Kapitel 23 – Wunderbare Verwandlungen
„Julia! Wach auf“, ertönte eine Stimme aus weiter Ferne. Dann spürte sie etwas auf ihren Lippen. Dieser Duft, dachte sie. Sie kannte diesen Geruch. Sie liebte diesen Geruch. Sie öffnete ihre müden Augen und sah durch die Schlitze, wie sich ein nur allzu bekannter, perfekt geformter Mund ihren Lippen erneut näherte.
Julia jedoch hustete und spuckte erst einmal einen halben Liter Wasser aus. Ihr Hals schmerzte und sie fühlte sich insgesamt benommen.
„Was-was ist passiert?“, fragte sie. Alexej erkannte erst in dem Moment, als sie sprach, dass sie wieder bei vollem Bewusstsein war und stellte seine Erste-Hilfe-Maßnahmen vorerst wieder ein. Er hob sie in eine bequemere Sitzposition und lehnte sie gegen eine der Kellerwände.
Julia blinzelte und konnte Alexej nur verschwommen wahrnehmen. Als sie sah, dass seine Schulter heftig blutete und seine Anzugjacke vom Blut dunkelrot gefärbt war, wurde ihr schlagartig bewusst, was passiert war.
Sie versuchte sich aufzurichten, denn sie fürchtete, dass Annabelle sich womöglich irgendwo in den Gewölben versteckte, um ihnen aufzulauern und sie endgültig um die Ecke zu bringen.
Alexej strich Julia sanft die Haare aus dem Gesicht und nahm ihren Kopf in seine Hände, die wundersamerweise warm waren. Er schüttelte verständnisvoll den Kopf. Julia interpretierte das so, dass die Gefahr vorüber war. Sie vertraute ihm und lehnte sich wieder gegen die Wand. Er hatte sie gerettet. Julia war ihm unendlich dankbar.
„Wo ist Annabelle?“, fragte Julia, die ganz sichergehen wollte, dass ihr nicht noch eine böse Überraschung blühte.
Ihr war kalt, sie zitterte am ganzen Leib. Sie war klitschnass und auch der Bereich um den Pool herum war offenbar geflutet worden.
„Hinten im Spielzimmer“, meinte Alexej und lachte kurz. Dann hielt er sich mit einem leidenden Gesichtsausdruck die Schulter. Julia war jedenfalls nicht zum Lachen zumute.
Alexej erklärte weiter: „Naja, ich wusste nicht, was ich mit ihr anstellen sollte, nachdem ich sie irgendwie doch noch überwältigt hatte. Also habe ich sie hinten festgekettet. Halt! Du musst dich erst einmal ausruhen!“
Julia hatte erneut versucht, aufzustehen, denn die Müdigkeit wich blankem Zorn und unbändiger Rachgier, als sie hörte, dass Annabelle hilflos im Nebenraum gefesselt war. Sie wollte Annabelle dieselben Schmerzen zufügen, die sie erlitten hatte. Alexej hielt sie jedoch zurück.
„Es tut mir leid, dass ich dich in diese Situation gebracht habe. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich-ich-“, begann Alexej, aber er kam nicht weiter. Julia sah, dass seine Augen glänzten. Sie konnte es kaum glauben, aber es schien, als würde er mit aller Kraft versuchen, seine Tränen zurückzuhalten.
„Oh, Alexej“, sagte Julia und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Sie presste ihre eiskalten Lippen auf seine und achtete nicht auf ihre pochende Platzwunde am Mund. Sie zog Alexej so nah wie möglich zu sich heran und legte all die unterdrückten Gefühle, alle unausgesprochenen, liebevollen Worte in diesen Kuss, um ihm zu zeigen, dass sie ihm dankbar war. Dankbar dafür, dass er sie gerettet hatte. Dankbar auch dafür, dass er ihr ihre Grenzen gezeigt hatte.
