Kapitel 9 – Der Ring
Als Julia am nächsten Tag aufwachte, war ihr flau im Magen. Sie war zwar vor Selbstbewusstsein nur so strotzend ins Bett gegangen, aber als ihr bewusst wurde, dass das absurde Abenteuer, das sie ihr Leben nannte, kein Spiel, sondern knallharte Realität war, wollte sie am liebsten wieder unter die warme Bettdecke kriechen.
Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass Petrus nun endgültig den Verstand verloren hatte. Es schneite nicht, dafür regnete es in Strömen. Außerdem stürmte es und sie beobachtete emotionslos, wie das Windspiel, das sie an ihrem überdachten Balkon angebracht hatte, abriss und im Chaos verschwand. „Scheiß drauf“, dachte sie. Das Ding hatte sie ohnehin nie gemocht und sie fand es bezeichnend, dass an diesem Tag eines der letzten übrig gebliebenen Artefakte aus ihrer vorigen Beziehung wie durch Zauberei verschwunden war.
Das Windspiel war nämlich ein Geschenk von Thomas' ultra-spießigen Eltern und sie hatte es bloß aus Höflichkeit aufgehangen.
Julia sprang unter die Dusche und verfluchte beim Einschalten des grellen Lichts wieder einmal die faulen Säcke, die sich Handwerker schimpften, weil sie auch nach dem dritten Anruf immer noch nicht ihren Arsch herbei bewegt hatten.
Während der vorige Tag glanzvoll geendet hatte, entpuppte sich dieser als das komplette Gegenteil.
Julia spielte sogar mit dem Gedanken, das Date (war es ein Date?) beziehungsweise das Meeting (war es wirklich nur ein Meeting?) sausen zu lassen. Warum ließ sie sich eigentlich so herumschubsen, fragte sie sich schlecht gelaunt. Auch ihr Spiegelbild gefiel ihr an jenem nicht.
Julia fand erst wieder zu ihrer hervorragenden Form vom Vortag zurück, als sie endlich versuchte, herauszufinden, warum Balu ihr nach dem gemeinsamen Abenteuer Salbei-Tee mitgegeben hatte.
Nachdem sie nämlich ihren Morgenkaffee mit aufs Sofa genommen hatte, durchforstete sie das Internet nach dem Nutzen des unscheinbaren Geschenks. Sie ging stark davon aus, dass das Geschenk eine Art Symbol war, denn Balu liebte diese Art von Kommunikation.
Der Kaffee trug seinen Teil dazu bei, dass sich ihre Laune besserte, aber ausschlaggebend war die plötzliche Erkenntnis, die sich ergab, als sie in einem Heilpflanzenforum angelangt war.
Da stand, dass Salbei-Tee sowohl innerlich als auch äußerlich wirken würde. Julia wusste, dass Salbei gegen Husten, Heiserkeit und andere Halsbeschwerden half. Was sie nicht wusste war, dass Salbei-Tee als Fußbad genutzt werden konnte, um Schweißfüße zu bekämpfen.
Sie lachte herzhaft und der Fluch war fürs Erste gebrochen. Balu war schon ein komischer Typ, dachte sie. Ihr fiel auf, dass sie sich nicht mehr schämte, sondern sich ehrlich über sein gut gemeintes Präsent freute.
So sehr sogar, dass sie es sofort ausprobierte. Sie nahm eine der vielen Schüsseln, die sie ohnehin nie zum Kochen benutzte und füllte sie mit heißem Wasser.
Julia wollte gar nicht mehr aufstehen, als sie erst einmal ihre Füße im Salbeisud eingeweicht hatte. Allerdings wurde sie nach knapp einer Viertelstunde gestört, ihr Handy klingelte. Es lag noch auf dem Küchentisch, wie Julia seufzend feststellte.
