenehmes Gefühl hinterließ.
„Vielen Dank für den Tee“, sagte sie und stand vorsichtig auf. Diesmal wurde ich nicht schwindelig und sie wusste, dass sie fürs Erste vor weiteren Nervenzusammenbrüchen gefeit war. Es hatte ihr gut getan, mit einer weitestgehend neutralen Person zu sprechen.
Carl begleitete sie noch aus seinem Büro und betonte, dass sie sich um die Kosten für die spontane Sitzung keine Sorgen machen müsste. Sie hätte ohnehin noch einige Stunden zur Verfügung gehabt, seit sie die Behandlung einige Monate zuvor überraschend abgebrochen hatte.
Als Julia wieder auf der Straße stand und es bereits dunkel wurde, griff sie nach ihrem Handy, um sich bei Verena zu entschuldigen.
Die war jedoch überhaupt nicht wütend. Im Gegenteil. Sie war froh, dass sie Julia endlich von ihrem eigenen kleinen Abenteuer erzählen konnte.
„Ich habs mir doch gedacht“, meinte Julia grimmig. Und weiter: „Ich war gerade bei Carl – du erinnerst dich? - und da ist mir bewusst geworden, dass Alexej die Wahrheit gesagt haben muss. Es ist nur ein Gefühl, aber ich weiß, dass ich richtig liege.“
„Und was willst du jetzt tun? Ich meine, die Frau gehört hinter Gitter. Du hättest sie sehen müssen. Die ist völlig verrückt“, sagte Verena erbost. Ihr Erlebnis vom Vormittag hatte sie richtig mitgenommen.
Julia hatte bereits einen Plan. Es war ein guter Plan, wie sie fand. Ohne Abenteuer, ohne Gefahr, ohne Action.
„Ich werde gar nichts machen. Ich fahre über Weihnachten zu meiner Mutter aufs Land. Ich muss mal wieder raus. Ich hoffe, dass Alexej in der Zwischenzeit kapiert, dass Annabelle hinter all dem steckt, aber ich werde mir nicht die Mühe machen, ihm das zu erklären. Er soll mir beweisen, dass ich ihm etwas bedeute. Nochmal lasse ich mich auf diese Spielchen nicht ein, so viel steht fest“, antwortete Julia selbstbewusst.
Verena war erleichtert, dass Julia sich vorerst nicht persönlich mit ihrer neugewonnenen Erzfeindin anlegen wollte, allerdings war sie auch ein wenig besorgt, denn sie traute Annabelle mittlerweile alles zu.