Kapitel 12 – Happy Birthday

Julia hatte das Wochenende kaum erwarten können. Am Vortag hatte sie sich in letzter Minute doch noch ein neues Kleid besorgt. Zuvor hatte sie ein ausführliches Telefongespräch mit ihrer besten Freundin geführt. Verena meinte, dass Julia sich richtig rausputzen sollte. „So eine Gelegenheit kommt vielleicht nicht wieder“, hatte sie energisch gesagt.

Julia wusste, dass sie damit goldrichtig lag. Das Kleiderproblem war gelöst. Sie hatte sogar ein kleines Geschenk besorgt, aber sie war sich nicht sicher, ob es angemessen war. „Hör auf dein Herz“, flüsterte ein schemenhaft erkennbarer Balu in ihrem Kopf und ihr Herz antwortete mit einem positiven Gefühl, als sie das Geschenk einpackte.

Sie wollte es definitiv wagen. Wenn es schiefging, wäre ja nicht alles verloren, beschwichtigte sie sich selbst.

Anschließend begutachtete sie ihr nagelneues Outfit nochmal im Spiegel und nickte ihrem Ebenbild mit grimmiger Entschlossenheit zu.

Ich werde das Kind schon schaukeln, dachte sie und verließ das Haus. Alexejs Fahrer stand bereits neben dem pechschwarzen Jaguar und öffnete Julia die hintere Tür des Luxusautos. Sie hatte eher mit einem Taxi gerechnet und nicht mit so einem Gefährt.

Immer wieder vergaß sie, dass sie mit einem der reichsten Männer im gesamten Kölner Raum ins Bett ging. In seinen Kreisen schickte man nun mal kein ordinäres Taxi, sondern eine Limousine.

Julia setzte sich und befühlte neugierig das exquisite Leder des Innenraums. Der Fahrer startete den Wagen und Julia hatte das Gefühl, als würde das Auto gleiten anstatt zu fahren. Der Motor war im Innern des Autos kaum zu hören. Julia erinnerte sich an ihre eigene Rostlaube, ihr erstes Auto, dass sie sich damals gekauft hatte, als sie noch auf dem Land wohnte. An dieses exklusive Gefährt, in dem sie nun aufgeregt saß, hätte sie sich durchaus gewöhnen können.

Nach ungefähr fünf Minuten Fahrt fiel Julia auf, dass sie gar nicht wusste, wo Alexej überhaupt wohnte. Bisher hatte sie ihn im Hotel getroffen, an neutralen, sicheren Orten. Jetzt machte sie sich auf eine Reise in die Höhle des Löwen.

Der Fahrer schien ihre Gedanken zu erraten, denn er informierte sie nun über die ungefähre Fahrtdauer. „Wir sind in knapp 15 Minuten da. Wenn Sie etwas lesen möchten“, sagte er und knipste mit einem Knopf im Cockpit das hintere Licht an, „dann finden sie in dem Fach hinter meinem Sitz einige Magazine.“

Julia war baff. Diese Leute dachten auch wirklich an alles. Aber sie hatte trotzdem keine Lust zu lesen. Sie war aufgeregt und versuchte, sich die Geburtstagsparty vorzustellen. „Nein danke“, sagte sie und der Fahrer schaltete das grelle Licht wieder aus.

Julia schaute aus dem Fenster. Wenige Minuten später sah sie das Ortsschild von Köln-Rath vorbeirauschen. „Wenigstens weiß ich jetzt, wo ich überhaupt bin“, dachte sie fröstelnd. Ihr war nicht kalt, aber aufgrund der Aufregung ließ sie ihr Kreislauf ein wenig im Stich.

Die Fahrt ging viel zu schnell vorüber. Der Wagen rollte sanft über die Schwelle eines gusseisernen Tores, das sich scheinbar automatisch geöffnet hatte. Die Reifen knirschten über die Auffahrt aus kleinen, weißen Kieselsteinen, die Julia im Scheinwerferlicht glitzern sehen konnte.

Der Wagen hielt und noch bevor Julia überhaupt den Gurt abgenommen hatte, öffnete ihr der junge Fahrer bereits die Tür. Sie stieg aus und stand direkt vor einer eindrucksvollen Fassade eines fachmännisch restaurierten Herrenhauses aus dem 16. Jahrhundert.

Julia schnellte herum, aber sie hatte sich bloß erschreckt, weil der Fahrer den Wagen bereits wieder in Richtung Straße steuerte und dabei eine ordentliche Menge der kleinen Kieselsteine aufwirbelte. Sie stand plötzlich allein da. Na ja, nicht völlig allein. Ihr leisteten knapp ein dutzend andere Luxusautos Gesellschaft, die im Hof geparkt worden waren.

Die meisten Fenster des riesigen Hauses waren hell erleuchtet und auch der Vorplatz, auf dem sie gerade stand, war mit stilvollen Lampen ausgestattet, die ein warmes, gelbes Licht spendeten. Julia konnte links und rechts neben der Tür zwei große Steinbüsten erkennen, die offenbar Engel darstellen sollten. Ihnen fehlte der Kopf. Julia erinnerte sich, dass es früher so üblich war, dass bei diesen Kunstwerken bloß der Körper gemeißelt und der Kopf weggelassen wurde. Womöglich aus Kostengründen, überlegte sie.

Julia ging langsam auf die große Tür zu, als diese auch schon aufgerissen wurde. Ihr kam ein kicherndes Paar entgegen, das Julia gar nicht wahrnahm und sich trotz der Kälte eindeutig in Richtung der Büsche weiter links auf dem großen Grundstück verzog.

