Kapitel 16 – Frustshopping

Julia wachte auf und fühlte sich miserabel. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass aus dem Regen vom Vortag Schnee geworden war. Als sie sich im Bett aufrichtete, durchzuckte sie ein brennender Schmerz. Sie hatte die Brandwunde in der Nacht zuvor nur notdürftig versorgt.

Als sie das Pflaster unter ihrem Nachthemd betrachtete, sah sie, das die Wunde über Nacht nicht weiter geblutet hatte. Allerdings eiterte das Brandmal und Julia wusste, dass ihr Abenteuer vom Vortag bleibende Erinnerungen in Form von einer hässlichen Narbe von der Größe eines 20-Cent-Stücks hinterlassen würde.

Julia stand auf, um unter die Dusche zu springen. Als sie sich die Zähne putzte, bemerkte sie im Spiegel, dass auch ihre Handgelenke noch immer gerötet waren.

Sie sah schrecklich aus, dachte sie. Und sie war froh, dass sie wenigstens diesen Tag zum Ausspannen hatte. Ihr graute es bereits vor dem nächsten Arbeitstag und sie hoffte inständig, dass der schreckliche Vorfall keine Auswirkungen auf die Geschäftsbeziehungen mit Alexejs Unterwäschefirma haben würde.

Beim Anziehen achtete sie sorgsam darauf, dass die neue, dünne Hautschicht, die sich bereits in der Wunde auf ihrem Bauch bildete, nicht wieder beschädigt wurde.

Julia fand es mehr als irritierend, dass sie die schmerzhaften Erinnerungen vom Vortag irgendwie erregten. Es hatte durchaus Spaß gemacht – vielleicht war sie bloß noch nicht bereit für diese Art von Schmerzen? Blödsinn, dachte sie und wischte den absurden Gedanken beiseite.

Als sie sich dem Wetter entsprechend ihrem bequemsten Rollkragenpullover überzog, klingelte ihr Handy. Sie hatte am Vorabend eigentlich daran denken wollen, es für den gesamten Tag auszuschalten. Es gab niemanden, mit dem sie nun sprechen wollte. Aber das stimmte nicht ganz.

„Hey! Wie wars? Du musst mir alles erzählen. Und wehe, du lässt die Details aus!“, schnatterte Verena am anderen Ende der Leitung. Julia war nun doch froh, dass sie jemanden zum Reden hatte und sie berichtete ihrer besten Freundin von ihrem Horrortrip.

Verena war ungewöhnlich still, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sie die Geschichte abscheulich fand. Julia spürte, dass ihre loyale Freundin ebenfalls vor Wut kochte. Es war ein befriedigendes Gefühl, mit dem Ärger und der Verzweiflung nicht allein zu sein.

Nachdem Julia alles erzählt hatte, meinte Verena: „Ich komme sofort vorbei. Dann zeigst du mir die Wunde und dann gehen wir entweder zum Arzt oder zur Polizei. Am besten machen wir beides. Ich -“

„Verena!“, drohte Julia im Spaß, „komm' bitte einfach vorbei. Lass uns einen Film gucken oder so. Auf Stress mit den Behörden habe ich keine Lust. Außerdem kann ich doch nichts beweisen. Ich war ja freiwillig bei ihm. Du immer mit deinen Plänen!“

Sie kicherte erleichtert und beim Lachen spannte die Kruste, die sich bereits über der Wunde bildete. Sie musste sich zusammenreißen.

Verena kam eine halbe Stunde später vorbei und weigerte sich ihre Schuhe auszuziehen. Sie meinte: „Weißt du eigentlich, was da draußen los ist? Es schneit, die Leute haben gute Laune und die Stadt ein einziger großer Weihnachtsmarkt. Wo sind deine Schuhe?“

Julia wusste, dass es zwecklos war, ihr zu widersprechen. Sie zog sich an und ging mit Verena hinaus in die wunderschöne Winterlandschaft, die bisher noch von keinem Schneeräumfahrzeug zerstört worden war.