Sie stand also auf und watschelte schnell zum schrillenden Telefon. Das Display blinkte ebenfalls und Julia sah, wer ihr da an ihrem heiligen Samstag auf die Nerven ging: Peer. Julia stellte das Handy stumm und ignorierte ihren Chef. Sie dachte: „So weit kommt's noch.“
Sie wusste in dem Moment nicht, wer eigentlich der schlimmere Stalker war: Peer oder Annabelle. Ihr fiel ein, dass dieser Punkt trotz allem am Ende doch eher an Deniz gehen würde.
Julia ging ins Bad, um sich die Füße abzutrocken.
Etwa eine halbe Stunde später stand sie abermals vor dem Spiegel und begutachtete sich darin. Sie hielt – so wie man es aus etlichen Filmen kannte – drei Outfits in der Hand. Abwechselnd prüfte sie mit einem strengen Blick, welche Garderobe für den besonderen Abend am besten geeignet wäre.
Sie hatte die Wahl zwischen einer weinroten, körperbetonten Bluse und ihrem schwarzen Lieblingsrock (dazu würde sie eine Strumpfhose tragen), einem dunkelblauen Kostüm, dass ihr nie wirklich richtig gepasst hatte (der Schnitt war amateurhaft, wie sie wieder einmal feststellte) und einer engen, sündhaft teuren Kordjeans in einem auffälligen Braunton. Zur Jeans würde sie einfach ein schlichtes Oberteil tragen.
Obwohl ihr Outfit #1 optisch am besten gefiel, entschied sie sich doch für das dritte. Sie wollte es so aussehen lassen, als ob sie das Treffen weder als offizielles Meeting noch als inoffizielles Date verstand.
Sie wollte sich quasi alle Optionen oder besser: sämtliche Fluchtwege offen halten, falls Alexej wieder auf dumme Ideen kam. Der Gedanke daran machte sie nervös, denn sie wusste noch nicht, wie sie auf einen weiteren Annäherungsversuch reagieren würde. Sie wollte, das war klar. Aber sollte sie auch?
Sie entschied jedenfalls vorsorglich, dass sie die Biege machen würde, falls Alexej wieder den Macho raushängen ließ.
Um 18:07 Uhr machte sich Julia endlich auf den Weg. Sie nahm sich ein Taxi, denn sie trug relativ hohe Schuhe, die sie in dem Matsch auf den Straßen nicht auch noch versauen wollte. Ihr Schuh-Budget war für die nächsten Monate eindeutig ausgeschöpft.
Um 18:26 Uhr kam sie beim Hotel an. Es war bereits dunkel geworden und zur Abwechslung kam weder Schnee noch Regen vom Himmel herunter. Es war jedoch klirrend kalt und der Portier vor dem Hotel, der ihr höflich die Tür öffnete, tat Julia ehrlich leid.
Zufällig wusste Julia, wo sich die Hotelbar befand, denn sie war hier vor zwei oder drei Jahren mal nach einer Geburtstagsparty eines früheren Kunden versackt.
Alexej saß mit dem Rücken zu ihr und in einem Anflug von Romantik überlegte sie, ob sie sich anschleichen sollte, um ihm die Hände auf die Augen zu legen, damit er erraten konnte, wer sie war.
Aus zwei Gründen entschied sich Julia dagegen. Erstens war es eine Schnapsidee, für die sie sich gern selbst gegen ihr Schienbein getreten hätte. Zweitens wäre sie vor Scham implodiert, wenn Alexej nicht ihren Namen, sondern Annabelles geraten hätte.
Sie setzte sich also ganz selbstverständlich neben ihn. Alexej bemerkte erst wenige Sekunden später, dass er Gesellschaft hatte, denn er war mit seinem Handy beschäftigt, das er nun eilig in seiner Sakkotasche verstaute.
„Schön, dass du gekommen bist“, begann er ungewöhnlich freundlich. Julia wusste, woher der Wind wehte. Er riss sich vermutlich zusammen, weil Katarina ihm die Pistole auf die Brust gesetzt hatte.
„Was möchtest du trinken?“, fragte er und winkte lässig nach dem Barmann, der die beiden auch ohne den Fingerzeig gesehen hätte und daher die Augen verdrehte. Glücklicherweise sah Alexej das nicht.