Julia trat ein und lehnte die Tür an, damit die zwei Turteltauben sicher wieder nach drinnen finden würden.

Sie hörte Musik von irgendwoher, aber sie konnte die Richtung nicht genau einordnen. Der Flur des Hauses war riesig. Es war ein altes Gebäude, man konnte es an den in die Jahre gekommenen Fliesen sehen. Dennoch war alles blitzblank und gut in Schuss, wie Julia feststellte.

Vor ihr führte eine breite Treppe in den oberen Stock, auf der linken Seite sah sie einen länglichen Flur, der an der Treppe vorbeiführte. Dort gab es mehrere Türen, die meisten waren geschlossen. Auf der rechten Seite war nur eine Tür geöffnet und Julia folgte ihrem Instinkt, indem sie auf eben diesen Durchgang zuging. Die Musik wurde lauter.

Das, was sie als nächstes sah, hätte sie beinahe umgehauen. Sie stand in einem weiteren engen Flur, der eine kleine Kurve machte und direkt in eine Art Ballsaal führte. Es war ein riesiger Raum. Julia kannte das bis dahin nur von Bildern und wusste gar nicht, wohin sie zuerst gucken sollte.

Sie trat ein und fand eine circa 100-köpfige Menschenmenge vor. Die Leute waren allesamt tadellos gekleidet und überdurchschnittlich gutaussehend. Julia erkannte auf den ersten Blick, dass es ungefähr 75 Prozent weibliche Gäste gab. So etwas hatte sie sich ja bereits denken können und sie fand es nicht weiter tragisch.

Sie hoffte allerdings, dass Alexej nicht gerade mit einem der vielen Topmodels im Schlafzimmer herumtollte.

(Julia wusste nicht, ob es sich wirklich um Topmodels handelte, aber sie fand, dass die meisten der relativ jungen Frauen so aussahen, als kämen sie entweder gerade vom Laufsteg oder von einem Fotoshooting.)

Der Saal war mindestens 30 Meter lang und ungefähr halb so breit. Auch hier war der Boden gefliest. Julia machte ein aufwändiges Schachbrettmuster aus und blickte danach zur Decke. Der Saal wurde nicht ausschließlich von den altertümlich aussehenden Kronleuchtern erhellt. Es gab viele dekorative Lichter, die ausgewählten Teilen des Raums ein buntes Disco-Flair verpassten.

Am Ende des Saales war eine kleine Bühne aufgebaut worden, auf der eine Live-Band modernen Jazz spielte. Vor allem der enthusiastische Saxophonist fiel ihr sofort ins Auge.

Julia mochte Jazz, hoffte allerdings, dass sie niemand in ein Gespräch über Musik verwickeln würde, denn davon hatte sie absolut keine Ahnung und würde sich bloß blamieren.

An der rechten Längsseite des Saales gab es ein üppiges Buffet. Julia erkannte nun auch, dass sie beim Überfliegen der Menschenmasse mindestens zehn eifrige Kellner mitgezählt hatte, die Tabletts mit Gläsern durch die Menge balancierten.

Julia stand immer noch in der Nähe des Eingangs und beobachtete das muntere Treiben. Niemand beachtete sie, denn alle waren entweder mit Tanzen, Trinken oder Tratschen beschäftigt.

Plötzlich erblickte Julia ein bekanntes Gesicht, das noch dazu freundlich lächelte. Es war Katarina. Sie kam gerade auf Julia zu, brachte ihr einen bunten Cocktail mit und begrüßte sie herzlich.

Julia realisierte, dass die Party schon einige Zeit im Gange sein musste, denn Katarina wirkte bereits leicht angetrunken, als sie Julia ansprach und auf den Cocktail zeigte: „Ich hoffe, du magst das Zeug. Ich habe dich so verloren in der Ecke stehen sehen, da dachte ich, dass dich ein kleiner Drink bestimmt auflockert.“

Julia war dankbar, dass Katarina sie nicht allein unter all den Unbekannten ließ. Sie hatte geahnt, dass sie in einer solchen Gesellschaft nicht unbedingt der Star des Abends sein würde. Aber sah sie wirklich so verloren aus? Machte sie tatsächlich schon nach einer knappen Minute den Eindruck, als sei sie eine graue Maus, die noch nie auf einer richtigen Party war?

Sie nippte an ihrem Cocktail und erinnerte sich an ihren Vorsatz für den Abend. Sie wollte sich höchstens zwei, allerhöchstens drei Drinks genehmigen, hatte sie sich vor der Abfahrt gesagt. Julia bemühte sich, ein Gespräch in Gang zu bringen, um warm zu werden und um ihr Graue-Maus-Image aufzubessern. Katarina schien es nicht eilig zu haben, denn sie beobachtete nun ebenfalls die Menschenmenge.

„Dein Kleid ist sehr schön. Das war bestimmt sauteuer, oder? In den Läden, die ich kenne, findet man so etwas nicht“, begann Julia mit einem wissenden Blick auf Katarinas schlichtes Kostüm, dass komplett in schwarz gehalten war und lediglich an einer Stelle über der Brust einen Einblick in Form einer Raute gewährte. So konnte man ihren Busen nur erahnen. Es war ein elegantes Stück und Julia fühlte sich in ihrem türkisfarbenen Cocktailkleid ein wenig underdressed.