Sie schlenderten über den Weihnachtsmarkt am Neumarkt und Julia genoss den Trubel um sie herum. Sie war Verena unglaublich dankbar für den seelischen Beistand. Ohne sie hätte sie den Tag vermutlich heulend im Bett verbracht, überlegte sie. Julia schluckte schwer und legte ihren Arm um Verenas üppige Hüfte. Sie schien von Tag zu Tag breiter zu werden.

„Oh, schau' mal, Julia. Das wäre doch was für uns, oder?“, rief Verena plötzlich, als sie einen Stand passierten, an dem kitschige Nikolausmützen verkauft wurden.

Julia widersprach ihr jedoch nicht, sondern ließ sich auf das Spiel ein. Sie bereute den Kauf jedoch, als sie bemerkte, dass in die Mützen blinkende LEDs eingebaut waren, die jedem einzelnen Besucher auf dem Weihnachtsmarkt signalisierten, was für ein Idiot Julia war. Ihr wurde allerdings schnell klar, dass es wahrlich genügend andere Idioten gab, die sich so eine alberne Mütze aufgesetzt hatten. Sie zuckte unmerklich mit den Schultern und folgte Verena von Stand zu Stand, bis sie am Ende des Marktes angelangt waren.

„Und jetzt?“, fragte Julia, die langsam ebenfalls in Weihnachtsstimmung kam und unheimlich froh über die spontane Abwechslung war.

„Tja, ein Glühwein wäre gut. Aber ich glaube, das würde meinen Süßen nicht schmecken“, lachte Verena, während sie ihren kugelrunden Bauch liebevoll tätschelte. Mit einem Blick auf die für einen Sonntagnachmittag ungewöhnlich stark belebte Fußgängerzone fuhr sie fort: „Das hatte ich ja total vergessen. Heute ist verkaufsoffener Sonntag. Ich habe mich schon gewundert, warum es so viele Leute in die Fußgängerzone zieht. Hast du Lust?“

Verena wartete nicht auf eine Antwort, sondern bugsierte Julia bereits in Richtung der bunten Geschäfte.

Verena genoss den Ausflug ebenfalls, denn sie kam nur noch selten vor die Tür. Sie überlegte alarmiert, dass nach der Geburt ihrer beiden Babys wohl erst einmal nicht mehr in den Genuss einer ausgedehnten Shopping-Tour mit ihrer besten Freundin kommen würde. Also beschloss sie, das Beste aus diesem Tag zu machen und Julia in möglichst viele Läden zu schleppen.

Das war Julia nur Recht, denn es graute ihr ein wenig vor ihrer einsamen Wohnung. Da war wieder dieses unangenehme Gefühl im Hals. Sie musste erneut schlucken, aber es fiel ihr zunehmend schwerer.

Julia wusste, dass sich da nicht etwa eine Grippe oder so etwas in der Art anbahnte; Julia war in Wirklichkeit zum Heulen zumute, aber sie wollte keine Schwäche zeigen. Nicht vor Verena und vor allem nicht vor sich selbst.

„Hey, guck' mal. Da ist noch so ein Kleid, in das ich nie wieder reinpassen werde“, sagte Verena säuerlich. Julia ergriff die Chance, um sich von ihrem eigenen Problem abzulenken. „Ach, was“, begann sie, „sag niemals nie. In spätestens fünf Jahren kannst du so etwas wieder tragen.“

Verena schaute sie stirnrunzelnd an und erwiderte: „Haha. Sehr witzig. Du kannst ja auch alles tragen. Ich meine es ernst. Solange ich zu Hause sitze, realisiere ich nicht wirklich, wie eingeschränkt mein Leben eigentlich geworden ist. Aber hier draußen“, Verena schaute sich entmutigt um, „fühle ich mich einfach nur fett und unförmig.“

Julia versuchte es mit Diplomatie: „Erinnerst du dich noch an früher? Ich meine, vor knapp einem Jahr. Da hatten wir ungefähr die gleiche Figur, oder?“

„Na ja“, meinte Verena skeptisch und sie ahnte, dass Julia ihr Honig ums Maul schmieren wollte, damit sie nicht weiter rumquengelte.