„Ich hätte gern ein Wasser“, meinte Julia und lächelte dem Mann hinter der Theken freundlich zu.
Bevor Alexej protestieren konnte, war dieser wieder abgezogen und besorgte Julias Getränk.
„Nach dem letzten Abend habe ich Schwierigkeiten, dieses Treffen einzuordnen. Da du jedoch Katarina erwähnt hast, gehe ich davon aus, dass wir hier sind, um geschäftliche Dinge zu bereden?“, fragte Julia.
„Das hast du falsch verstanden. Ich bin es gewohnt, Taten sprechen zu lassen statt Worte“, begann Alexej großspurig, „und eigentlich hatte ich gedacht, dass wir da weitermachen, wo wir am Montag aufgehört haben.“
Er grinste unverschämt und Julia sah vor ihrem inneren Augen wieder die Szene vor sich, in der Annabelle sich von Alexej an ihrem prallen Hintern hatte betatschen lassen. Kurz davor war Julia von ihr bedroht worden und sie konnte es nicht fassen, dass dieser Typ es wagte, diese Tatsachen einfach zu übergehen und sie wieder hemmungslos anzugraben.
„Ich glaube, das wird so nichts“, meinte sie kühl. Sie hatte sich zuvor einen Plan zurechtgelegt, den sie nun stur befolgte, um sich – wie sie es nannte – vor diesem Spinner in Sicherheit zu bringen.
Alexej versuchte ihren Blick aufzufangen, um sie mit seinen blauen Augen eventuell doch noch bezirzen zu können. Er machte Julia rasend, denn sie stand auf ihn und wünschte sich nichts mehr als ihn näher kennenzulernen. Er jedoch zerstörte alles, indem er taktlos und egozentrisch, nein, egomanisch, versuchte, sich zu nehmen, was er wollte. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und vor allem ohne Rücksicht auf ihre Gefühle.
Julia stand also von ihrem Barhocker auf, holte sich ihren Mantel und ging so schnell es mit den etwas zu hohen Absätzen möglich war in Richtung Ausgang.
Der Portier verabschiedete sie und hätte Alexej, der Julia nach einigem Zögern nachgelaufen war, beinahe die Tür ins Gesicht gedonnert. Er entschuldigte sich und hoffte inständig, dass diese Unachtsamkeit ihn nicht den Job kosten würde. Im Excelsior war man streng, das wusste er.
Julia reckte den schönen Hals und suchte die Straße nach einem Taxi ab. Direkt vor ihr ging in dem Moment ein mattes, gelbes Licht an. Der verschlafen dreinschauende Mann, der aus dem Auto ausstieg, hatte offenbar vergessen, das Taxilicht einzuschalten.
Julia nickte ihm grimmig zu und stieg hinten ein. Sie wollte einfach nur weg. Und sie nahm sich vor, dass sie nun Peer ihrerseits die Pistole auf die Brust setzen würde. Entweder sorgte er dafür, dass der Kontakt zu diesen Wahnsinnigen aus der Softlift GmbH abgebrochen wurde oder sie würde sich einen neuen Arbeitgeber suchen.
Sie zog die Tür mit Karacho zu, aber sie rastete nicht ein. Stattdessen hämmerte ein vor Schmerz jaulender Alexej auf das Autodach und Julia erkannte, was sie angerichtet hatte: Zwischen Tür und Türrahmen lugte Alexejs Hand hervor, eingeklemmt und zerschrammt. Es war die Hand, an dem auch der bescheuerte Ring steckte, mit dem Alexej ihr vor ein paar Tagen so auf die Nerven gegangen war.
Julia vergaß, dass sie auf den Mann sauer war und stieg sofort wieder aus. Auch der Taxifahrer verließ das Taxi. Er fluchte und machte sich offenbar Sorgen um seine Lizenz.