Die meisten Gäste trugen schwarz, grau oder blau. Sogar die Frauen hielten sich einigermaßen bedeckt, zumindest was die Farben anging. Tiefe Ausschnitte und pralle Rundungen gab es dennoch im Überfluss.

Julia fiel außerdem ein, dass sie ihren Mantel im Wagen gelassen hatte. Sie hoffte, dass der Fahrer sich um ihre einzige winterfeste Jacke kümmern würde.

Katarina freute sich ehrlich über das Kompliment und versuchte Julia Mut zu machen, da sie merkte, wie nervös sie war: „Hör mal, Julia. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Auch wenn die Leute hier nicht danach aussehen, es sind ganz normale Menschen wie du und ich. Danke außerdem, dass du mein Kleid zu schätzen weißt. Ich muss zugeben, dass ich nicht damit gerechnet habe, hier nochmal reinzupassen. Alexej hat es mir vor Ewigkeiten geschenkt, als wir frisch verheiratet waren. Hey, keine Sorge, ich will hier nicht mein Revier markieren. Wir sind geschieden und das ist gut so. Du kannst ihn ganz für dich allein haben. Abgesehen von Annabelle natürlich.“

Katarina nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem eigenen Cocktailglas. Sie hatte den Strohhalm offenbar weggeschmissen. Julia bewunderte sie dafür, denn das feine Getue und Gehabe, was die meisten dort an den Tag legten, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Katarinas letzter Satz allerdings machte ihr Sorgen. Annabelle hatte sie fast vergessen. Just in dem Moment sah Julia Alexejs attraktive Sekretärin in der Nähe der Bühne stehen. Sie unterhielt sich mit einer der jüngeren Frauen. Sie wirkte selbstbewusst in ihrem langen, blauen Kleid, das perfekt zu ihrer Figur passte. Stil hatte sie, das musste man ihr lassen, dachte Julia.

Sie hoffte, dass sie sich mit Annabelle an diesem Abend nicht herumschlagen musste. Vor allem nicht im wörtlichen Sinne.

Katarina machte es offenbar nichts aus, mit Julia am Rande der Party zu stehen. Sie schien einem Tagtraum nachzuhängen, denn sie nippte immer wieder nur kurz an ihrem Drink und starrte ins Leere. Womöglich musste sie sich vom Feiern erholen, dachte Julia. Sie jedenfalls musste nun aktiv werden.

Julia wollte endlich aus sich herauskommen und den Schritt ins Ungewisse wagen. Sie wollte Alexej suchen, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren und um ihm sein Geschenk zu überreichen.

Sie sagte Katarina Bescheid. Katarina nickte und zeigte Julia, wo sie Alexej zum letzten Mal gesehen hatte. Ihr Finger deutete auf eine überschaubare Tischgruppe zwischen Buffet und Bühne.

Julia atmete tief ein und stürzte sich in die Menge. Sie hielt ihre kleine, schwarze Clutch eng umklammert. Damit es keine unvorhergesehenen Peinlichkeiten gab, hatte Julia den Reißverschluss bereits geöffnet, um das Geschenk bei Bedarf elegant und ohne unnötige Zeitverschwendung herausnehmen zu können.

Alexej schien gute Laune zu haben. Er sah blendend aus. Überraschenderweise trug er eine Krawatte. Aber auch in einem so förmlichen Aufzug fand Julia ihn zum Anbeißen.

Alexej war in ein Gespräch mit einem älteren Herrn vertieft, der fast einen Kopf kleiner als er war und einen beeindruckenden Schnurrbart zur Schau stellte. Sie unterhielten sich scheinbar auf Russisch. Neben dem älteren Mann saß eine Frau, die sich eindeutig langweilte und einigermaßen grimmig ihr Sektglas schwenkte und ab und zu einen winzigen Schluck nahm, nur um sich zu beschäftigen.

Julia wusste nicht, wie sie sich bemerkbar machen sollte, denn Alexej war zu sehr mit seinem Gesprächspartner beschäftigt als dass er sie aus dem Augenwinkel hätte wahrnehmen können.

Der Mann jedoch, mit dem er die Diskussion führte, bemerkte die schüchterne Julia, die von einem Fuß auf den anderen trat und nickte lächelnd in ihre Richtung.

Alexej unterbrach das Gespräch und blickte zu ihr auf. Seine Augen strahlten und doch wirkten sie auch kühl. Sie glühten, als sie Julia erblickten, aber es war nicht der gleiche Ausdruck wie bei ihrer gemeinsamen Nacht im Hotel.

„Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du hättest dich nicht hergetraut“, sagte er und stand auf, um sie mit einer Umarmung und einem Küsschen auf die Wange zu begrüßen.

Julia wusste sofort, dass ihre Beziehung noch nicht offiziell war. Sie hätte sich ohrfeigen können. Wie konnte sie bloß davon ausgehen, dass sie nach ein, zwei Dates plötzlich heiraten würden oder wenigstens zusammen waren?

Auf Alexejs schnippische Bemerkung wusste sie keine Antwort und sie nestelte nun doch unnötig lange an ihrer winzigen Handtasche herum, um Alexej ihr Geschenk zu überreichen.

Es war eine liebevoll verpackte kleine Schachtel. Alexej nahm die Schachtel und grinste. Er sagte etwas auf Russisch zu dem Mann, der die Begegnung der beiden mit großen Interesse verfolgt hatte. Auch die zuvor noch gelangweilt dreinschauende Frau horchte auf.