„Doch, doch. Wie wäre es, wenn du dir die Sachen im Schaufenster anschaust und wir probieren die Klamotten gemeinsam an, falls dir etwas gefällt? Ich meine, ich ziehe es dann für dich an. Du kannst die Sachen zwar jetzt noch nicht tragen, aber dafür dann im nächsten Jahr. Klingt doch motivierend, oder?“, sagte Julia fröhlich.

„Na ja“, wiederholte Verena, „aber fett bin ich trotzdem, das musst du zugeben.“

Julia lachte. „Ja, stimmt. Du siehst aus, wie ein zu kurz geratenes Michelinmännchen. Die Mütze macht es übrigens auch nicht besser.“ Sie standen vor dem Schaufenster eines hemmungslos überfüllten Schuhgeschäfts und begutachteten ihr lächerliches Spiegelbild.

Verena grinste endlich und gab sich geschlagen. Sie überlegte, dass sie nach der Geburt der Zwillinge am besten wieder zu Balu ins Yogastudio gehen würde.

Sie schlenderten weiter und unterhielten sich wieder einmal über Verenas Sexualleben. Obwohl Julia ihre Erzählungen sonst stets aufdringlich und unangenehm fand, war es ihr heute egal. Besser hätte der Tag für sie nicht laufen können, vor allem nach dem Desaster vom Vortag, stellte sie grimmig fest.

„DAS ist es“, rief Verena plötzlich und stapfte so schnell es ging in Richtung eines Schaufensters, in dem nur einige ausgewählte Kleidungsstücke gezeigt wurden.

Verena nickte in Richtung eines dunkelblauen Kleides, das raffiniert geschnitten war und fast so viel kostete wie Julias halber Monatslohn.

Julia wusste, dass es ein sauteurer Designerladen war, denn sie hatte in ihrer Mittagspause immer wieder damit geliebäugelt, sich dort etwas für ihre kleinen Karrieresprünge zu gönnen.

Schließlich war sie tatsächlich reingegangen und hatte den Laden nach einer knappen halben Stunde mit einem edlen Schuhkarton verlassen. Julia wunderte sich, dass das bloß ein paar Wochen hergewesen war. Sie war gespannt, ob die Verkäuferin sie wiedererkennen würde.

Ja, sie erkannte sie wieder. Julia und ihre beste Freundin erwartete ein gezwungenes Lächeln einer blutjungen Verkäuferin, die wie aus dem Ei gepellt aussah.

Die Frau wunderte sich offenbar, was die hochschwangere Verena in dem feinen Laden zu suchen hatte, denn sie trödelte ein paar Sekunden, bevor sie das ungleiche Paar begrüßte. Noch dazu hatten die beiden immer noch ihre bescheuerten Nikolausmützen an, die munter blinkten.

„Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“, fragte sie und schaute erst Julia und dann Verena an. Julia hatte genügend Menschenkenntnis, um zu verstehen, dass die Verkäuferin sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was eine Frau mit Verenas Ausmaßen in dem Designerladen wollte.

Sie hoffte, dass Verena das nicht bemerkte und sagte an die Verkäuferin gewandt: „Wir, äh, ich meine, ich möchte gern dieses Kleid dort anprobieren.“ Julia zeigte auf das Kleid im Schaufenster.

Wenn die arrogante Frau sich nicht an Julia und die Größe ihres Geldbeutels erinnert hätte, wäre sie vermutlich davon ausgegangen, dass sie auf den Arm genommen wurde.

Aber die Verkäuferin gehorchte, ignorierte die absurden Weihnachtsmützen und holte, nun etwas freundlicher lächelnd, das Kleid aus dem Schaufenster. Sie zeigte Julia und Verena die Umkleidekabine.