Julia drehte unter Druck stets zu Höchstleistungen auf und auch in dieser Situation behielt sie trotz des Ärgers mit diesem Idioten, auf den sie so stand, einen bemerkenswert kühlen Kopf.
Alexej hielt seine verletzte Hand mit der gesunden empor und beäugte sie ängstlich. Er prüfte, ob noch alle Finger dran waren. Julia ahnte, dass er vermutlich einen kleinen Schock erlitten hatte. Sie erinnerte sich vage an eine ähnliche Situation aus ihrer Kindheit.
Da hatte sie sich ebenfalls den Finger in der Autotür eingeklemmt, als sie mit ihren Eltern in die Ferien gefahren war. Damals musste ihr ein Fingernagel herausgezogen werden, weil er durch die Quetschung zertrümmert worden war.
Sie konnte sich also lebhaft vorstellen, dass Alexej sich nicht bloß anstellte, sondern wirklich unter Schmerzen litt.
Sie übernahm die Kontrolle, indem sie erst einmal den Taxifahrer wegschickte, da er ohnehin bloß im Weg herumstand. Danach sprach sie zu Alexej ein paar aufmunternde Worte: „Komm, wir gehen wieder rein. Bei diesem Licht hier draußen erkennt man ja nichts. An der Bar gibt es bestimmt Eis.“
Alexej schüttelte den Portier ungeduldig ab, als dieser versuchte, ihn zu stützen. „Es ist ja nichts passiert“, meinte Alexej stolz und mit einem vor Schmerz verzerrtem Gesicht. Julia musste sich ein Grinsen verkneifen. Ihr tapferer Macho konnte es offenbar nicht ertragen, Schwäche zu zeigen.
Als sie an der Bar ankamen und Julia einen Bottich Eis geordert hatte, inspizierte sie Alexejs Hand. Sie kannte sich zwar nicht aus, glaubte jedoch einschätzen zu können, ob irgendwas gebrochen war.
Nein, es war nichts gebrochen. Allerdings schwollen der Ringfinger und der Mittelfinger der gequetschten Hand bedrohlich an, so dass Julia sich nun bemühte, den Ring vom Finger zu ziehen. Alexej kippte gerade den doppelten Vodka herunter, den Julia zusammen mit dem Eis bestellt hatte, daher bemerkte er zu spät, dass sie sich an seinem heiligen Schmuckstück zu schaffen gemacht hatte.
Als sie den Ring auf die Theke legte, kehrte schlagartig ein bisschen Farbe in Alexejs Gesicht zurück.
Das jedoch schrieb Julia dem Alkohol zu und nicht ihren eingeschränkten Medizinkenntnissen. Sie deutete auf den Eimer, in dem sonst teurer Champagner serviert wurde, und Alexej verstand. Er steckte die Hand ins Eis und Julia sah, dass es den Schmerz linderte. Alexej lächelte. Es war das erste Mal, dass Julia in seinem Blick keinen Hintergedanken erkennen konnte.
Ihr Ärger war so gut wie verraucht. Sie erinnerte sich an Balus Worte. Sie solle auf ihr Herz hören, hatte er gesagt. Sie müsse raus aus ihrer Komfortzone.
Julia stürzte sich ins Abenteuer.
Alexej und Julia schauten sich in die Augen und nachdem sie ihren Blick für ein paar Sekunden nicht voneinander lösten, erkannte der Barmann, dass seine Dienste vermutlich erst einmal nicht benötigt wurden.
Die wenigen anderen Gäste an der Bar guckten zwar schon ein wenig entnervt, aber Alexej Gromow war ein bekanntes Gesicht und ein willkommener Gast im Hotel.
Solche Leute konnten sich auch mal eine Extraportion Drama gönnen, dachte der erfahrene Barmann. In Wirklichkeit spekulierte er auf ein dickes Trinkgeld, wenn er dem Millionär seine Marotten durchgehen ließ.
Julia war gerade dabei, sich in Alexejs stahlblauen Augen zu verlieren, als Alexejs leises Zischen sie zurück in die Wirklichkeit holte. Der arme Kerl leidet scheinbar wirklich, dachte Julia.
Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er, die Hand vorsichtig zu schließen und wieder zu öffnen. Es tat weh, aber das Eis hatte schon nach wenigen Minuten seinen Zweck erfüllt. Die Schwellung war nicht weiter gewachsen – noch ein paar Vodka und der stämmige Russe würde wieder ganz der Alte sein.
Genau das jedoch machte Julia Angst, denn in seinem kurzen Moment der Schwäche war er wie verwandelt und so gefiel er ihr eindeutig besser. Er war freundlicher, offener, herzlicher. Befreit, dachte Julia. Aber wovon?
Sie bemerkte den Ring, der immer noch auf der Theke lag und für die nächste Stunde mit Sicherheit nicht auf Alexejs Finger passen würde.
Julia erinnerte sich an das Desaster, als sie Alexej beim letzten Mal auf den Ring angesprochen hatte, aber diesmal hatte sie ein gutes Gefühl, als sie ihn erneut nach der Herkunft des Schmuckstücks fragte.
„Ah, ja, der Ring“, sagte Alexej und schaute ebenfalls auf das goldene Erbstück. „Den habe ich von meinem Onkel bekommen. Nach seinem Tod.“
„Darf ich?“, fragte sie und zeigte auf den Ring. Alexej nickte langsam und Julia war froh, dass er nicht wieder ausrastete, aber sie musste ihm dennoch alle Einzelheiten aus der Nase ziehen: „Das ist aber ungewöhnlich, oder? Dass jemand seinem Neffen einen Ring vererbt?“
Julia drehte den Ring zwischen ihren Fingern und bemerkte eine Gravur auf der Innenseite des schmalen goldenen Bandes. Es war offenbar Russisch. Sie konnte es nicht lesen.
Alexej schaute sie schweigend an, während er sich wieder seinen Stretching-Übungen widmete und die Hand langsam schloss und wieder öffnete. Es schien von Minute zu Minute besser zu funktionieren. Julia war erleichtert, dass sie ihm die Hand nicht gebrochen hatte. Sie war immerhin nicht bloß hinter ihm her, sondern auch hinter dem Werbedeal.
Hätte sie Alexej durch ihren wütenden Tunnelblick und ihre Unachtsamkeit ins Krankenhaus befördert, könnte sie am Montag vermutlich ihr Büro räumen.
Alexej erklärte: „Ich habe mich auch gewundert. Es ist ein komisches Ding, aber irgendwie gefällt er mir.“
Sie schwiegen wieder. Hatten sie sich nichts zu sagen oder trauten sie sich einfach nicht, das auszusprechen, was sie dachten?
„Ich...“, begannen sie gleichzeitig. Und dann, wieder synchron: „Ähm, du zuerst...“ - sie lachten plötzlich so laut, dass der Barmann einen Teil des Drinks, den er einem Gentleman am anderen Ende der Theke einschenkte, großzügig daneben schüttete. Von ihm würde er sicherlich kein Trinkgeld bekommen.
Das Eis war endgültig gebrochen und so hangelten sich Julia und Alexej von einem Thema zum nächsten. Endlich unterhielten sie sich. Ohne peinliche Pausen. Ohne eine Annabelle, die alles zunichte machte.
Mittlerweile tranken sie beide Vodka. Julia dachte sich, dass es gut wäre, wenn sie sich an den Geschmack gewöhnen würde. Sie alberten herum und schwelgten in Anekdoten aus ihren so verschiedenen Leben.
Aber sie redeten auch über das gemeinsame Projekt und Julia war froh, dass Alexej offenbar tatsächlich nicht bloß auf Sex aus war. Ihr war es wichtig, sich in dieser Sache zu behaupten. Sie wollte Peer beweisen, dass sie fähig war, professionell zu handeln. Sie wollte nicht als dummes Küken dastehen. Sie war erwachsen geworden und jeder sollte es sehen. Vor allem eben Peer.