Plötzlich lachten die drei und Julia wurde rot. Hatte sie irgendeinen ihr unbekannten Kodex missachtet? Sie betete, dass ihr jemand den Witz erklären würde, aber die Freude machte ihr niemand.

Als Alexej sich der Schachtel widmete, um sie zu öffnen, legte Julia verzweifelt die Hand auf seine und meinte fahrig: „Mir wäre es lieber, wenn du das erst später aufmachen würdest.“ Sie reckte ihren Hals, um Alexej etwas Privates ins Ohr sprechen zu können.

„Oh! Natürlich!“, erwiderte er und er fügte erneut etwas auf Russisch hinzu, was die beiden Zuhörer abermals zum Lachen animierte.

Julia hoffte inständig, dass sie nicht über sie oder ihr Geschenk lachten, aber sie konnte ja schlecht nachfragen, um was es eigentlich ging. Sie schwieg also und versuchte ihr Lächeln aufrecht zu erhalten.

Alexej bedankte sich mit einem Nicken und ließ die kleine Schachtel in der Innentasche seines Sakkos verschwinden. Julia konnte für einen kurzen Moment den Ring an seinem Finger aufblitzen sehen. Außerdem schien er immer noch einige Kratzer an der Hand zu haben. Er wirkte viel abweisender als sonst und Julia überlegte, ob an ihrer fixen Idee mit dem Ring womöglich wirklich etwas dran war.

Julia wollte sich jedoch nicht wieder in Tagträumereien verlieren und sich lieber um das kümmern, was sie in diesem Moment erlebte. Sie wollte die Kontrolle über die Situation gewinnen, aber es fiel ihr denkbar schwer. Bevor ihr etwas Passendes eingefallen war, was sie hätte sagen können, stellte Alexej ihr den Mann und die Frau vor, die gerade so herzhaft gelacht hatten.

„Das hier ist die entzückende Anastasia Karlow, meine Tante und das hier ist ihr Mann, Vitali Karlow. Die beiden sprechen leider kein Deutsch. Keine Angst, wir haben nicht über dich gelacht. Es ist schwer zu erklären. Es wäre besser, wenn du Russisch lernen würdest. Vieles kann man nichts wortwörtlich übersetzen“, erklärte Alexej geduldig. Julia nickte und schüttelte den beiden Karlows freundlich die Hand und spürte erst dann, dass ihre eigenen Hände ungewöhnlich stark schwitzten.

Da waren keine Hintergedanken, befand Julia erleichtert und wischte sich unauffällig erst die eine und dann die andere Handinnenfläche an ihrem Kostüm ab. Sie konnte es an den netten und ehrlichen Blicken des Ehepaares ausmachen. Sie hatte sich also doch nicht blamiert.

Noch nicht, unkte der Teil in ihr, der ihr auch ständig einflüsterte, dass sie weniger Fastfood essen sollte oder dass sie sowieso die Finger von Alexej lassen müsste, falls sie noch alle Tassen im Schrank hatte.

Ursprünglich hatte Julia die Party nutzen wollen, um Alexej ganz ungezwungen etwas näher zu kommen, aber daraus wurde erst einmal nichts. Als sie sich endlich dazu durchringen konnte, ein Gespräch zu beginnen, ertönte eine laute Männerstimme, die von einem riesigen Typen ausging, der wie ein in die Jahre gekommener Preisboxer aussah.

Julia wusste, wann sie unerwünscht war und verzog sich, nachdem ihr Alexej sogar den Rücken zugekehrt hatte. Nicht einmal das Kleid hatte er bemerkt, dachte Julia traurig. Aber was hatte sie sich auch dabei gedacht, hierher zu kommen? Sie war keine reiche Unternehmerin und sie wusste nichts von dieser absurden, bunten und lauten Welt, in der jeder jeden kannte.

Alexej hatte nun seinerseits den Riesen in ein Gespräch verwickelt und sich von einem der Kellner eine Flasche Vodka bringen lassen.

Er behandelte Julia wie Luft und sie kam sich naiv vor, als sie sich langsam den Weg zurück durch die Menschenmenge bahnte, um sich weiter mit Katarina zu unterhalten.

Die war jedoch nicht mehr dort, wo sie sie vor wenigen Minuten hatte stehen lassen. Julia schaute sich um und sah Katarinas prunkvolles Armband im Licht einer der vielen Scheinwerfer in der Nähe der Bühne aufblitzen. Sie tanzte. Katarina war wirklich ein Unikat, dachte Julia und musste unwillkürlich grinsen.

Sie entschied, dass sie sich erst einmal einen Happen beim Buffet gönnen würde, um ein wenig Zeit zu gewinnen. So völlig kampflos wollte sie das Schlachtfeld an diesem Abend nicht verlassen.

Letztlich hatte sie durchaus Verständnis dafür, dass Alexej sie nicht auf den Schultern durch die Menge trug und laut herausposaunte, dass sie im nächsten Jahr heiraten würden.

Es war einfach dumm gewesen, dass sie davon ausging, ihn nach ein, zwei Dates so sehr von sich überzeugt zu haben, wo er doch hier die freie Wahl zwischen dutzenden Schönheiten hatte, die mit Sicherheit nicht nur besser aussahen, sondern auch besser zu ihm passten.

Das Buffet war extrem gut sortiert. Es gab so ziemlich alles, was entweder lecker schmeckte oder übertrieben teuer war.