„Ach, das hätte ich fast vergessen“, rief sie ihnen händeringend hinterher. Julia und Verena drehten sich um. Die Verkäuferin fragte mit roten Kopf: „Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Einen Kaffee, ein Wasser? Sekt? Oder nein: wie dumm von mir. Alkohol ist jetzt nicht das Richtige, oder?“

Verena lachte und verunsicherte die arme Frau noch mehr: „Quatsch, ein, zwei Gläschen werden schon nicht schaden.“ Als sie das ungläubige Gesicht sah, verbesserte sie sich schnell: „Das war ein Scherz. Ein Wasser würde ich allerdings gerne nehmen.“

Julia wollte nichts und so zog die Verkäuferin wieder ab, um das Wasser zu besorgen. Es waren keine anderen Kunden im Laden, wie Julia befriedigt feststellte. Sie wollte es möglichst vermeiden, dass noch mehr von diesem hochnäsigen Volk schiefe Blicke auf Verena warfen.

Julia verschwand hinter dem Vorhang der luxuriösen Umkleidekabine, in der ein riesiger Spiegel an der Wand prangte. Die Kabine war geräumiger als herkömmliche Umkleiden und Julia fand diverse Haken vor, an denen sie ihre vielen Kleidungsschichten, die sie nach dem Zwiebelprinzip trug, hängen konnte, ohne dass es allzu eng wurde.

Verena hatte sich vorsichtig auf einen der bequemen, aber doch filigran gebauten Sessel gesetzt und dankbar ihr Wasser in Empfang genommen, als sie und die Verkäuferin erschrocken zusammenfuhren.

Julia fluchte laut und bewarf einen unsichtbaren Gegner mit den fiesesten Schimpfwörtern, die in dieser Umkleidekabine jemals ausgesprochen wurden.

„Verdammter Mist“, rief Julia erneut. Die Verkäuferin flüchtete und hoffte inständig, dass die beiden den Laden bald wieder verlassen würden. Spätestens dann, wenn seriöse Kunden kamen, die keine blinkenden Weihnachtsmützen trugen und sich zu benehmen wussten.

„Was ist denn los?“, fragte Verena, denn sie konnte sich den übertriebenen Wutausbruch nicht erklären. Sie stellte ihr unberührtes Wasserglas ab und schob den Vorhang vorsichtig zur Seite. Sie erschrak erneut. „Ach du scheiße. Du meintest doch, die Wunde wäre schon wieder fast verheilt!“, meinte Verena beunruhigt.

Julia hatte sich ihre Klamotten ein wenig zu unachtsam vom Leib gerissen und dabei war ihr Top an dem klebrigen Pflaster hängen geblieben. Und das hatte sich ebenfalls von seinem vorgesehenen Platz verabschiedet und dabei die Kruste wieder komplett aufgerissen.

„Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte Verena verunsichert und konnte dabei den Blick nicht von der hässlichen Brandwunde abwenden.

„Blödsinn. Wenn du schon bei dem bisschen Blut weiche Knie bekommst, dann solltest du dich bei der Entbindung am besten betäuben lassen“, erwiderte Julia schroff. Es war als Scherz gedacht, aber es kam unfreundlich rüber.

Verena verstand das, denn im nächsten Augenblick bröckelte die Fassade und die echte, verletzte, traurige, verzweifelte Julia kam zum Vorschein.

Sie hatte begonnen, wie ein Schlosshund zu heulen. Es war zu viel und die Tränen liefen in Sturzbächen über ihre Wangen.

Verena quetschte sich irgendwie mit in die Kabine, die für zwei Personen allerdings trotz ihrer Geräumigkeit viel zu klein war. Verenas wuchtiger Leib befand sich nun also halb in der Kabine und halb draußen. In ihrer Eile hatte sie noch dazu das Wasserglas von dem kleinen Beistelltisch gestoßen.

Glücklicherweise landete es auf dem edlen Langflor-Teppich, mit dem der Umkleidebereich ausgelegt war.

„Hey, Süße. Was ist denn los mit dir? Hast du geglaubt, du könntest so tun, als ob alles in Ordnung wäre? So blöd bin ich nun auch nicht, weißt du!“, sagte Verena und strich ihr über die Haare.

Julia heulte erneut los und ihr Schluchzen war herzzerreißend. Verena realisierte, dass sie die vergangene Nacht in Alexejs Keller stärker mitgenommen hatte, als Julia zugeben wollte.