„Deniz – das ist unser Grafiker – und ich haben uns schon einige Gedanken zur Kampagne gemacht. Da sind tolle Ideen entstanden. Wir dachten schon, wir könnten die Entwürfe alle in die Mülltonne treten“, lachte Julia.
Alexej meinte gut gelaunt, dass das wohl ein wenig überstürzt gewesen wäre. Er rückte sein Sakko zurecht und räusperte sich. „Hör mal, Julia. Ich weiß, dass ich mich daneben benommen habe“, begann er versöhnlich. Julia traute ihren Ohren kaum. Der Mann war tatsächlich dabei, sich bei ihr zu entschuldigen. Sie hoffte inständig, dass die Sache keinen Haken hatte. Alexej fuhr fort: „In der Firma gab es in letzter Zeit viel Stress, ich habe kaum geschlafen und, ähm, nein. Vergiss es. Das hat hier nichts verloren. Es tut mir jedenfalls leid, was passiert ist. Ich habe nicht einsehen wollen, dass ich dich anziehend finde.“
Julia wurde rot und Alexej war sich nicht sicher, ob das am Vodka lag oder an seinen Worten. Da sie nichts sagte, sprach er weiter. „Ich hoffe, wir können das alles hinter uns lassen und nochmal von vorn anfangen?“ Es klang nicht wirklich wie eine Frage, fand Julia. Sie nickte jedoch. Der eifrige Mann hinter der Bar hatte die nächsten zwei Shots vorbeigebracht und Julia schnappte sich eines der kleinen Gläser, um anzustoßen.
Alexej verstand die Geste und schien erleichtert. Als sie getrunken hatten, zwinkerte er Julia zu und rief abermals den Barmann: „Hey, junger Mann, wie wäre es, wenn sie uns einen Champagner empfehlen würden? Es gibt etwas zu feiern.“ Alexej war wirklich wie ausgewechselt, dachte Julia. Sie war bereits leicht benebelt und der Ring auf der Theke waberte ein wenig vor ihren Augen, so dass daraus zwei Ringe wurden, dann wieder einer.
Normalerweise hätte Julia mittlerweile die Reißleine gezogen, aber dieser Abend war kein normaler Abend. Sie wollte ihn in vollen Zügen genießen.
Das war ihr ganz persönliches Abenteuer und sie gefiel sich in ihrer Rolle. Da sie die kleinen Vodkagläser immer noch zu groß fand, um sie mit einem Schluck zu leeren, setzte sie das Glas erneut an.
Diesmal stieß sie im Stillen auf ihre Freunde an, auf die einzigartige Verena, auf den gütigen Peer, auf den loyalen Deniz und auf ihren heimlichen Retter: Balu.
Der Champagner wurde von einem nun viel entspannteren Barmann serviert und Julia und Alexej stießen ein zweites Mal an – diesmal richtig. Die Gläser klirrten.
Eine Dreiviertelstunde später waren sie mit einer halb geleerten Champagnerflasche in Richtung Aufzug gegangen. Julia war eher getorkelt, aber das fiel ihr gar nicht mehr auf. Alexej hatte dem Barmann ein großzügiges Trinkgeld gegeben, der junge Mann war sichtlich erfreut und schwor sich, in Zukunft jegliche Sonderwünsche von reichen Gästen ohne Murren zu erfüllen. Es lohnte sich, das hatte er endlich kapiert.
Julia stützte sich an Alexej, denn mit ihren Schuhen kam sie betrunken nicht sonderlich gut zurecht. Als sie im Flur der siebten Etage angelangt waren, zog sie sich die Schuhe einfach aus und folgte Alexej barfuß zu seinem Zimmer.
Er selbst schien höchstens ein wenig angetrunken zu sein und hatte keinerlei Schwierigkeiten die Tür zu öffnen. Als Julia über die Schwelle trottete, traute sie ihren Augen kaum. Sie wusste zwar, dass es in diesem exklusiven Hotel einige Luxuszimmer gab, aber sie hatte noch nie eines von innen gesehen. Es handelte sich um die Executive Suite und das Zimmer (eigentlich eher ein Penthouse) war mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet.