Julia sah diverse Kaviar-Sorten, um die sie einen großen Bogen machte, eine große Auswahl an handlichen Pasteten, die zu Pyramiden gestapelt waren, mindestens zwei Dutzend verschiedene Torten und Kuchen, vier große Bowlen, die in grellen Farben leuchteten und natürlich auch viele warme Speisen, die von konzentriert arbeitenden Küchengehilfen auf die edlen Teller geschaufelt wurden.

Julia wunderte sich kurz, dass es auf dieser Party kein Menü à la carte gab. Vermutlich wäre es zu viel Aufwand gewesen, dachte sie. Außerdem hätten sich viele der jungen Dinger bestimmt gelangweilt, grübelte sie weiter, als sie neidisch die teils endlosen Beine der schönen Frauen, die in einzelnen Cliquen herumstanden und kicherten, betrachtete.

Sie hatte ihren Teller mit einem Mix aus möglichst exotischen Speisen befüllt, denn sie wollte die Gelegenheit nutzen, um neue kulinarische Eindrücke zu gewinnen.

Der nächste Schritt erwies sich als noch viel schwieriger: Wo sollte sie sich überhaupt hinsetzen?

„Wieso habe ich nicht Deniz mitgenommen“, dachte Julia leicht verärgert. Sie hatte tatsächlich mit dem Gedanken gespielt und ihre Idee schließlich doch verworfen, da sie sich die Party gar nicht so groß und befremdlich vorgestellt hatte.

Deniz trieb sich vermutlich gerade in einer der unzähligen Schwulenbars in der Nähe des Kölner Rudolfplatzes herum und hatte seinen Spaß. Oder er spionierte seinem Ex nach. Julia wischte das Bild eng bekleideter junger Männer, die miteinander tanzten und knutschten, mit einem kurzen Kopfschütteln weg.

Sie erblickte einen Tisch, an dem nur ein einziger, einsamer Gast saß. Die Frau war außerdem gerade mit ihrem Handy beschäftigt. Julia fand, dass dies die ideale Gelegenheit war, um sich setzen zu können, ohne von einem Dutzend fremder Augen angestarrt zu werden.

Julia setzte sich und innerhalb weniger Sekunden eilte ein tablettbeschwerter Kellner auf, der ihr einen weiteren Drink andrehen wollte. Julia wollte ihn erst abwimmeln, entschied sich dann aber doch für ein Glas Sekt. Sie zählte still mit: es war ihr zweiter Drink, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass ein Glas Sekt harmloser als ein Cocktail sein müsste.

Julia begann die Party zu genießen. Während sie die exklusiven Speisen auf ihrem Teller mit wachsendem Appetit verputzte, setzte sie sich in den Kopf, dass sie das Beste aus dem Abend machen wollte.

Entschlossen setzte sie den internen Getränke-Zähler von zwei auf null zurück und beschloss, ihr Graue-Maus-Kostüm abzulegen. Das Schlimmste, was ihr passieren konnte, war – ja, was eigentlich? Es könnte peinlich werden, dachte sie, aber das war ihr nun auch egal.

Die Sache mit Alexej würde sich sicher noch klären. Er hatte neben ihr noch knapp 100 andere Gäste, die begrüßt, umarmt, unterhalten und amüsiert werden wollten.

Julia schob ihren geleerten Teller in Richtung Tischmitte (ein Kellner mit Argusaugen eilte bereits herbei, um für Ordnung zu sorgen) und erspähte Annabelle, die nun ebenfalls am Buffet stand und sich etwas, das wie ein Shrimps-Cocktail aussah, in die eine Hand drücken ließ, während sie in der anderen eine Zigarette hielt.

Julia nahm einen letzten, kräftigen Schluck aus ihrem Sektglas, um den köstlichen Snack runterzuspülen.

Annabelle wirkte so harmlos, so zerbrechlich, wenn man sie nicht kannte. Sie sah gut aus, hatte Sex-Appeal und war sehr extrovertiert. Warum musste sie sich also dieser Illusion hingeben und Julia die Hölle heiß machen, weil sie auf den gleichen Typen standen? Konnte sie sich nicht einfach einen anderen Mann angeln?

So wie Julia das verstanden hatte, war Annabelle längst aus dem Rennen. Offenbar verstand Annabelle das jedoch nicht und Julia bezweifelte, dass diese Verrückte auf sie hören würde.

Julia erschreckte sich, als Katarina sich schnaufend auf einen Stuhl neben ihr fallen ließ und dabei eines der leeren Gläser auf dem Tisch zu Boden warf. Es zersplitterte lautlos auf dem edlen Fliesenboden. Die Musik und die übrige Geräuschkulisse übertönten das Klirren.

„Uuuups“, sagte Katarina und hatte Schwierigkeiten Julia zu fixieren. Sie sammelte sich und fuhr fort: „Julia, du solltest wirklich auf mich hören. Lass die beiden einfach in Ruhe. Annabelle wird nicht lockerlassen, weißt du.“ Julia fühlte sich beobachtet, denn Katarina hatte offenbar mitbekommen, dass sie Annabelle schon eine Weile stirnrunzelnd musterte.

Katarina hatte irgendwie ein neues, gefülltes Glas herbeigezaubert und trank daraus, als wäre dies ihr letzter Abend auf dem Planeten Erde. Anstatt die schöne Russin in ihrem Eifer zu bremsen, entschied sich Julia dafür, die Situation auszunutzen.

Sie fragte nach dem Ring: „Hat Alexej dir eigentlich erzählt, was ich aus Versehen mit seiner Hand angestellt habe?“ Katarina wusste nicht sofort, wovon Julia sprach, und runzelte schielend und schwankend die Stirn.