Und sie war sich auch sicher, dass Julia ihr irgendetwas verschwieg. Verena kannte Alexej zwar nicht, aber als Außenstehende konnte sie ganz gut beurteilen, ob Julias Geschichte schlüssig gewesen war oder nicht.

Verena drehte sich um und zog den Sessel etwas näher heran, damit sie sich setzen konnte. Das Bild, das sich der Verkäuferin bot, als sie nach dem Rechten schauen wollte, war mehr als ungewohnt.

Die Umkleidekabine war völlig überfüllt. Die offensichtlich hochschwangere Verena saß auf dem Stuhl, den sie sich halb in die Kabine gezogen hatte und der Vorhang war zu klein, um das gesamte Schauspiel zu verdecken. Außerdem lag das Wasserglas auf dem Teppich und aus der Kabine drang abermals ein lautes Schluchzen.

Die Verkäuferin entschied, dass sie ein Machtwort sprechen musste und straffte die Schultern, als sie auf die Kabine zuging. Sie räusperte sich vernehmlich.

Verena riss den Vorhang abrupt beiseite und blaffte die Frau aus heiterem Himmel an: „Sehen Sie nicht, was hier los ist?“ Und dann, nach einer winzigen Pause: „Ach, jetzt stellen Sie sich doch nicht so an. Kein Schwein ist in diesem bescheuerten Laden und wenn ich ehrlich bin, kann ich mir auch gut vorstellen, warum.“

Ihre Augen blitzten wütend und die junge Verkäuferin verstand. Sie wusste keine passende Antwort und drehte auf dem Absatz wieder um.

Es waren jedoch nicht Verenas harte Worte, die sie dazu bewegten, sich aus der Sache rauszuhalten, sondern die auffällige Wunde am Bauch der heulenden Kundin. Sie beschloss, die beiden in Ruhe zu lassen und weiter darauf zu hoffen, dass niemand sonst in den Laden kommen würde.

Verena zog den Vorhang wieder zu und kramte in ihrer Jacke nach einem Taschentuch. Julias Augen waren rot und die Lider geschwollen. Sie saß fast nackt auf einem wunderbar gearbeiteten Mahagoni-Schemel, der für die betuchten Kunden als Sitzgelegenheit während der Ankleide gedacht war.

Julias Wunde pochte. Als die erste und auch die zweite Tränenflut überstanden war, wurde ihr Schluchzen leiser. Verena strich ihr unermüdlich über den Kopf und hielt ihre Hand. Sie lächelte und versuchte Julias Blick aufzufangen, um auch sie zum Lächeln zu bringen.

Aber das klappte noch nicht. Julia war zu aufgewühlt, der Druck zu groß.

Völlig unerwartet begann sie zu sprechen: „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.“

Verena wusste nicht, was sie meinte, denn sie hatte für die Vorstellung in Julias Kopfkino keine Eintrittskarte gelöst. „Wie meinst du das?“, fragte sie deshalb.

„Gestern. Im Keller. Da war ein Luftzug, weißt du?“, erwiderte Julia und schluchzte nochmals laut auf.

Verena wartete, bis Julia sich wieder beruhigte. „Ein Luftzug?“, fragte sie weiter.

„Ja, ein Luftzug. Ich habe dir ja erzählt, dass es im Keller kühl war. Aber kurz bevor Alexej mich ge-ge-gebrandmarkt hat – da war ein Luftzug. Es war plötzlich kälter als vorher. Als hätte jemand eine Tür offen stehen gelassen“, erzählte Julia zitternd.

Verena unterbrach sie nicht, sondern wartete einfach ab, dass Julia weitersprach.

„Ich meine, es klingt total verrückt, aber vielleicht hat Alexej ja die Wahrheit gesagt“, sagte Julia und ihre verquollenen Augen schauten ins Leere.

Verena runzelte die Stirn. Sie verstand nicht.

„Was meinst du? Du hast gar nicht erzählt, dass Alexej überhaupt etwas gesagt hat!“, sagte Verena leise und war gespannt, was Julia nun berichten würde.