Julia betrat eine neue Welt und diese Welt gefiel ihr auf Anhieb. Ihre Augen leuchteten.
Alexej hatte bereits sein Sakko abgelegt und ging auf die immer noch staunende Julia zu. Sie schaute in seine Augen und endlich sah sie in Alexej wieder den mysteriösen Mann aus ihrem Traum. Sie legte die Arme um seinen Hals und sie küssten sich.
Ihr Verstand setzte förmlich aus, als Alexej sie mühelos hochhob, damit sie ihre Beine um seine Hüfte legen konnte. Sie presste sich an ihn und ärgerte sich darüber, dass sie tatsächlich eine Jeans angezogen hatte. Der Rock wäre ihr jetzt lieber gewesen. Alexej schien ihre Gedanken zu erraten, denn ohne langes Zögern begab er sich ins geräumige Schlafzimmer und warf Julia wild lächelnd auf das wunderbar weiche Kingsize-Bett.
Er kniete sich dazu und machte sich sofort an ihrer engen Hose zu schaffen. Julia musste nachhelfen und verfluchte das ganze Fast Food, das sie in letzter Zeit aus Faulheit gegessen hatte. Offenbar hatte sie ein paar Pfunde zugelegt.
Alexej schien das nicht im Geringsten zu stören und er überwand dieses kleine Hindernis spielend. Sie küssten sich immer wieder kurz. Es waren gierige, ehrliche Küsse. Alexejs herbes Aftershave gelangte wieder in ihre Nase und der Duft machte sie rasend vor Lust. Sie wollte ihn in sich spüren.
Mit halb geöffneter Bluse setzte sie sich auf und sie machte sich an seiner Hose zu schaffen. Alexej jedoch packte sie an den Oberarmen und drückte sie bestimmt zurück aufs Bett. Seine Augen glühten. Er war in seinem Element.
Julia blieb fasziniert liegen. So etwas hatte sie sich immer gewünscht und sie konnte es kaum glauben, dass ihr Traum offenbar eine Art Prophezeiung war, die gerade wundersamerweise in Erfüllung ging. Alles lief genauso ab, wie sie es sich vorgestellt hatte. Oder bildete sie sich das bloß ein? Es war ihr egal.
Julia schloss die Augen und gab sich ihm hin. Alexej hatte irgendwoher Stofffetzen genommen, die sich bei näherer Betrachtung als kleine, schmale Seidentücher entpuppten. Mit unerhört sicherem Griff packte er Julias rechtes Handgelenk und band sie am Kopf des Bettes fest. Er lehnte über ihr und selbst wenn sie es gewollte hätte, sie konnte sich nicht dagegen wehren. Alexej hatte die Kontrolle über sie gewonnen. Es war das, was ihr in der Beziehung mit Thomas gefehlt hatte. Eine Grenze.
Alexej betrachtete sein Kunstwerk, als er auch Julias zweites Handgelenk sicher an einem der Bettpfosten fixiert hatte. Julia hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, mit einer Hand ihre Bluse zu öffnen. Sie wollte Alexej auf sich spüren, überall. Sie lechzte nach seinen Küssen, er aber schaute sie erst einmal nur an.
Julia wand sich vor ihm auf dem riesigen Bett und gab sich Mühe, ihren bereits feuchten Slip von ihrer Hüfte zu streifen, indem sie ihr Becken hin und her, rauf und runter bewegte.
Alexej genoss das Spiel. Er machte keinerlei Anstalten, sich ebenfalls zu entkleiden. Als Julia es fast geschafft hatte, sich ihres Slips zu entledigen, griff Alexej nach ihren Beinen, um diese aneinander zu fesseln. Den Slip, der auf halber Höhe ihrer Beine hing, beachtete er dabei nicht.
Julia fühlte sich großartig, als sie plötzlich völlig hilflos war. Sie war Alexej ausgeliefert.