„Äh, ja. Hat er. Ich war froh, dass er das blöde Ding endlich ausgezogen hat. Wenigstens – wenigstens für einen Tag“, sagte Katarina.

Julia hatte eine Goldader getroffen. Katarina sprach ebenfalls vom Ring. Jetzt würde sie endlich erfahren, was es mit dem komischen Erbstück auf sich hatte.

„Alexej hat mir erzählt, dass er den Ring geerbt hat. Von einem Pjotr, kann das sein? Ein Onkel von ihm?“, fragte Julia weiter.

„Jaja, Pjotr, der alte Spinner. Wir, also ich und Alexej, waren gerade ein Jahr verheiratet, als er gestorben ist. Die zwei haben sich immer gut verstanden. Aber Pjotr war ein komischer Typ. Hat viel gespielt. Hatte aber nie Schulden. Im Gegenteil, er hat seine Mitspieler ausgenommen. Ich habe es einmal beobachtet, als sie Baccarat gespielt haben. In einem russischen Kasino, absolut illegal natürlich“, erzählte Katarina und blühte offenbar auf, da sie nun einen interessierten Zuhörer hatte.

Julia musste es schaffen, dass Katarina die wichtigen Informationen ausplauderte und die unwichtigen ausließ. Gar keine leichte Aufgabe, überlegte sie.

Schließlich fragte Julia weiter: „Und warum hat er Alexej den Ring vererbt? Hatte er keine anderen Verwandten?“

„Doch, aber die wollten nichts von ihm wissen. Die haben sich schon vor Jahren zerstritten. Ist ewig her“, antwortete Katarina und nahm erneut einen kräftigen Schluck.

Julia dachte, dass sie Katarina auch einfach fragen konnte. Also fragte sie: „Du meintest vor ein paar Tagen, dass der Ring verzaubert ist. Hast du das ernst gemeint?“

Katarina knallte ihr Glas auf den Tisch und Sekt schwappte über. Sie schaute Julia eindringlich an und meinte: „Verzaubert, verflucht, was weiß ich. Seit er den Ring trägt, ist Alexej anders. Wir waren glücklich zusammen, weißt du. Ein Traumpaar. Das haben unsere Freunde auch gesagt. Nach Pjotr's Tod ging es bergab, immer weiter. Immer weiter runter. Immer weiter.“

Julia konnte sich nicht vorstellen, dass ein ordinärer Ring für eine kaputte Ehe verantwortlich sein sollte, aber sie wollte das der mittlerweile emotional gewordenen Katarina nicht unter die Nase reiben. Es war eine komische Geschichte, dachte sie. Und sie wollte mehr wissen.

„Wie meinst du das? Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Julia und guckte besorgt.

„Er, also mein Mann, äh, Ex-Mann, Alexej meine ich, wurde plötzlich unfreundlich. Kalt. Ich dachte damals, dass ich ihm zu langweilig geworden bin. Er hatte immer ein Faible für extravaganten Sex, weißt du, was ich meine?“, sagte Katarina. Julia nickte unverbindlich. Sie kam der Lösung scheinbar näher. Jetzt musste sie nur noch die Preisfrage stellen.

„Hast du mit ihm darüber gesprochen? Ich meine, eine Ehe wirft man doch nicht einfach weg, oder?“, wollte Julia wissen.

Katarina nahm wieder einen ordentlichen Schluck, schaute auf das bunte Treiben vor ihr und sagte, mehr zu sich selbst als zu Julia: „Ja, aber er wollte davon nichts wissen. Ich habe in meiner Verzweiflung mal versucht, ihm den Ring abzunehmen. Ich dachte, ich drehe durch. Ich meine, es gibt ja gar keine verfluchten Ringe, oder? Naja, er hat jedenfalls nicht sonderlich gut darauf reagiert. Danach haben wir uns immer weiter voneinander entfernt, er ist schließlich sogar fremdgegangen, hat mich ignoriert. Es war ihm alles egal geworden.“

Julia befürchtete, dass Katarina bald in Tränen ausbrechen würde und fragte sich, warum diese bildschöne Frau weiterhin mit dem Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte, zusammenarbeitete. Liebte sie ihn immer noch? Oder hatte sie den Schmerz überwunden? Wenn sie nicht gerade gefühlte drei Promille hatte, wirkte sie stark, überlegen und nahezu unbesiegbar. Jetzt saß da nur noch ein Häufchen Elend. Julia ließ jedoch nicht locker. Sie konnte auch nichts dafür, dass ihre Ehe gescheitert war.

„Hast du es denn mal geschafft, dass er den Ring abnimmt? Ich meine, lag es wirklich an dem Erbstück?“, fragte Julia zweifelnd, denn sie konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass ein totes Stück Metall ein Eigenleben führte.

„Ja, einmal habe ich es geschafft. Eigentlich war es Zufall. Alexej wurde im Sommer von einer Wespe in die Hand gestochen. Er ist allergisch gegen das Gift, also musste er den Ring abnehmen. Damals ist er sogar ohnmächtig geworden, der Notarzt meinte, dass er einen Sonnenstich gehabt hätte. Aber das habe ich nicht geglaubt. Es lag an dem Mistding, das Pjotr von einer seiner bescheuerten Reisen mitgebracht hat!“, fluchte Katarina nun. Sie war sichtlich erregt und Julia wusste, dass ihr die Zeit davon lief.