„Er-er hat gesagt, er sei es nicht gewesen. Er-er meinte, jemand hätte ihn auf der Treppe niedergeschlagen, als er nach dem Rechten sehen wollte. Du weißt schon, als wir das komische Geräusch gehört hatten“, erklärte Julia und schaute zu Verena auf.

Diese guckte skeptisch und war offensichtlich damit überfordert, Julia möglichst schonend ihre Meinung mitzuteilen.

„Jetzt guck nicht so! Ich weiß, wie bescheuert sich das anhört. Aber mir ist dieser Luftzug wieder eingefallen und das fand ich gestern im Keller schon so komisch.“

Verena versuchte Julia zu beschwichtigen: „Ich glaube nicht, dass du verrückt bist oder so. Aber meinst du nicht, dass es sein könnte, dass, äh, dein Unterbewusstsein dir so etwas einredet? Weil du dich in Alexej verliebt hast und er sich wie ein Arschloch verhalten hat?“

Julia schwieg und putzte sich trompetend die Nase. Dann fuhr sie fort: „Gestern war ich ja auch sicher, dass es so passiert ist. Aber heute morgen habe ich bereits daran gezweifelt. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, dass er zu so etwas fähig wäre.“

„Julia, du kennst den Typen doch kaum! Du hast dich in ihn verknallt. Aber weißt du wirklich, was in seinem Kopf vorgeht? Die ganzen Geschichten, die du mir erzählt hast. Es sieht wirklich nicht gut aus, findest du nicht auch?“

Verena hoffte, dass Julia ihr zustimmen würde. Sie dachte, dass es nicht gut für sie wäre, wenn sie niemandem die Schuld für ihre beschissene Situation geben könnte. Aber Julia war in solchen Dingen komplizierter als Verena.

„Weißt du, was auch komisch ist?“, fragte Julia und ihre Schultern strafften sich bereits wieder ein wenig. „Ich habe Alexej noch nie dabei gesehen, wie er raucht. Und gerochen habe ich an ihm auch noch nichts. Im Keller habe ich zum ersten Mal Kippenqualm wahrgenommen.“

Verena war noch lange nicht überzeugt: „Julia, wer weiß, wie der Typ tickt. Vielleicht raucht er nur, wenn er jemanden wie dich in seinem verrückten Apparat eingeschlossen hat? Vielleicht ist das auch so ein Fetisch? Überleg doch mal. Du hast doch die Zigaretten in der komischen Kiste gefunden, oder? Der Mann weiß nicht mehr, was er tut. Er ist gefährlich!“

Als Verena sah, dass Julia von dem absurden Gedanken nicht ablassen konnte, ließ sie sich auf ihre Idee ein. Irgendwie musste sie Julia davon überzeugen können, dass der Mann nicht gut für sie war.

Verena fragte: „Glaubst du ihm? Ich meine, glaubst du, dass er es wirklich nicht war? Dass er von jemandem niedergeschlagen wurde? Dass er nichts von deinem Horrortrip mitbekommen hat? Das ist doch -“ Weiter kam sie jedoch nicht, denn Julia wollte davon nichts hören.

Sie wurde lauter: „Er hatte eine Platzwunde am Kopf, Verena! Meinst du wirklich, er hat sich selbst KO gehauen? Das ist doch bescheuert.“

Verena griff den Gedanken nur zu gern auf und erwiderte, nicht weniger patzig: „Also ich finde, das passt wunderbar in das Gesamtbild. Dem Typen ist alles zuzutrauen. Hast du vergessen, was er dir vorher bereits alles angetan hat? Mit Annabelle? Auf seinem Geburtstag? In der Bar? Du kannst mich anschnauzen wie du willst, aber ich werde nicht zulassen, dass du diesem Freak noch eine Chance gibst! Du hast was Besseres verdient!“

Verena hatte bereits lauter gesprochen, aber Julia antwortete nun schreiend: „Und wenn ich keinen anderen will? Ich weiß doch selbst, wie verrückt das alles klingt!“ Julia dachte außerdem an die unerklärliche Geschichte mit dem Ring und war nun sehr froh, dass sie Verena davon noch nichts erzählt hatte.