Wenige Augenblicke später (Julia kam es wie eine Stunde vor) schauten sie sich in die Augen und sie sah den ursprünglichen Glanz darin, der nicht von Tränen herrührte. Sie hatte sich vermutlich nur eingebildet, dass dieser Mann geweint hatte. Es war der gleiche Glanz, der Julia damals überhaupt erst auf ihn aufmerksam gemacht hatte.
Der durchdringende Blick jagte ihr einen leichten Schauer über den Rücken und ihr Herz schlug wie wild. Sie überlegte, dass dieser mysteriöse Millionär all das Leid, die Schmerzen und das Chaos wert gewesen war.
Vor ihr kniete ihr tapferer Ritter, der sie, die Prinzessin, die keine sein wollte, gerettet hatte.
Julia fühlte sich immer noch matt, aber Alexej hielt es für besser, wenn sie aus dem kalten Keller ins Warme käme. Er half ihr auf und im ersten Moment drohte Julia gleich wieder zusammenzubrechen. Ihre Knie hatten sich nach dem Schock in Wackelpudding verwandelt und sie stützte sich an Alexejs unverletzte Schulter, als sie in Richtung der Kellertreppe gingen.
Aus dem Nebenraum hörte Julia, wie Annabelle in der gleichen Holzkonstruktion rebellierte, die ihr nur wenige Wochen zuvor die bis dahin unbekannten und wunderbaren Gefühle beschert hatte.
Als Julia und Alexej ein paar Stufen bewältigt hatten, fiel Julia etwas ein. Sie riss sich von ihrem Retter los und stolperte zurück zum Pool. Die Wasseroberfläche hatte sich wieder beruhigt.
Julia schaute sich auf dem Boden um und fand schließlich, wonach sie gesucht hatte.
Alexej war ihr hinterhergekommen und sah nur noch, wie Julia etwas in ihrer Hosentasche verschwinden ließ.
„Suchst du etwas?“, fragte er stirnrunzelnd und Julia sah zum ersten Mal, wie blass Alexej eigentlich war. Er hatte mehr Blut verloren, als gut für ihn war.
„Nein, ich, äh, ich wollte mich nochmal umschauen“, log Julia und zeigte ihr bestes Ich-habe-nichts-zu-verbergen-Lächeln. Mit einem letzten Blick über die Schulter begleitete Julia Alexej nach oben. Sie ließen Annabelle vorerst im Keller zurück.
Oben angekommen besorgte Alexej ein paar Decken und rief die Polizei und einen Krankenwagen, während Julia nach Ersatzklamotten Ausschau hielt. In einem der Kleiderschränke in der oberen Etage fand sie etwas Passendes. Sie warteten – beide mit einem doppelten Whiskey bewaffnet – auf die Behörden und den Arzt.
Die Kugel hatte Alexejs Schulter glatt durchschlagen, wie der Notarzt nüchtern feststellte. Julia war überrascht, wie cool der Mann blieb, obwohl er gerade eine scheußliche Schusswunde versorgte. Ihr war jedenfalls nicht bekannt, dass es in Köln häufiger zu Schießereien kam, aber sie dachte nicht weiter darüber nach.
„Wie geht es dir?“, fragte Julia, als der Arzt begann, sie durchzuchecken.
„Ich bin froh, dass wir es geschafft haben“, sagte Alexej und betastete vorsichtig den Verband an seiner Schulter, so als ob er dem unterkühlten Arzt nicht wirklich trauen würde.
Die Polizei war bereits vorher eingetroffen und im Eilschritt im Keller verschwunden, aus dem die Beamten nun wiederkamen. Der Kommissar, der den Fall leitete, kam ins Wohnzimmer, in dem Julia und Alexej mit ihrem zweiten Whiskey saßen, um die Zeugenaussagen aufzunehmen. Er machte jedoch auf dem Absatz wieder kehrt, als Julia leicht angetrunken meinte, dass sie wohl kaum vernehmungsfähig wäre.
„Neureiche Schnösel, verdammte“, murmelte der Mann genervt und zog wieder ab. Alexej lachte und Julia war trotz allem so glücklich wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Sie lebte und nach diesem Abenteuer wusste sie das auch endlich zu schätzen.