„Was für eine Reise? Hat er den Ring auch beim Spielen gewonnen?“, fragte Julia und schätzte Pjotr Gromow völlig richtig ein, wie Katarina anerkennend bemerkte.

„So ist es. Er hat damals davon geprahlt, dass der Ring einmal Rasputin selbst gehört haben soll. Lächerlich, oder?“, sagte Katarina.

Julia wusste nicht, von wem Katarina da sprach, aber sie hob sich die Frage danach für später auf. Ihr fiel noch etwas anderes ein und sie fragte nach, solange Katarina noch stehen konnte: „Der Ring hat eine Art Gravur, nicht wahr? Das steht etwas auf Russisch. Weißt du etwas darüber?“

„Ach, das. Ja, ich erinnere mich. Alexej ist damals fuchsteufelswild geworden, als ich mir das blöde Ding näher angeschaut habe. Die Inschrift lautet Удар первым, раньше других побить вас. Das heißt so viel wie Was ich will, dass kann ich auch. Ein typischer Machospruch. Ja, das passte zum alten Pjotr. Und weißt du, was besonders komisch war? Er hat, er...“, Katarina unterbrach sich und Julia sah, dass ihr offenbar übel geworden war.

Katarina stand abrupt auf und torkelte so schnell es ihr möglich war in Richtung des großen Flurs. Julia vermutete, dass dort die Toiletten waren.

Sie überließ Katarina ihrem Schicksal, denn sie hatte keine große Lust, ihr beim Kotzen zuzusehen oder ihr dabei sogar die Haare hochzuhalten. Abgesehen von dem dramatischen Ende fand Julia, dass ihre Ermittlungen sehr gut verlaufen waren.

Sie schwenkte den Inhalts ihres Sektglases gedankenverloren hin und her und dachte über das nach, was sie soeben erfahren hatte.

Irgendetwas stimmte also tatsächlich nicht mit diesem Ring. Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, wurde sie von einer kleinen Menschentraube umzingelt. Es waren hauptsächlich die Frauen, die Julia für Models hielt. Julia saß zitternd auf ihrem Platz, denn allen voran war Annabelle auf sie zugekommen. Sie hielt eine Zigarette zwischen den Fingern zog kräftig daran, bevor sie Julia konfrontierte.

„Na, hat dich dein Bodyguard im Stich gelassen?“, fragte sie schnippisch und bezog sich dabei scheinbar auf Katarina.

Julia tat das einzig Richtige: Sie stand auf und schlug Annabelle ohne Vorwarnung mit der Faust ins Gesicht und brach ihr die schöne Nase, so dass das Blut nur so herausspritzte.

Das zumindest stellte sich Julia vor. In Wirklichkeit nahm sie jedoch all ihren Mut zusammen und bahnte sich einen Weg durch diese Wand aus unterernährten Frauen und vorbei an der qualmenden Annabelle.

Annabelle blieb an dem Tisch stehen und tat nichts, um Julia aufzuhalten. Sie traute sich nicht in Gegenwart all dieser Leute eine Szene zu machen. Sie hatte einen Ruf zu verlieren. Daher rief sie Julia lediglich etwas nach: „Alexej interessiert sich nicht für Mauerblümchen wie dich!“

Es klang beinahe verzweifelt. Julia ignorierte die Provokation und ging schnurstracks auf den ausgelassen lachenden Alexej am anderen Ende des Saales zu, um endlich Klartext zu sprechen. Sie wollte ihm beweisen, dass Annabelle sie belästigte und dass sie sich das nicht länger bieten lassen würde.

„Alexej, kann ich kurz mit dir reden?“, fragte sie frei heraus. Alexej schaute ein wenig verdutzt, denn er hatte sich gerade noch mit einem seiner wenigen männlichen Gäste unterhalten. Sein Gesprächspartner schien jedoch eine Vorahnung zu haben, als er Julias zornige Miene sah, und räumte freiwillig das Feld.

„Was gibt’s denn, Julia? Ist die Bowle alle?“, fragte Alexej vergnügt. Er schien ihren genervten Gesichtsausdruck nicht wahrzunehmen. Als Julia ihm keine Antwort auf die bescheuerte Frage gab, hakte er nach, diesmal ernster: „Was ist denn los?“

„Was los ist? Annabelle ist los“, zischte Julia.

Sie kam nicht weiter, denn Annabelle selbst ergriff nun das Wort. Sie war Julia offenbar doch gefolgt. Sie grinste überlegen und richtete sich an Alexej: „Oje. Will sie sich wieder bei dir ausheulen? Ich wollte ihr gerade zu ihrem, naja, passenden Tattoo gratulieren, aber sie hat mich sofort beschimpft und ist zu dir gerannt.“

Alexej ging darauf nicht gleich ein, sondern wunderte sich, denn bisher hatte er an Julias Körper noch kein Tattoo entdeckt. Aber er gehörte nicht zu den Männern, die ihre Beute allzu genau musterten. Details waren nicht so wichtig wie das Gesamtbild.

Annabelle nickte abschätzig in Richtung Boden und da sah er es: Julia hatte sich vor Jahren ein kleines Tattoo am rechten Fußknöchel stechen lassen. Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass sie eben dieses unscheinbare Tattoo mal in eine solche Scheiß-Situation bringen würde.

„Wir haben überlegt, was es wohl darstellen soll. Ist das eine Kuh? Würde ja passen, oder?“, höhnte Annabelle, nachdem sie erneut genüsslich an ihrer Zigarette gezogen hatte, und ihre lächerliche Mädchengang kicherte.