Sie fuhr fort und minderte die Lautstärke ein wenig: „Ich finde, dass es einfach nicht zusammen passt. Alexej mag verrückt sein, er mag ein Freak sein, er ist vielleicht sogar ein bisschen gefährlich, aber er ist kein Psychopath, der unschuldige Frauen verstümmelt. Das passt nicht. Das glaube ich nicht. Es kann einfach nicht wahr sein.“ Der letzte Satz klang eher hoffend als wissend.

Verena schaute ihre beste Freundin mitleidig an und erkannte, dass es keinen Sinn machte, Julia mit Tatsachen zu überzeugen. Sie versuchte also eine andere Taktik: „Okay. Du glaubst ihm seine Geschichte. Gut. Wie du meinst. Aber dann erkläre mir bitte, wer dich sonst mit einer Zigarette aus Alexejs Keller verbrannt hat.“

Verena grinste triumphierend und war sich sicher, dass Julia darauf tatsächlich keine Antwort haben würde.

Julia durchfuhr jedoch die schreckliche Erkenntnis wie ein Blitz und ihre Augen weiteten sich ängstlich. Aber sie schüttelte sofort den Kopf - das konnte auch nicht sein. Julia schwieg, obwohl sie ihre Vermutung am liebsten sofort herausposaunt hätte. Es vergingen einige Sekunden, die Verena in ihrer Meinung bestärkten.

Verena packte Julia sanft an ihren nackten Schultern und schaute ihr tief in die Augen: „Ich glaube, dass du in den letzten Wochen einfach zu viel Stress hattest. Du solltest endlich mal ausspannen. Vergiss den verrückten Russen. Lass dich nicht -“

Julia schüttelte erneut den Kopf, diesmal heftiger. Sie wollte ihrer Freundin sagen, was sie dachte. Sie musste ihr einfach glauben.

„Annabelle!“, stieß Julia hervor.

„Wie bitte?“, fragte Verena verwirrt.

„Es war bestimmt Annabelle!“, meinte Julia und nickte bestimmt. Verena guckte weiterhin skeptisch. Es machte keinen Sinn. Sie versuchte es also noch einmal mit reiner Logik: „Raucht Annabelle? Hat sie Zugang zu Alexejs Villa? Traust du ihr das wirklich zu?“

Julia nickte wieder. Ja, ja und nochmals ja, dachte sie. Sie erzählte Verena von der Geburtstagsparty bei Alexej: „Ich habe gesehen, dass Annabelle geraucht hat!“

„Meintest du nicht, dass du selber besoffen warst? Vielleicht hast du dir das nur eingebildet?“, mutmaßte Verena, die sich noch nicht geschlagen geben wollte. Aber irgendwie war sie nun auch nicht mehr ganz sicher. Es war immerhin möglich, dachte sie.

Aber Verena wollte Julia nicht verrückt machen und beschloss daher, erst einmal nicht weiter darauf einzugehen.

Julia schluchzte immer mal wieder laut auf und wirkte kraftlos. Sie hatte eine Gänsehaut bekommen, da sie bereits seit einer knappen Viertelstunde halbnackt in der Umkleidekabine saß. Verena ermunterte ihre Freundin dazu, sich anzuziehen, als die Verkäuferin wieder auftauchte und vor dem Vorhang ihr lächerliches Räuspern hören ließ.

Verena war immer noch geladen und außerdem sauer, dass ihre Theorie eventuell nutzlos war. Bevor sie jedoch wieder losschnauzen konnte, meldete sich die junge Frau kleinlaut zu Wort: „Entschuldigung, aber es ließ sich kaum vermeiden, mitzuhören. Ich habe Ihre Wunde gesehen und ich war mal in einer ähnlichen Situation. Wenn Sie mich fragen, sollten Sie einen großen Bogen um den Mann machen. Hier, trinken Sie das!“

Sie reichte Julia ein Glas, das nur zwei Fingerbreit mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war. „Das ist unser bester Gin. Schmeckt scheußlich, aber viele unserer Kunden stehen darauf“, erklärte die Verkäuferin und sah befriedigt, dass Julia den Schnaps bereits mit einem gierigen Schluck trank.