Julia konnte es nicht fassen. Sie war sich sicher, dass Alexej auf diesen kindischen Scherz nicht eingehen würde, aber sie irrte sich wieder einmal.

Alexej überlegte, wie er Julia beschwichtigen könnte. Er versuchte es ebenfalls mit einem Scherz. „Naja, ich glaube eher, dass das ein Stier sein soll. Mir gefällt es“, sagte er diplomatisch. Julia wollte gerade erleichtert aufatmen, als er nachsetzte. „Das soll vermutlich für deine Sturheit stehen, oder?“, fragte er an Julia gewandt und grinste.

Normalerweise hätte sie so eine Bemerkung nicht weiter tragisch gefunden, aber hier ging es nicht um den bescheuerten Stier auf ihrem Fußknöchel, sondern darum, dass Annabelle sie einfach nicht in Ruhe ließ. Alexej hatte ihr gerade unabsichtlich weitere Munition geliefert und das brachte das Fass zum Überlaufen.

Julia drehte auf dem Absatz um und ließ Alexej und die grölende Annabelle und ihre Clique einfach stehen.

„Wie kann man nur so blöd sein“, sagte Julia vor sich hin, als sie die Flucht ergriff. Sie verließ den Saal und stand in einem schmalen Flur. Sie war mittlerweile selbst ziemlich angetrunken und musste sich erst orientieren. Sie öffnete eine der nächsten Türen und landete in einer Art Vorratsraum, in dem zwei riesige Kühlschränke brummten. In einem Regal sah sie dutzende Champagnerflaschen stehen und in einem Anflug von Verwegenheit griff sie eine davon, um ihre eigene Party zu feiern.

„Willst du die ganz alleine trinken?“

Julia blieb das Herz stehen. Sie drehte sich um und schaute Alexej wütend an. Das fiel ihr jedoch einigermaßen schwer, denn er lächelte und zeigte seine makellosen Zähne. Julia war ihm eigentlich gar nicht wirklich böse. Sie hatte zu große Erwartungen gehabt, das sah sie ein.

„Siehst du nicht, dass Annabelle sich zwischen uns drängt? Warum lässt du das zu?“, fragte Julia und versuchte, sich nicht zu sehr von Alexejs erotischer Aura bezirzen zu lassen.

„Das bildest du dir ein, Julia“, antwortete Alexej und kam näher. Julia hielt die Champagnerflasche wie zum Schutz vor sich, aber als Alexej danach griff, um sie wieder im Regal abzustellen, wehrte sie sich nicht.

Sie roch sein Aftershave und wünschte sich nichts sehnlicher, als dort in dem schummrigen Vorratsraum von ihm um den Verstand gevögelt zu werden. Sie küssten sich. Julia schmeckte eine Mischung aus Alkohol und Knoblauch. Vermutlich war sie das selbst schuld, denn sie hatte beim Buffet nicht bemerkt, dass einige der Pasteten sehr aggressiv gewürzt waren. Das war jedoch nicht der Grund dafür, dass sie sich wieder von ihm losriss.

„Was ist denn jetzt wieder los?“, fragte Alexej ungeduldig. Julia zupfte ihr Kleidchen zurecht und strich sich die leicht zerzausten Haare wieder glatt.

„Ich möchte nicht, dass – ach, vergiss es. Lass uns jetzt nicht darüber reden. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe“, sagte sie und fühlte sich für einen Moment sehr erwachsen. Immerhin widerstand sie einem fast nicht zu bändigenden Drang nach hemmungslosen Sex mit ihrem Traummann.

Julia hatte sich an das Gespräch mit Katarina erinnert und wollte der Sache mit dem Ring erst einmal auf den Grund kommen. Ganz so abwegig erschien ihr die Geschichte mittlerweile nicht mehr.

„Wie du meinst“, sagte Alexej und zog die Augenbrauen hoch. Er war offenbar beleidigt, weil er – oder besser: sein Schwanz – nicht seinen Willen bekam.

Er rang sich zu einer letzten freundlichen Geste durch, als er fragte, ob er ein Taxi rufen solle. Julia verneinte und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Irgendetwas sagte ihr, dass sie das Richtige tat, indem sie erst einmal gar nichts machte.

Sie schickte ihn zurück zur Party: „Hau ab, ich komm schon klar. Es ist dein Geburtstag, da sollst du Spaß haben. Es tut mir leid, dass ich mich habe gehen lassen.“

Alexej wusste nicht, was er antworten sollte. Ein Teil in ihm wollte Julia, ein anderer Teil wollte die Konfrontation um jeden Preis vermeiden. Schließlich grinste er nochmals über die Schulter, als er die Tür wieder anlehnte und verschwand.

Es hätte schlimmer laufen können, dachte Julia und verbuchte den Abend trotz allem als Erfolg. Sie fühlte sich gut, obwohl so viel schief gelaufen war. Dass Alexej ihr nochmal nachgegangen war, bedeutete ihr sehr viel.

Julia war sogar so gut gelaunt, dass sie das Problem mit ihrem Mantel vergaß und sich ein Taxi rief. Bevor sie das prachtvolle Haus verließ und in die Kälte hinaus ging, schnappte sie sich doch noch eine der sauteuren Champagnerflaschen und beschloss, sich das exklusive Souvenir entweder gleich in ihrer eigenen Wohnung zu gönnen oder für einen anderen besonderen Anlass aufzuheben. Als Trophäe sozusagen.