Innerhalb weniger Sekunden kehrte die Farbe in Julias Gesicht zurück und sie lächelte matt. „Dankeschön“, sagte sie an die Verkäuferin gewandt, die nun wieder in den vorderen Bereich des Ladens zurückkehrte.

Sie sprach weiter und wirkte einigermaßen erleichtert: „Vielleicht habt ihr ja recht. Gestern war ich mir sicher, dass es Alexej war. Heute war ich mir sicher, dass es Annabelle war. Jetzt bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher.“

Verena nickte bedächtig. Sie war nun ihrerseits nicht mehr von ihrer eigenen Theorie überzeugt. Es hätte ebenso gut Annabelle sein können, dachte sie. Aber alle Indizien sprachen dafür, dass es Alexej war.

Schließlich antwortete sie kryptisch: „Ja, vielleicht.“

Julia bemerkte das nicht und entschloss sich dazu, das Beste aus dem Besuch in dem Laden zu machen. Jetzt, da die Verkäuferin sich doch noch als freundlich herausgestellt hatte, war ihr nach einen Frustkauf.

Sie hielt sich das Kleid vorsichtig an den Körper, um es nicht mit Eiter aus ihrer Brandwunde zu besudeln. Julia lächelte tapfer, als sie sich im Spiegel betrachtete und fragte: „Wie findest du das? Würdest du das anziehen? Ich meine, wenn du wieder dein normales Gewicht hast?“

Verena antwortete nicht sofort, denn sie dachte immer noch über das Dilemma nach. Sie beschloss, der Sache später auf den Grund zu gehen und ließ sich auf Julias Verdrängungstaktik ein.

„Also, abgesehen von dem Loch in deinem Bauch steht es dir wunderbar! Aber meinst du, dass ich das tragen kann?“

Julia verdrehte die Augen: „Natürlich kannst du das tragen. Ich will wissen, ob du es haben möchtest!“

Verena guckte verdattert und Julia lachte. Sie sah leicht irre aus, so wie sie da halbnackt in der Umkleide stand, mit einem Designerkleid in der Hand, einer klaffenden Wunde am Bauch, knallroten Augen, leicht zerzausten Haaren und einem intensiven Grinsen im Gesicht.

Julia zog ungeduldig die Augenbrauen hoch. „Und?“, fragte sie. Bevor Verena antworten konnte, mischte sich erneut die Verkäuferin ein, die sich bereits wieder angeschlichen hatte.

„Und? Möchten Sie noch einen Gin? Für den Kreislauf, meine ich. Oder kann ich sonst noch etwas für Sie tun? “, fragte sie freundlich und ignorierte sowohl die immer noch blinkende Nikolausmütze auf Verenas Kopf als auch Julias gesamte Erscheinung, die so überhaupt nicht in den Laden passte.

„Ja, allerdings“, grinste Julia und reichte der Verkäuferin das Kleid durch den Vorhang hindurch an. „Einpacken, bitte. Wir nehmen es“, erklärte sie mit fester Stimme.

Die junge Frau ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken und überlegte, ob der Spontankauf mit dem Alkohol zu tun hatte und ob sie in Zukunft häufiger versuchen sollte, die Kunden mit einem Gläschen Gin weichzuklopfen.

Als sie gegangen war, zog sich Julia wieder an und ignorierte ihre Wunde einfach. Verena beäugte sie skeptisch. Sie wusste, dass ihre beste Freundin wieder einmal so tat, als wäre alles in bester Ordnung.

In Wirklichkeit hatte das Gespräch nichts gebracht, überlegte sie. Es war immer noch nicht klar, ob Alexej sie gebrandmarkt hatte oder nicht.

Verena ahnte, dass die ganze Geschichte noch ein unangenehmes Nachspiel haben würde. Sie hoffte jedoch, dass sie sich irrte.